Der Jüngling am Bache

An der Quelle saß der Knabe,

Blumen wand er sich zum Kranz,

Und er sah sie fortgerissen,

Treiben in der Wellen Tanz.

»Und so fliehen meine Tage

Wie die Quelle rastlos hin!

Und so bleichet meine Jugend,

Wie die Kränze schnell verblühn!


Fraget nicht, warum ich traure

In des Lebens Blütenzeit![406]

Alles freuet sich und hoffet,

Wenn der Frühling sich erneut.

Aber diese tausend Stimmen

Der erwachenden Natur

Wecken in dem tiefen Busen

Mir den schweren Kummer nur.


Was soll mir die Freude frommen,

Die der schöne Lenz mir beut?

Eine nur ists, die ich suche,

Sie ist nah und ewig weit.

Sehnend breit ich meine Arme

Nach dem teuren Schattenbild,

Ach, ich kann es nicht erreichen,

Und das Herz bleibt ungestillt!


Komm herab, du schöne Holde,

Und verlaß dein stolzes Schloß!

Blumen, die der Lenz geboren,

Streu ich dir in deinen Schoß.

Horch, der Hain erschallt von Liedern,

Und die Quelle rieselt klar!

Raum ist in der kleinsten Hütte

Für ein glücklich liebend Paar.«


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, München 31962, S. 406-407,413-414.
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