Dritte Szene

[169] Straße. Lanz tritt auf und führt einen Hund am Strick.


LANZ. Nein, in einer ganzen Stunde werde ich nicht mit Weinen fertig; alle Lanze haben nun einmal den Fehler. Ich habe mein Erbteil empfangen, wie der verlorne Sohn, und gehe mit Herrn Proteus an den kaiserlichen Hof. Ich denke, Krabb, mein Hund, ist der allerhartherzigste Hund auf der ganzen Welt; meine Mutter weinte, mein Vater jammerte, meine Schwester schrie, unsre Magd heulte, unsre Katze rang die Hände, und unser ganzes Haus war im erbärmlichsten Zustand, da vergoß dieser tyrannische Köter nicht eine Träne; er ist ein Stein, ein wahrer Kieselstein, und hat nicht mehr Nächstenliebe als ein Hund; ein Jude würde geweint haben, wenn er unsern Abschied gesehn hätte; ja, meine Großmutter, die keine Augen mehr hat, seht ihr, die weinte sich blind bei meinem Fortgehn. Ich will euch zeigen, wie es herging: dieser Schuh ist mein Vater; nein, dieser linke Schuh ist mein Vater, – nein, dieser linke Schuh ist meine Mutter; nein, so kann es nicht sein; – ja, es ist so, es ist so; er hat die schlechteste Sohle; dieser Schuh mit dem Loch ist meine Mutter, und dieser mein Vater; hol' mich der Henker! so ist's; nun dieser Stock ist meine Schwester, denn seht ihr, sie ist so weiß wie eine Lilie und schlank wie eine Gerte; dieser Hut ist Hanne, unsre Magd, ich bin der Hund, – nein, der Hund ist er selbst, und ich bin der Hund, – ach! der Hund ist ich, und ich bin auch ich selbst; ja, ja, so ist's. Nun komme ich zu meinem Vater; Vater, Euern Segen; nun kann der Schuh vor Weinen kein Wort sprechen; nun küsse ich meinen Vater; gut, er weint fort; – nun komme ich zu meiner Mutter (oh, daß sie nur sprechen könnte, wie ein Weib, das von Sinnen ist!); gut, ich küsse sie; ja, das ist wahr: das ist meiner Mutter Atem ganz und gar; nun komme ich zu meiner Schwester; gebt acht, wie sie ächzt; nun vergießt der Hund keine Träne, und spricht während der ganzen Zeit kein Wort; und ihr seht doch, wie ich den Staub mit meinen Tränen lösche.


[169] Panthino tritt auf.


PANTHINO. Fort, fort, Lanz, an Bord; dein Herr ist eingeschifft, und du mußt hinterher rudern. Was ist das? Was weinst du, Kerl? Fort, Esel; du wirst dich ohne Not verstricken und das Schiff verlieren, wenn du länger wartest.

LANZ. Das tut nichts, denn es ist die hartherzigste Verstrikkung, die jemals ein Mensch am Strick mit sich führte.

PANTHINO. Welche hartherzige Verstrickung meinst du?

LANZ. Die ich hier am Strick habe; Krabb, mein Hund.

PANTHINO. Schweig', Kerl! Ich meine, du wirst die Flut verlieren, und wenn du die Flut verlierst, deine Reise verlieren, und wenn du die Reise verlierst, deinen Herrn verlieren, und wenn du deinen Herrn verlierst, deinen Dienst verlieren, und wenn du deinen Dienst verlierst – Warum hältst du mir den Mund zu?

LANZ. Aus Furcht, du möchtest deine Zunge verlieren. – Mag ich Flut, Reise, Herrn und Dienst verlieren! Flut! – Ja, Mann, wenn der Strom vertrocknet wäre, bin ich imstande, ihn mit meinen Tränen zu füllen; wenn der Wind sich gelegt hätte, könnte ich das Boot mit meinen Seufzern treiben.

PANTHINO. Komm, komm fort, Kerl, ich bin her geschickt, dich zu holen.

LANZ. Hol' dich der Henker!

PANTHINO. Wirst du gehn?

LANZ. Ja, ich will gehn.


Beide gehn ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin: Aufbau, 1975, S. 169-170.
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