Sippola, den 28. Juli

[756] Ich wette hier mein bestes Stück Lachs aus der Woxa und einen ganzen Korb voll Mamurami, Du weißt nicht, in welchem Winkel der Erde Sippola liegt; und weder Büsching noch Schlözer noch Gaspari können Dir helfen. Höre also, Sippola ist ein gar feines Dörfchen in dem nordischen Paradiese der Lappen, Russisch-Finnland, etwas aus dem Wege nordwärts, zwischen Wilmanstrand und Friedrichsham. Die Länge und die Breite habe ich nicht gemessen, ich kann Dir also nur davon sagen, daß herrliche Beeren da wachsen, daß das Korn noch hohe Wellen schlägt, und daß man sich ein noch ziemlich idyllisches Haberrohr schneiden kann, welches mehr ist, als Du vielleicht in der Nachbarschaft der Lappen vermutest.

Von den Theatern habe ich in Petersburg nur noch das italienische gesehen, welches auch wohl das beste ist. Es war ein Sänger dabei, wie ich ihn wohl noch nie gehört habe. Indes er soll jährlich vierzehntausend Rubel erhalten; dafür läßt sich auch etwas Klarheit und Stärke und Wendung in der Stimme erwarten. Die Deutschen habe ich nicht gesehen, weil alle meine Freunde einstimmig erklärten, daß sie nicht viel Gescheites nicht sehr gescheit gäben. Miré verlor eben wegen seiner Unordnung das Direktorium, nun hofft man von dem neuen Unternehmer als einem Manne von Kenntnissen und Geschmack etwas Besseres. Die Russen sah ich nicht, weil ich bald hier,[756] bald da war und immer die Zeit versah. Es tut mir jetzt ein wenig leid, denn sie sollen treffliche Mimiker sein und einige Nationalstücke mit viel Geist und Leben aufführen.

Herr Pinnow versah mich zum Abschied freundschaftlich mit einigen guten Mitteln gegen schlechtes Wasser, und eine Gesellschaft begleitete mich in einigen Wagen bis Pergola, wo ich mit einer eigenen, sehr gemischten Empfindung das letzte Abendmahl mit meinen dortigen Freunden hielt. Ich denke immer mit dem unbekannten Etwas, das man Herz nennt, längst abgeschlossen zu haben; und aller Augenblicke spielt mir der Kobold noch einen Streich. Das kleine, herrliche Feuerwerk, das einige Offiziere zufällig ihrem General dort zum Geburtstage gaben, half mir über die trübe Stimmung der letzten Stunden hinweg. Wer weiß, ob ich je die guten Leute hier wiedersehe, die mich so brüderlich aufgenommen haben. Die Wagen rollten spät nach Petersburg zurück; ich packte die Proviantxenien der nordischen Hospitalität in meinen Reisesack und quartierte mich noch an der Hand der letzten Begleiter bei einem wildfremden Finnen ein. Meine Seele war voll Bewegung, die Stube war im Juli geheizt und voll Rauch; alle Augenblicke glaubte ich ein Dutzend Tarakanen zu hören und schlief – so gut nicht, wie gewöhnlich. Es war überdies jetzt noch die Zeit, wo es in dieser nördlichen Höhe ewig nicht Nacht werden will; und es kommt mir vor, als habe ich etwas von der Idiosynkrasie, daß ich nur die Nacht recht gut schlafen kann. Die Nächte sind aber dort in dieser Zeit so tagähnlich, daß wir in Petersburg um zwölf Uhr die Mitternacht im Garten ohne Licht einander ohne Schwierigkeit die Hamburger Zeitungen vorgelesen haben. »Trans Svionas«, sagte Tacitus, »aliud mare pigrum ac prope immotum, quo cingi[757] cludique terrarum orbem hinc fidas, quod extremus cadentis iam solis fulgor in ortus edurat, adeo clarus, ut sidera hebetet.« So sehr verdunkelt er sie, daß ich Myops gar keine Sterne gesehen habe. Die Abendröte fließt mit der Morgenröte zusammen. Die ersten Nächte kam mir das recht angenehm vor; aber mein Auge ward des immerdauernden Lichts bald müde und vermißte die schöne Abwechselung der vaterländischen Sommernächte.

