Zweite Szene

[538] Frankreich. Vor Rouen.


Die Pucelle tritt verkleidet auf, mit Soldaten, wie Landleute gekleidet, mit Säcken auf den Rücken.


PUCELLE.

Dies ist das Stadttor, von Rouen das Tor,

Das unsre Schlauigkeit erbrechen muß.

Gebt Achtung, wie ihr eure Worte stellt,

Sprecht wie Marktleute von gemeinem Schlag,

Die Geld zu lösen kommen für ihr Korn.

Wenn man uns einläßt, wie ich sicher hoffe,

Und wir nur schwach die träge Wache finden,

So meld' ich's durch ein Zeichen unsern Freunden,

Daß Karl, der Dauphin, einen Angriff wage.

ERSTER SOLDAT.

Der Plunder soll die Stadt uns plündern helfen,

Uns Herrn und Meister machen in Rouen.

Drum laßt uns klopfen.


Er klopft an.


WACHE drinnen.

Qui est là?

PUCELLE.

Paysans, pauvres gens de France;

Marktleute, die ihr Korn verkaufen wollen.

WACHE.

Geht nur hinein, die Markt-Glock' hat geläutet.


Er öffnet das Tor.[538]


PUCELLE.

Wohlauf, Rouen, nun stürz' ich deine Feste.


Die Pucelle und ihre Leute gehen in die Stadt.


Karl. Bastard von Orleans, Alençon und Truppen.


KARL.

Sankt Dionys, gesegne diese Kriegslist!

Wir schlafen nochmals sicher in Rouen.

BASTARD.

Hier ging Pucelle hinein mit ihren Helfern;

Doch, nun sie dort ist, wie bezeichnet sie

Den sichersten und besten Weg hinein?

ALENÇON.

Vom Turm dort steckt sie eine Fackel auf,

Die, wahrgenommen, ihre Meinung zeigt,

Der Weg, wo sie hinein kam, sei der schwächste.


Die Pucelle erscheint auf einer Zinne und hält eine brennende Fackel empor.


PUCELLE.

Schaut auf, dies ist die frohe Hochzeitsfackel,

Die ihrem Landesvolk Rouen vermählt,

Doch tödlich brennend für die Talbotisten.

BASTARD.

Sieh, edler Karl! Die Fackel, das Signal

Von unsrer Freundin, steht auf jenem Turm.

KARL.

Nun strahle sie wie ein Komet der Rache,

Wie ein Prophet von unsrer Feinde Fall!

ALENÇON.

Kein Zeitverlust! denn Zögern bringt Gefahr!

Hinein und schreit: der Dauphin! alsobald

Und räumet dann die Wachen aus dem Weg.


Sie dringen ein.


Getümmel. Talbot kommt mit einigen Englischen.


TALBOT.

Frankreich, mit Tränen sollst du mir dies büßen,

Wenn Talbot den Verrat nur überlebt.

Die Hexe, die verfluchte Zauberin,

Stellt unversehns dies Höllen-Unheil an,

Daß wir dem Stolze Frankreichs kaum entrinnen.


Sie gehen ab in die Stadt.


Getümmel, Ausfälle. Aus der Stadt kommen Bedford, der krank in einem Stuhle hereingetragen wird, mit Talbot, Burgund und, den englischen Truppen. Dann erscheinen auf den Mauern die Pucelle, Karl, der Bastard, Alençon und andre.[539]


PUCELLE.

Guten Morgen, Brave! Braucht ihr Korn zum Brot?

Der Herzog von Burgund wird fasten, denk' ich,

Eh' er zu solchem Preise wieder kauft.

Es war voll Trespe: liebt Ihr den Geschmack?

BURGUND.

Ja, höhne, böser Feind! Schamlose Buhle!

Bald hoff' ich dich im eignen zu ersticken,

Daß du die Ernte dieses Korns verfluchst.

KARL.

Eu'r Hoheit könnte wohl zuvor verhungern.

BEDFORD.

Oh, nicht mit Worten, nehmt mit Taten Rache!

PUCELLE.

Was wollt Ihr, alter Graubart? Mit dem Tod

Im Lehnstuhl auf ein Lanzenbrechen rennen?

TALBOT.

Dämon von Frankreich, aller Greuel Hexe,

Von deinen üpp'gen Buhlern eingefaßt!

Steht es dir an, sein tapfres Alter höhnen

Und den halbtoten Mann mit Feigheit zwacken?

Ich muß noch einmal, Dirnchen, mit Euch dran,

Sonst komme Talbot um in seiner Schmach!

PUCELLE.

Seid Ihr so hitzig, Herr? Doch still, Pucelle!

Denn donnert Talbot nur, so folgt auch Regen.

Talbot und die andern beratschlagen sich.


Gott helf' dem Parlament! Wer soll der Sprecher sein?

TALBOT.

Wagt ihr euch wider uns ins Feld hinaus?

PUCELLE.

Es scheint, der gnäd'ge Lord hält uns für Narr'n,

Daß wir uns noch bequemten auszumachen,

Ob unser Eignes unser ist, ob nicht.

TALBOT.

