Sechstes Kapitel.

[60] Petronius war zu Hause gewesen. Der Türhüter hatte es nicht gewagt, Vinicius zurückzuhalten, der wie eine Windsbraut ins Atrium stürmte und, als er erfuhr, der Hausherr sei in der Bibliothek zu treffen, mit demselben Ungestüm dorthin stürzte, wo er Petronius beim Schreiben fand, ihm das Rohr aus der Hand riß, es zerbrach, zur Erde warf, dann die Hand auf seine Schulter legte, sein Gesicht dem seines Oheims näherte und ihn mit heiserer Stimme fragte: »Was hast du mit ihr gemacht? Wo ist sie?«

Aber plötzlich geschah etwas unerwartetes. Der schmächtige und entnervte Petronius packte die auf seiner Schulter liegende Hand des jungen Riesen, dann die andere, hielt beide mit einer von den seinigen mit der Kraft einer eisernen Zange fest und sagte: »Ich bin nur am Morgen schwach, am Abend besitze ich meine alte Stärke. Versuche, ob du dich befreien kannst. Ein Weber muß dich Gymnastik und ein Grobschmied Lebensart gelehrt haben.«

In seinem Gesicht drückte sich nicht einmal Zorn aus, nur in seinen Augen blitzte es von Mut und Entschlossenheit. Nach einer Weile gab er Vinicius' Hände frei, der gedemütigt, beschämt und in voller Wut vor ihm stand.

»Du hast eine Hand von Stahl,« sagte er; »aber bei allen Göttern der Unterwelt schwöre ich dir, daß ich dir, wenn du mich betrogen hast, einen Dolch in den Leib stoße, und wäre es selbst in den Zimmern des Caesars.«

»Wir wollen ruhig miteinander sprechen,« erwiderte Petronius. »Stahl ist härter als Eisen, wie du siehst; obgleich sich vielleicht aus einem deiner Arme zwei von meinen machen lassen, brauche ich dich doch nicht zu fürchten. Im Gegenteil, ich schäme mich deiner Roheit, und wenn der Undank der Menschen mich noch in Staunen setzen könnte, möchte ich mich über deine Undankbarkeit wundern.«[61]

»Wo ist Lygia?«

»Im Lupanar, das heißt im Hause des Caesars.«

»Petronius!«

»Beruhige dich und nimm Platz. Ich bat den Caesar um zwei Dinge, die er mir gewährte: erstens, Lygia aus dem Hause des Aulus abholen zu lassen und zweitens, sie dir zu übergeben. Hast du nicht einen Dolch in den Falten deiner Toga verborgen? Vielleicht stößt du mich damit nieder! Aber ich rate dir, noch ein paar Tage zu warten, denn man würde dich in den Kerker werfen, und inzwischen würde sich Lygia in deinem Hause langweilen.«

Es trat Schweigen ein. Vinicius betrachtete Petronius eine Zeitlang mit verdutzten Augen und sprach dann: »Verzeihe mir! Ich liebe sie, und die Liebe verwirrt mir den Verstand.«

»Bewundere mich, Marcus. Vorgestern sagte ich dem Caesar folgendes: Mein Schwestersohn Vinicius hat sich dermaßen in ein schmächtiges Mädchen verliebt, das bei Aulus erzogen wird, daß sein Haus sich infolge des Seufzens in ein Dampfbad verwandelt hat. Weder du, sagte ich, Caesar, noch ich, die wir wissen, was wahre Schönheit ist, würden tausend Sesterzen für sie geben, aber dieser Bursche war von jeher dumm wie Bohnenstroh und ist jetzt vollends närrisch geworden.«