Den andern Morgen wandelte ich nun gutes Mutes, links bei der alten Schanze vorbei, immer die Straße fort nach Wiburg zu. Die drei Tage von Petersburg nach Wiburg, zwanzig Meilen, wurden mir sehr schwer, denn es war unerträglich heiß. Der Schweiß troff mir vom Schädel mehr als irgend jemals, als ich mit dem Bataillon mehrere Stunden unter dem Gewehr stand und nach der Trommel mit Händen und Füßen arbeitete. Das Newawasser wollte mir in Petersburg durchaus nicht behagen, ich mochte versuchen, soviel ich wollte. Es ist rein und hell wie Kristall, aber über alle Begriffe weich, und ich bin immer an hartes Wasser gewöhnt gewesen. Die feineren Biere sind zu stark, und die übrigen fast alle mit schlechten Kräutern angemacht, vorzüglich mit wildem Rosmarin. Das Physikat sollte billig auf diesen Artikel der medizinischen Polizei mehr Aufmerksamkeit wenden. Meine Zuflucht waren also die verschiedenen Arten von Quas, oder Wein zu Wasser, wo ich Quas oder Kißlestschie nicht haben konnte. Nun hatte ich mich auf das finnländische Wasser gefreut, denn ich wußte, Finnland sei gebirgig, und glaubte deswegen von vorn schließen zu können, wo Berge wären, müßte vieles und gutes Wasser sein. Da hatte ich mich nun aber sehr geirrt. Denn obgleich ganz Finnland fast nur eine große, fortlaufende Granitschicht[758] ist, so ist doch das Wasser höchst selten. Ich habe die zwanzig Meilen von Petersburg bis Wiburg nur einen einzigen, kleinen, guten Bach, und nur einige Werste vor der Stadt selbst einige sehr schöne, reiche Quellen gefunden. Die letzten waren für mich eine wahre Nektarschwelgerei. Die übrigen Flüsse kommen alle aus Sümpfen und haben rotes, faules, ekelerregendes Wasser. Der Granit ist vielleicht zu hart, um Regenwasser einzunehmen und es geläutert in Quellen weiterzufördern. Es läuft alles sogleich in die Moorgegenden herab, wo es noch mehr verdirbt und fast ganz unbrauchbar wird. Ich habe zuweilen stundenlang geschwitzt und gearbeitet und lechzend gedurstet. Zuweilen mußte ich mich doch entschließen, ein Verbesserungsmittel bei dem blutroten Wasser anzubringen und sodann mit zugehaltener Nase zu trinken, ebenso wie ehemals auf den englischen Transportschiffen. Ich lief einmal wohl eine halbe Stunde in einer Bergschlucht lechzend herum, in der Voraussetzung, der Lokalität nach müsse hier durchaus Wasser sein, denn ein alter Wanderer kann, wie Moses und Alexander, so etwas sogleich aus der Lage sagen, ohne deswegen eben förmliche Ansprüche auf das Prophetenwesen zu machen. Endlich fand ich auch wirklich ein Quellchen unter einem hohlen Baumstamme und war froher, als ob mir der Vesuv alle seine frommen Tränen und Epernay alle seine Rebhühneraugen gegeben hätte.