Ich sag' es nicht der schmäh'nden Hekate,

Dir sag' ich's und den andern, Alençon:

Kommt ihr und fechtet's wie Soldaten aus?

ALENÇON.

Nein, Signor.

TALBOT.

So hängt, Signor! Ihr Maultiertreiber Frankreichs!

Wie Bauerknechte hüten sie die Mauern

Und dürfen nicht wie Edelleute fechten.

PUCELLE.

Hauptleute, fort! Verlassen wir die Mauern,

Denn Talbot meint nichts Gut's nach seinen Blicken.

Gott grüß' Euch, Lord, wir wollten Euch nur sagen,

Wir wären hier.


Die Pucelle mit den übrigen von den Mauern ab.[540]

TALBOT.

Wir wollen auch dort sein in kurzer Zeit,

Sonst werde Schande Talbots größter Ruhm.

Schwör' mir, Burgund, bei deines Hauses Ehre,

Gereizt durch Unrecht, so dir Frankreich tat,

Du woll'st die Stadt erobern oder sterben;

Und ich, so wahr als Englands Heinrich lebt

Und als sein Vater hier Erob'rer war,

So wahr in dieser jüngst verratnen Stadt

Held Löwenherzens Herz begraben ward,

Will ich die Stadt erobern oder sterben.

BURGUND.

Mein Schwur ist deines Schwures Mitgenoß.

TALBOT.

Doch eh' wir gehn, sorgt für ein sterbend Haupt,

Den tapfern Herzog Bedford. – Kommt, Mylord,

Wir wollen einen bessern Platz Euch schaffen,

Für Krankheit schicklicher und mürbes Alter.

BEDFORD.

Lord Talbot, nein, entehret mich nicht so;

Hier will ich sitzen vor den Mauern von Rouen,

Teilnehmer Eures Wohles oder Wehs.

BURGUND.

Beherzter Bedford, laßt uns Euch bereden.

BEDFORD.

Nur nicht von hier zu gehn; ich las einmal:

Der starke Pendragon kam in der Sänfte

Krank in das Feld und überwand den Feind.

So möcht' ich der Soldaten Herz beleben,

Denn immer fand ich sie so wie mich selbst.

TALBOT.

Entschloßner Geist in der erstorbnen Brust!

So sei's denn; schütze Gott den alten Bedford!

Nun ohne weitres, wackerer Burgund,

Ziehn wir sogleich zusammen unsre Macht

Und fallen auf den prahlerischen Feind.


Burgund, Talbot und ihre Truppen ab, indem sie Bedford und andre zurücklassen.


Getümmel, Angriffe. Sir John Fastolfe und ein Hauptmann kommen.


HAUPTMANN.

So eilig, Sir John Fastolfe! Wo hinaus?

FASTOLFE.

Nun, wo hinaus? Mich durch die Flucht zu retten,

Wir werden wiederum geworfen werden.

HAUPTMANN.

Was? Flieht Ihr und verlaßt Lord Talbot?[541]

FASTOLFE.

Ja,

Alle Talbots in der Welt, um mich zu retten.


Ab.


HAUPTMANN.

Verzagter Ritter! Unglück folge dir!


Ab.


Rückzug. Angriffe. Aus der Stadt kommen die Pucelle, Alençon, Karl u.s.w. und gehen fliehend ab.


BEDFORD.

Nun, stille Seele, scheide, wann Gott will,

Denn unsre Feinde sah ich hingestürzt.

Wo ist des Menschen Zuversicht und Kraft?

Sie, die sich jüngst erdreistet mit Gespött,

Sind gerne froh, sich durch die Flucht zu retten.


Er stirbt und wird in seinem Lehnstuhl weggetragen.


Getümmel. Talbot, Burgund und andre treten auf.


TALBOT.

In einem Tag verloren und gewonnen!

Gedoppelt ist die Ehre nun, Burgund;

Doch sei dem Himmel Preis für diesen Sieg!

BURGUND.

Sieghafter Krieger Talbot! Dein Burgund

Weiht dir sein Herz zum Schrein und baut ein Denkmal

Des Heldenmuts aus deinen Taten da.

TALBOT.

Dank, edler Herzog. Doch, wo ist Pucelle?

Ich denk', ihr alter Hausgeist fiel in Schlaf.

Wo ist des Bastards Prahlen? Karls Gespött?

Wie? Alle tot? Es hängt Rouen den Kopf

Vor Gram, daß solche tapfre Schar geflohn.

Nun laßt uns Ordnung schaffen in der Stadt

Und setzen drein erfahrne Offiziere;

Dann nach Paris, zum König; denn es liegt

Der junge Heinrich da mit seinen Großen.

BURGUND.

Was Talbot will, das hält Burgund genehm.

TALBOT.

Jedoch laßt, eh' wir gehn, uns nicht vergessen

Den jüngst verschiednen edlen Herzog Bedford,

Und sehn wir sein Begräbnis hier vollbracht.

Kein braverer Soldat schwang je die Lanze,

Kein mildres Herz regierte je am Hof.

Doch sterben müssen Kön'ge, noch so groß;

So endet sich elender Menschen Los.


Alle ab.[542]


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 3, Berlin: Aufbau, 1975, S. 538-543.
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