Abendlied

[244] Nun ruht, ihr matten Kräfte,

Vom Joche der Geschäfte,

Das Menschennacken drückt.

Schau, wie der Quell der Wonne,

O Seele, wie die Sonne

Mit rothem Antlitz nach dir blickt.


Noch seh' ich ihre Strahlen

Den Abendhimmel malen;

Noch hängt ihr Silberlicht

An Blättern und Gesträuchen;

Noch spiegelt sie in Teichen

Ihr blutumströmtes Angesicht.


Es streckt sich Berg und Hügel,

Der Vogel färbt die Flügel,

Schwingt sie in Sonnengluth.

Doch jetzo geht sie unter,

Der Creaturen Wunder,

Und malt den Horizont mit Blut.[244]


Geh, Sonne, immer nieder,

Du kommst ja morgen wieder.

Doch, leb' ich morgen noch?

Gott, wie vom Wetterschlage

Bin ich von dieser Frage

Gerührt, leb' ich auch morgen noch?


Vielleicht werd' ich die Höhen

Des Himmels nimmer sehen,

Nicht mehr der Sterne Lauf.

Vielleicht schon morgen trinket

Die Sonne, eh' sie sinket,

Den Dunst von meiner Leiche auf.


Die matten Kräfte wanken

Beim schrecklichen Gedanken

Der bloßen Möglichkeit:

Noch heute kannst du sterben!

Es lau'rt auf dich Verderben,

Tod und Gericht und Ewigkeit.


O Gott! ich bin verloren,

Wenn nicht in meine Ohren

Auch jene Stimme spricht:

(Schon hör' ich sie und bebe

Nicht mehr) so wahr ich lebe!

Ich will den Tod des Sünders nicht.


Nun dann, die Thränen fließen,

Ich sinke zu den Füßen

Des Menschenvaters hin.

Ach höre du mein Flehen,

Laß mich nicht schlafen gehen,

Mein Gott, bis ich bekehret bin.


Entweicht ihr Todesschmerzen;

Schon thront in meinem Herzen

Erhabne Seelenruh'.

Ich lasse diese Stätte,

Es deckt mich nun mein Bette

Sanft, wie der Vorsicht Flügel, zu.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 244-245.
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