In Wiburg zog ich, nachdem ich meine Polizeisachen abgemacht hatte, in dem italienischen Gasthause ein. Niemand war zu Hause als ein kleines Mädchen von ungefähr sechs Jahren, die mich erst furchtsam, dann ängstlich, dann schluchzend ansah und endlich laut zu weinen anfing. »Es ist niemand zu Hause«, sagte sie; »mein Vater ist in Petersburg,[759] meine Mutter ist ausgegangen; Sie sollen nicht hierbleiben, Sie dürfen nicht hierbleiben.« Weiß der liebe Himmel, was ich für einen verdammten Gesichtswurf haben muß; es ist mir oft so begegnet, und je freundlicher ich hier das Mädchen anzusehen glaubte, desto heftiger weinte sie. Ich legte ruhig meinen Tornister ins Billardzimmer, gab dem Träger sein Trinkgeld und wartete, was kommen würde. Da kam denn auf das Weinen der Kleinen ein großes Mädchen, eine Art von Aufwärterin, die mir auf mein Anbringen ganz freundlich sogleich ein ziemlich gutes Zimmer anwies, welches mir nach einem dreitägigen Fußzuge durch die Wüste Berseba, ohne alle Bequemlichkeit, bei schlechtem Wasser und schlechtem Brote, sehr gemütlich war. Von Pergola aus ist Krasno Selo, ein anderes als bei Petersburg auf der andern Seite, der einzige Ort, den man noch mit Ehren ein Dorf nennen kann, die andern sind meistens nur einzelne, zerstreute Hütten. In Krasno Selo, wo ich gegen Abend eintraf, war alles in Lärm und Aufruhr, nicht etwa wegen Revolution, sondern weil sich eben ein Bär in der Nähe hatte sehen lassen; und alles griff zur Flinte und Spieß und Stange, um den zottigen Gast zu bewillkommen. Zwei Soldaten sangen mich auf, mit ihnen noch einige Werste bis Nowa Derebna (Neudorf) zu gehen. Hier war denn neben einer Kabacke auch ein Traiteur; das klang gar fein, und ich fand wirklich auch ein Zimmer, das für Finnland hell und freundlich genug war. In Estland auf dem Lande wäre es ein Louvre gewesen. Nachdem ich die Soldaten mit Eierkuchen bewirtet und in die Kabacke abgefertiget hatte, legte ich mich ruhig schlafen unter einen Schafpelz, der dort auf einer Matratze lag, wie ich glaubte zu meinem Behuf. Zuschließen konnte ich nicht, denn man ist hier sehr patriarchalisch und hat kein Schloß[760] vor den Türen. Ich mochte schon einige Stunden geschlafen haben, da zupfte mich ein Kerl für einen Finnen freundlich genug an dem Arme. »Was willst Du, Freund?« fragte ich Russisch. »Ich will hier schlafen«; war die Antwort. »Aber ich schlafe schon.« »Aber es ist mein Bett«, sagte der Kerl. Was war zu tun? Wir mußten wohl freundschaftlich teilen. Ich überließ ihm die Matratze, nahm den Schafpelz und quartierte mich in einem andern Winkel fest auf dem Boden nachdem ich mir gegen die feindlichen Tarakanen gehörig die Ohren verbunden hatte. Die Tarakanen sind nämlich die nordischen Taranteln, eine Art von Insekt, vor dem man sich gewaltig fürchtet; nämlich die feine Welt, der gemeine Mann achtet es nicht sehr. Eine größere Species davon nennt man Prussaky, Preußen, und ist der festen Meinung, diese seien erst im Siebenjährigen Kriege mit der Armee von dort gekommen. Die Erzählungen davon sind abenteuerlich und unterhaltend genug. Den andern Morgen hatte ich bei der Bezahlung nur Silber, und meine alte Wirtin wollte den Rubel nur zu achtzehn Kopeken Agio annehmen; und da ich so gutwillig war, gab sie mir endlich gar nur zehn, mit der Versicherung, sie habe kein Kupfer mehr, und der Rubel gebe hier überhaupt nur fünfzehn Kopeken. Das freute mich, wenn auch die Frau log, wie ich gar nicht zweifle. Der Kaiser Paul wollte es mit Strenge und Ukasen zwingen, und das Papier ward immer schlechter. Der Kaiser Alexander läßt die Sache gehen und führt Wirtschaftlichkeit ein; und das Papier verliert nun schon nicht mehr als 25 Prozent. In Moskau und der dortigen Gegend sieht man fast lauter Silber und wenig Papier aber das Papier steht dort ebenso wie in Petersburg. Mich wundert die Ausprägung des Kupfers in Rußland, denn es ist so wohlfeil ausgemünzt, daß man[761] überall viel Mühe hat zu verhindern, daß es die Kupferschmiede nicht wieder verarbeiten. Es könnte mit weit mehr Vorteil verkauft werden, als es geprägt wird. Den Grund dieses Verfahrens kann ich nicht begreifen. Anderwärts ist man mit der Kupfermünze aufmerksamer und weiß den Gewinn besser zu berechnen. Vielleicht ist es in den russischen Münzstädten tiefer im Reiche so wohlfeil, daß man es aus Billigkeit nicht anders schlagen will.