»Petronius!«

»Wenn du nicht begreifst, daß ich dieses sagte, weil ich Lygia nicht in Gefahr bringen wollte, so bin ich geneigt zu glauben, daß ich recht hatte. Ich redete dem Rotbart vor, ein Mann von so feinem ästhetischen Gefühl wie er dürfe ein solches Mädchen nicht schön finden, und Nero, der bisher noch nie gewagt hat, mit anderen Augen als den meinigen zu sehen, wird nichts an ihr schön finden, und wenn er dies nicht tut, sie auch nicht begehren. Es war nötig, sich vor dem Affen zu sichern und ihn an die Kette zu legen. Für Lygia hat er also jetzt keine Augen, wohl aber Poppaea, und[62] sie wird offenbar bemüht sein, sie sobald wie möglich aus dem Palaste zu entfernen. Ich habe natürlich ferner dem Rotbart gesagt: Nimm Lygia fort und gib sie Vinicius! Du hast ein Recht, dies zu tun, denn sie ist eine Geisel, und wenn du so handelst, kränkst du Aulus. Er stimmte zu. Er hatte auch nicht den mindesten Grund, sich zu weigern, um so weniger, als ich ihm eine Gelegenheit verschaffte, ehrenhafte Leute zu quälen. Man wird dich zum amtlichen Vormund der Geisel ernennen und deinen Händen diesen lygischen Schatz anvertrauen, und du als Freund der tapferen Lygier und zugleich als treuer Diener des Caesars wirst nicht nur nichts von diesem Schatze vergeuden, sondern dir Mühe geben, ihn zu vermehren. Um den Schein zu wahren, behält der Caesar sie einige Tage in seinem Hause und sendet sie dann zu deiner Insula, du Glücklicher!«

»Ist das wahr? Droht ihr dort im Hause des Caesars keine Gefahr?«

»Wenn sie für immer dort zu bleiben hätte, so würde Poppaea mit der Giftmischerin Locusta über sie sprechen, aber einige Tage lang hat sie nichts zu fürchten. Im Palaste des Caesars leben zehntausend Menschen. Es kann sein, daß Nero sie überhaupt nicht zu Gesicht bekommt, um so mehr, als er mir die Ordnung der ganzen Angelegenheit überlassen hat. Soeben war der Centurio bei mir, um mir zu melden, daß er das Mädchen in den Palast geleitet und der Obhut Aktes übergeben hat. Diese Akte ist eine gute Seele, deswegen stellte ich Lygia unter ihren Schutz. Pomponia Graecina ist augenscheinlich selbst dieser Ansicht, denn sie hat ihr geschrieben. Morgen ist bei Nero ein Gastmahl. Ich habe dir einen Platz neben Lygia besorgt.«

»Verzeihe mir meine Heftigkeit, lieber Gajus,« sagte Vinicius. »Ich glaubte, du hättest sie für dich oder für den Caesar holen lassen.«

»Deine Heftigkeit könnte ich dir schon verzeihen, aber schwerer fällt es mir, rohes Benehmen, ungesittetes Schreien[63] und eine an Moraspieler erinnernde Stimme zu verzeihen. Ich liebe derartiges nicht, Marcus, hüte dich davor. Wisse, daß Tigellinus der Vertraute des Caesars ist, und wisse auch, daß, wenn ich das Mädchen für mich haben wollte, ich dir gerade ins Gesicht sehen und das folgende sagen würde: Vinicius, ich nehme dir Lygia weg und werde sie so lange behalten, bis ich ihrer überdrüssig bin.«

Bei diesen Worten sah er Vinicius mit seinen braunen Augen, in denen ein kalter, hochmütiger Ausdruck lag, so durchdringend an, daß der junge Mann völlig in Verwirrung geriet.

»Es ist meine Schuld,« sagte er. »Du bist gütig und ehrenhaft, und ich danke dir von ganzem Herzen. Nur gestatte mir noch eine Frage an dich zu richten. Warum hast du Lygia nicht sofort in mein Haus geleiten lassen?«

