VI, 3.

[129] Aus dem großen Gefäße, an dem Praktinski beschäftigt und in dem sie entstanden ist, entsteigt Elektra, ein größeres Kind ohne Gewand, sonnenglühend und strahlend, und bleibt etwas erhöht stehen. Der Raum wird stark erhellt.


FAUSTINE starre Freude zeigend.

Gelungen! – Ja, das ist mein Kind, ein Diamant,

Der in den eig'nen Strahlen glüht!

Ein selbst sich nährender Urweltenbrand,

Der ewig Funken sprüht!

Laß dich umarmen, uns're Zeugung!


Will Elektra umarmen.


ELEKTRA ihr abwehrend.

Bleib' ehrbar in Entfernung! Mache deine Beugung!

Doch niemals greif' mich an! Ich bin ein blitzend Feuer,

Das keiner ungestraft berührt.

FAUSTINE heftig.

Mein Kind, mir theuer,

In Liebe nah' dich mir, daß ich dich küsse!

ELEKTRA befremdend.

Du Mutter mir!? Ich fühl' es nicht! So wisse,

Ich kenne keine Liebe, keine Kindespflicht:

Mein Streben ist nur einzig Licht!

FAUSTINE hochenttäuscht.

Verworfen von dem eigenen Geschöpfe! Hohn,

Wie ihn der Teufel selbst nicht stärker bietet! –

So wend' ich mich zu Irma, die gehütet

Hier steht. Sie zieht's zur Mutter schon,

Die Liebe ihr mit Liebe reich vergütet.


Irma zieht sich scheu und furchtsam hinter Innocentia zurück.
[129]

IRMA.

Ich fürcht' dich! Laß mich hier verweilen!

FAUSTINE.

O Gräßlichstes! Auch hier verwiesen.

Man treibt mich aus den Paradiesen.

Wie Eva muß ich meinen Frevel büßen! –

So will ich meine Brust euch theilen!


Streckt sehnsüchtig die Arme nach beiden Seiten hin aus. Keine Annäherung bekundet sich seitens der beiden Kinder.


FAUSTINE niedergedrückt.

Kein Zuruf, nicht ein Lockeblick aus diesem harten Stahl!? –

Ich leide übermenschlich unter dieser Qual!


PRAKTINSKI.

Laß das sentimentale Treiben!

Du wirst dabei nur auf dich reiben.

Reibung ist Elektrizität,

Wobei der Stoff zu Grunde geht.

ELEKTRA zu Faustine und Praktinski.

Ich sag' euch Lebewohl. Mein Wirkungsfeld

Ist nicht bei euch, ist draußen in der Welt.

FAUSTINE schmerzlichst.

So willst du scheiden, eh' ich dich umarmt,

Eh' ich an deinem Busen neu erwarmt?! –

Dem Kinde weh', das sich der Mutter nicht erbarmt!

PRAKTINSKI.

Auf dein Entstehen hatten lange wir gewartet;

Nun bist du schon bei der Geburt entartet.

Drin liegt die Rache höherer Gewalten,

Die mir's mißgönnen, meine Kräfte zu entfalten.

Du sollst verspüren Höllenzwang.

FAUSTINE in Aufwallung.

Und meiner Sehnsucht Drang!


[130] Faustine und Praktinski stürzen auf Elektra los und berühren sie. Indem werden sie heftig zu Boden geschleudert, der sich doppelt öffnet, aus dem Flammen sprühen und der beide durch die Berührung mit Elektra des Lebens Beraubte verschlingt.

Elektra steigt ungerührt in die Soffitten empor und verschwindet darin. Höchster kalter Glanz strahlt über alle Theile der Bühne.


INNOCENTIA.

Entsetzlich! – Nimmer sollst du Gott versuchen. –

Wir wollen den Gerichteten nicht fluchen.

Der Teufel ging mit unter, in dem eig'nen Netz gefangen.

Folg', du mein viel ersetzend Kind,

Zum Ausgang mir geschwind,

Damit wir fliehen dieses Ortes Bangen.


Die Bühne wird dunkler.


Quelle:
Schäfer, Wilhelm: Faustine, der weibliche Faust. Tragödie in sechs Aufzügen nebst einem Vorspiel und Prolog, Zürich 1898, S. 129-131.
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