Ich war den andern Morgen in Wiburg noch nicht aufgestanden, als mich schon Herr Tappe, Professor am neu errichteten Gymnasium, aufsuchte und in seine Behausung führte. Da ich mir vorgenommen hatte, einige Tage in Wiburg zu bleiben und meine Füße, die ich mir in der Hitze wundgelaufen hatte, etwas ruhen zu lassen, nahm ich sein Anerbieten mit Vergnügen an und pilgerte bei einem Bruder in Apollo ein. Wiburg, das ehemals meistens nur von Holz war, ist seit dem letzten Brande fast ohne Ausnahme von Stein wieder aufgebaut worden und hat eine ganz artige Lokalität. Es liegt von allen Seiten ziemlich angenehm, ist klein und nett und empfahl sich bei mir sogleich durch sein gutes Brunnenwasser. Der Eingang zur See durch die Scheeren bis in die Stadt muß nicht ohne Schwierigkeit sein; aber desto sicherer ist sodann der Hafen. Der Handel hat sehr abgenommen, seitdem die Krone das Holzfällen und Brettschneiden einschränkt. Diese Maßregel scheint aber auch ziemlich nötig zu sein, denn ich habe auf meinem ganzen Wege nur sehr wenig Baustämme gesehen. Das jetzige Holz ist alles klein und schwach. Worüber man sich aber bei der Einschränkung am meisten, und vielleicht nicht ganz ohne Grund, beklagt, ist, daß man überall noch den vollen Mühlenzins bezahlen muß, ob man gleich an den meisten[762] Orten gar keine Bretter schneiden darf. Einen eigenen Handelszweig, den ich, Überall für gute Finanzerei, aber schlechte Staatsökonomie halte, fast ebenso wie den Tabak, ist der Cichorienkoffee. Der hiesige preußische Konsul, Herr Hartmann, wenn ich nicht irre, hat den Anbau dieser Pflanze seit einiger Zeit mit aller Anstrengung betrieben und das Produkt für sich mit großem Vorteil in Umsatz gebracht. Ich weiß nicht, ob der Boden nicht weit besser Korn und Kartoffeln gäbe, zumal da der Brotmangel hier nicht selten und tragbare Erde eben nicht sehr im Überfluß ist. Was möchten wohl die Koryphäen der schönen, griechischen Galanterie aus der goldenen Zeit, Aspasia, Alcibiades und Aristipp, dazu sagen, wenn man sie mit dem schwarzbraunen Tranke bewirtete? Mich deucht schier, wenn sie es nicht für eine verdorbene Suppe vom Eurotas hielten, sie würden glauben, Charon habe eine Probe vom Kozyt heraufgeschickt.

Der reichste Gelehrte von Profession auf dem festen Europa ist jetzt wohl der Dichter und Redner Nikolai, der sich von Petersburg hierher gezogen hat, um die Jahre der Ruhe so philosophisch als möglich zu genießen. Monrepos, ein Gut ganz nahe vor dem Tore der Stadt, das er besitzt und bewohnt, ist vielleicht das lieblichste Plätzchen, das man im ganzen Norden einige Grade auf und ab finden kann. Die Natur scheint es zum Feenaufenthalt irgendeines freundlichen Agathodämons gemacht zu haben; und es hat seit einigen Jahren unter dem jetzigen Besitzer an Verschönerungen aller Art unendlich gewonnen. Der Eigentümer lebt darauf mit nordischer Liberalität und genießt die Achtung der ganzen Gegend; und es ist kein kleines Vergnügen, einen Mann, wie er ist, über die literarischen und politischen Erscheinungen des Nordens sprechen zu hören.[763]

Von hier aus machte ich eine kleine Ausflucht, den Wasserfall bei Imatra zu sehen wo sich die Woxa über eine halbe Werste lang, hier und da furchtbar steil, durch ein enges Granitbett herabreißt. Die Erscheinung ist einzig in ihrer Art und machte ein betäubendes Geräusch, mehr, als ich bei Schafhausen und Terni gefunden habe, obgleich das Wasser jetzt noch sehr niedrig stand. Die Woxa hat hier an Masse ungefähr soviel als die Elbe bei Außig, ob sie gleich etwas breiter ist. Die Saima, aus welcher sie und mehrere Abteilungen des Kymen kommen, ist ein Mittelding von See und Fluß, mit vielen Gruppen malerischer Inseln besät, die besonders bei Wilmanstrand eine Aussicht machen, die einer Schweizergegend gar nichts nachgibt. Ihr Ursprung soll noch nicht gehörig bekannt sein; ganz oben wohnen Lappen, und sie soll aus den ganz nördlichen Gegenden von Norwegen herunterkommen. Ihr Wasser ist außerordentlich klar und rein, aber ganz weich wie das Newawasser, kein Wunder, da es durch den Ladoga die Newa mit bilden hilft. Unten am Einfluß in den Ladoga sind noch einige Wasserfälle, aber nicht von Bedeutung, wie hier bei Imatra. Ich blieb mit meinem Gefährten, Herrn Purgold bei dem Gymnasium in Wiburg, einem wackern, talentvollen jungen Manne, nicht weit vom Falle am Ufer des Flusses die Nacht und ging den andern Tag über Wilmanstrand zurück.

Alle Städte hier im russischen Finnland sind Festungen, und das Land gewinnt dadurch überall ein ziemlich kriegerisches Ansehen, wohl mehr, als gut ist. Die Finnen sind verhältnismäßig zu ihren Stammbrüdern, den Esten jenseits des Meerbusens, eine offene, feine, wackere Nation, deren Charakter aber freilich nicht ausgezeichnete Energie ist. Das Land hat durchaus seit der russischen Besitznehmung eher verloren[764] als gewonnen, ein Phänomen, das sich leicht erklären läßt. Dessen ungeachtet herrscht in Vergleichung mit den Esten und Letten hier noch ein Grad von Kultur und persönlichem Wohlstand, den man auf dem Lande an der Düna und der Embach vergebens sucht. Der Landmann wird wahrscheinlich dort durch alle wohltätig scheinende und wirklich so gemeinte Verordnungen der Regierung wenig gewinnen, so wie er hier in Gefahr ist, täglich immer mehr zu verlieren. Von der Eigenmacht und der Bedrückung der kaiserlichen Beamten und der größeren Machthaber erzählt man auch hier überall empörende Beispiele, mit allen nötigen Belegen und Beweisen. Katharina die Zweite hatte die finnischen Bauern stets in Verdacht, daß sie heimlich Schwedisch gesinnt wären. Das ist nun wohl kein Wunder, da sie der willkürlichen Bedrückung so sehr preisgegeben werden. In Schweden herrscht Humanität, und es geht gut; hier will man mit der Peitsche treiben, und es geht schlecht. So wurde einem Bauer vor einiger Zeit ohne Schonung durchaus kein Aufschub der Frohnarbeit gegeben, ob er gleich – nur seinen Vater begraben wollte. Ärger kann man wohl kaum die Menschlichkeit mit Füßen treten. So wenig vermag selbst ein Fürst, der ein Genius des Wohlwollens ist.

Hier in Sippola stehe ich auf einer Felsenspitze und überschaue unter mir im Tale vier kleine Seen, deren Ufer mit kleinen Dörfern und Wiesen und wogenden Fruchtfeldern umzogen sind.

Finnland ist eine ungeheuere Granitschicht, zwischen welcher sich hier und da schöne, fruchtbare, bebaute Niederungen hinziehen. Das soll so fortgehen bis an den Bottnischen Meerbusen, nur sind die Schweden aus politischen und psychologischen Gründen ordentlicher und fleißiger. Das Land hier herum ist[765] das Land der Beeren, deren es eine Menge bekannte und unbekanntere hat. Unter die letzten gehören die oben erwähnten Mamurami, eine Art kleiner, rötlicher Beeren, die wegen ihrer aromatischen Natur berühmt sind, für die nordischen Ananas gelten und von den Schmeckern der Residenz häufig in Anspruch genommen werden. Sie wachsen nur erst wieder in Sibirien, und die Russen nennen sie vorzugsweise Knäschniky, Fürstenbeeren. Du begreifst also wohl, daß sie etwas mehr als gewöhnliche Brombeeren sind, zu denen sie übrigens gehören. Mein Wirt, der Hofrat Dähn, Schulinspektor des Friedrichshamer Kreises, ein freundlicher, sehr unterrichteter Mann, tut alles Mögliche, seinen Gast zufriedenzustellen; und ob ich es bin, dach mag Dir meine Genüglichkeit sagen.

Morgen pilgere ich über Friedrichsham nach dem neuen Kymengorod und so weiter über Aberfors nach Abo und Upsala, um doch wenigstens den Saal zu sehen, wo Linne lehrte.

Unserm Werner in Freiberg bringe ich ein Stück roten Quarz aus Finnland mit, der hier für eine Seltenheit gilt, ob er es wirklich ist, mögen Kenner bestimmen. Der Generalgouverneur Mayendorf, dessen Gemahlin man in unserm Vaterlande während ihres dortigen Besuchs nach Verdienst zu schätzen nicht unterlassen hat, schickt es durch mich als ein Zeichen der Achtung und Erkenntlichkeit und ist gesonnen, der hiesigen Seltenheiten noch mehr zu senden.

Jetzt studiere ich zu meiner Durchreise Schwedisch, wie ein Schwede. Zu Ende des Oktobers längstens bin ich wieder im guten Vaterlande, das bei allem, was man wohl anders wünscht, doch noch ein sehr freundliches Stückchen Erde ist. Gruß und Kuß und Freundschaft.[766]

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Köln 1962, S. 756-767.
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