»Weil der Caesar den Schein zu wahren wünscht. Die Leute werden in Rom darüber sprechen, daß wir Lygia als Geisel aus Aulus' Hause abgeholt haben; daher wird Lygia, solange sie darüber sprechen, im Hause des Caesars bleiben. Dann wird man sie dir in aller Stille zuführen, und die Sache ist damit abgetan. Der Rotbart ist ein feiger Hund. Er weiß, daß seine Macht unbegrenzt ist, und doch will er jeder Handlung ein Mäntelchen umhängen. Hast du dich schon so weit erholt, um ein wenig philosophieren zu können? Verschiedenemal ist mir der Gedanke gekommen: Warum bemüht sich das Verbrechen, selbst wenn es von einem mächtigen, vor jeder Verantwortlichkeit geschützten Manne wie dem Caesar ausgeht, stets um den Anschein des Rechtes, der Gerechtigkeit und Tugend? Wozu all diese Sorge? Ich bin der Ansicht, daß sich die Ermordung des Bruders, der Mutter und der Gemahlin wohl für einen asiatischen König, aber nicht für einen römischen Caesar schickt; wenn mir dies aber passierte, so würde ich keine Entschuldigungsbriefe an den Senat schreiben. Nero schreibt sie aber – Nero sucht den Schein, denn Nero ist feig. Tiberius war jedoch nicht feig, und trotzdem suchte er jedes[64] seiner Verbrechen zu rechtfertigen. Warum ist dem so? Welch seltsame, unfreiwillige Huldigung, die das Laster hiermit der Tugend darbringt! Und weißt du, was ich glaube? Sieh, dies geschieht deshalb, weil das Verbrechen häßlich, die Tugend dagegen schön ist. Folglich ist ein wahrhaft ästhetisch Gebildeter zugleich tugendhaft. Also bin ich tugendhaft. Ich muß heute den Schatten des Protagoras, Prodikos und Gorgias etwas Wein zum Opfer ausgießen. Es scheint, als ob auch Sophisten zuweilen von Nutzen sein können. Höre mich an, denn ich bin noch nicht zu Ende. Ich nahm Lygia ihrem Pflegevater weg, um sie dir zu übergeben. Schön. Lysippos würde aus euch eine wundervolle Gruppe geschaffen haben. Ihr seid beide schön – folglich ist auch meine Handlungsweise schön, und wenn sie schön ist, kann sie nicht schlecht sein. Siehe Marcus, vor dir sitzt die Tugend selbst in der Gestalt des Petronius. Lebte Aristeides noch, so wäre es seine Pflicht, zu mir zu kommen und mir hundert Minen für den kürzesten Vortrag über die Tugend zu überreichen.«

Doch Vinicius, der für die Wirklichkeit des Lebens mehr Sinn hatte als für abstrakte Vorträge über die Tugend, sagte: »Morgen werde ich Lygia sehen und werde sie dann täglich, immer und bis zu meinem Tode in meinem Hause haben.«

»Du wirst Lygia besitzen, und ich werde Aulus auf dem Halse haben. Er wird die Rache aller Götter der Unterwelt auf mich herabbeschwören. Und wenn der Kerl wenigstens vorher Unterricht über ordentliche Vortragsweise nehmen wollte! So aber wird er mich anfahren, wie mein früherer Türsteher meine Klienten angefahren hat. Ich habe ihn übrigens dafür zur Strafe ins Arbeitshaus gesperrt.«

»Aulus war bei mir. Ich versprach, ihm Nachricht über Lygia zu schicken.«

»Schreibe ihm, daß der Wille des göttlichen Caesars das oberste Gesetz sei und daß dein erster Sohn den Namen Aulus tragen werde. Der alte Mann muß doch wenigstens[65] einen Trost haben. Ich bin bereit, den Rotbart zu bitten, er möge ihn morgen zum Gastmahle einladen. Im Triclinium soll er dich neben Lygia sehen.«

»Tu dies nicht,« sagte Vinicius. »Sie dauern mich, namentlich Pomponia.«

Dann setzte er sich hin, um jenen Brief zu schreiben, der dem alten Feldherrn seine letzte Hoffnung zerstörte.

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 1, S. 60-66.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Quo vadis
Quo vadis?: Eine Erzählung aus der Zeit Neros
Quo vadis?: Vollständige Ausgabe
Quo vadis?: Roman
Brockhaus Literaturcomics Quo vadis?: Weltliteratur im Comic-Format
Quo vadis?

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Bozena

Bozena

Die schöne Böhmin Bozena steht als Magd in den Diensten eines wohlhabenden Weinhändlers und kümmert sich um dessen Tochter Rosa. Eine kleine Verfehlung hat tragische Folgen, die Bozena erhobenen Hauptes trägt.

162 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon