1188. Heinrich Findelkind.

[206] Von J.G.Seidl. – Vgl. Sagenb. I., 33.


Einst fand der Mayr von Kempten

Ein Kindlein vor der Thür. –

»Hab',« spricht er, »neun im Hause,

Bleibst du als zehntes hier!


Verdarb von Bürgschaft wegen

Zwar längst an Gut und Geld,

Wills thun um Gottes Segen,

Nicht um den Dank der Welt.«


Das Kindlein wächst zum Knaben,

Heißt Heinrich Findelkind

Ißt, wenn die neun was essen,

Darbt, wenn sie hungrig sind.


Einst sprach der Mayr: »Ihr Jungen,

Halb schlag ich euch nun aus;

Ihr ältern Fünf, – ihr gehet,

Und sucht euch fern ein Haus;


Ein Haus und gute Menschen,

Es gibt wohl Beides noch;

Arbeitet, dient und betet,

Und tragt des Herren Joch.«


Der Eine geht nach Süden,

Der Andre zieht nach Nord,

Der Dritte schreitet nach Westen,

Nach Osten der Vierte fort.


Der Fünfte, der Heinrich, wandert,

So hin zwischen Berg und Strom,

Da kommt er zu zwei Mönchen,

Die pilgern gegen Rom.


»Wohin des Weges, du Knabe?« –

Er sieht sie an und spricht:

»Weiß es der Weg nicht besser,

So wissen wir's beide nicht.«


Den Adlerberg schon klettern

Die drei hinan und hinab;

Da lassen in einer Hütte

Sie ruh'n den Wanderstab.


»Wo wollt ihr hin mit dem Knaben?« –

Spricht Jacklein, das war der Wirth.

»Wollt ihr bei mir ihn lassen,

Wohlan, so sei er mein Hirt.


Zween Gulden hab' er im Jahre!« –

»›Was er thut, das ist gut!‹«

So ward der Heinrich Hirte,

Deß hat er frohen Muth.


Zehn Jahre trieb er munter

Die Heerde auf und ab,

Und dünkte sich ein König

Mit seinem Hirtenstab.


Und rief die Glock' am Sonntag

Den Wirth zur Messe wach,

Da ging er mit ihm zur Kirche,

Trug stolz das Schwert ihm nach.


Da brachte vom Adelsberge

Man oft in's Thal viel Leut',

Die droben der böse Winter

In dunkler Nacht verschneit.


Und denen die Vögel die Augen

Wohl ausgegessen zum Fraß

Und abgebissen die Kehle;

Ein Anblick war's, gar graß.


Das Herz im Leibe zuckte

Dem Heinrich vor Mitleid drob!

Er dachte: »Könnt' ich's wenden,

Das brächte mir Gottes Lob.«
[207]

Er hat mit dem Hirtenstabe

Sich fünfzehn Gulden verdient.

»Wenn Gott will, wird es genügen!«

Dacht Heinrich Findelkind.


»Wenn Gott will, wird es genügen

Für Rettung aus Sturm und Noth,

Daß nicht die Leute verderben

Bei Nacht und Winter im Tod.


Wie Einer an mir sich erbarmte,

So will ich's an Andern auch!«

Er bettelt bei vielen Menschen,

Doch Geben ist seltner Brauch.


»So soll Gott,« spricht er, »mir helfen

Mit seiner mächtigen Hand!

So soll mir Sanct Christoph helfen,

Der Schirmer zu Wasser und Land!«


Mit seinen fünfzehn Gulden

Begann er's im ersten Jahr;

Und sieben Menschenleben

Erkauft' er damit aus Gefahr.


Drauf zog er in's biedre Deutschland,

Hat er manch' Herz erweicht;

Drauf zog er in's reiche Böhmen,

Da war das Bitten leicht.


Drauf zog er in's stolze Hungarn,

Da ärntet' er reichen Zoll,

Drauf zog er in's wald'ge Polen,

Da ward sein Säckel voll.


Bald ist ein Bund gestiftet

Von Heinrich, dem Findelkind,

Ein Bund, deß Glieder Grafen

Und Fürsten und Herzoge sind.


Schon preisen ihn fünfzig Pilger

Als Lebensretter laut;

Schon steht auf dem Adlerberge

Ein Pilgerhaus erbaut.


Schneereifen an den Füßen

Allabends geht er hinaus,

Und ruft mit seinen Knechten

Viermal in den Schnee hinaus.


Und meldet sich wo ein Verirrter,

Den tragen sie rettend hinein,

Dort mag er bis an den Morgen

Gewärmet und gespeiset sein.


Bald steht auch ein schmuckes Kirchlein

Hoch auf des Berges Rand,

Dem heiligen Christoph geweihet,

Dem Retter zu Wasser und Land.


Das sagt noch dem späten Enkel

Vom Heinrich Findelkind,

Wie stark auch kleine Kräfte

Bei großem Willen sind.


Das sagt noch dem späten Enkel:

»Schau nicht auf Gut und Geld,

Wer wohlthut Gott zu Ehre,

Thut's auch zum Dank der Welt!«

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 206-208.
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