Siebenundsechzigstes Kapitel.

[290] Vier Bithynier trugen Lygia sorgsam zum Hause des Petronius. Vinicius und Ursus schritten neben der Sänfte her und beeilten sich, sie so bald wie möglich der Pflege eines griechischen Arztes anzuvertrauen. Sie schwiegen, denn nach den Vorgängen dieses Tages konnten sie keine Worte finden. Vinicius war noch halb bewußtlos. Er wiederholte es sich unablässig, Lygia sei gerettet, es drohe ihr weder Kerkerhaft noch der Tod im Zirkus mehr, das Unglück sei ein für allemal vorüber, er werde sie heimführen, um sich nie wieder von ihr zu trennen. Es war ihm, als sei dies eher der Anfang eines neuen Lebens als Wirklichkeit. Von Zeit zu Zeit beugte er sich über die offene Sänfte, um das geliebte Antlitz zu betrachten, das beim Scheine des Mondes wie schlummernd dalag, und wiederholte sich in Gedanken: »Ja, sie ist es, Christus hat sie gerettet!« Auch erinnerte er sich, daß, als Ursus und er Lygia aus dem Spoliarium trugen, ein unbekannter Arzt hinzugekommen war und ihn versichert habe, das Mädchen lebe und werde am Leben bleiben. Bei diesem Gedanken schwoll sein Herz vor Freude, so daß er mitunter strauchelte und sich auf Ursus' Arm stützen mußte, da er nicht allein gehen konnte. Ursus sah andächtig zum Himmel empor und betete.[290]

Eilends schritten sie durch die Straßen, deren neuerbaute Häuser mit ihren weißen Wänden hell im Strahle des Mondlichts erglänzten. Die Stadt war menschenleer. Nur hier und da erblickte man Gruppen von Menschen, die, mit Efen bekränzt, vor den Toren zum Klange von Flöten sangen und tanzten und sich auf diese Weise der wundervollen Nacht und der Festzeit, die vom Beginn der Spiele an bis jetzt gedauert hatte, freuten. Erst als sie nicht mehr weit vom Hause entfernt waren, hörte Ursus auf zu beten und begann mit leiser Stimme, als fürchte er, Lygia zu erwecken: »Es war der Heiland, Herr, der sie vom Tode errettet hat. Als ich sie auf den Hörnern des Stiers erblickte, hörte ich in meinem Innern eine Stimme: Schütze sie! und dies war ohne Zweifel die Stimme des Lammes. Das Gefängnis hatte mich geschwächt; aber der Heiland gab mir meine Kraft für diesen Augenblick wieder und begeisterte dieses grausame Volk, Partei für Lygia zu ergreifen. Sein Wille geschehe!«

Vinicius erwiderte: »Hochgelobt sei sein Name! ...«

Aber er konnte nicht weitersprechen, denn er fühlte, wie ihm ein unstillbares Schluchzen die Brust zu erschüttern drohte. Es drängte ihn unwiderstehlich, sich auf die Erde zu werfen und dem Heiland für das Wunder und sein Erbarmen zu danken.

Inzwischen waren sie am Hause angelangt. Die durch einen eigens dazu abgesandten Sklaven benachrichtigten Diener, von denen die Mehrzahl schon in Antium durch Paulus von Tarsos bekehrt worden war, hatten sich zum Empfange der Ankommenden versammelt. Das Unglück ihres Herrn war ihnen bekannt; ihre Freude war daher groß, als sie die Opfer der Rachsucht Neros entronnen sahen, und sie steigerte sich noch, als der Arzt Theokles, nachdem er Lygia untersucht hatte, erklärte, sie habe keinen ernstlichen Schaden davongetragen und werde wieder gesund werden, sobald die durch das Gefängnisfieber verursachte Schwäche vorüber sei.[291]

Das Bewußtsein kehrte ihr noch in dieser Nacht zurück. Als sie in dem herrlichen, von korinthischen Lampen erleuchteten und von Verbenenduft erfüllten Cubiculum erwachte, wußte sie nicht, wo sie sich befinde oder was mit ihr vorgegangen sei. Es war ihr nur die Erinnerung an den Augenblick zurückgeblieben, wo man sie an die Hörner des gefesselten Stieres gebunden hatte, und als sie nun Vinicius' von mildem, farbigem Licht übergossenes Antlitz über sich gebeugt sah, glaubte sie, sich schon nicht mehr auf Erden zu befinden. Die Gedanken verwirrten sich noch in ihrem armen kranken Kopfe; es schien ihr ganz natürlich, daß sie aus Anlaß ihrer Qualen und ihrer Schwäche auf dem Wege zum Himmel irgendwo Halt gemacht hätten. Da sie jedoch keinen Schmerz empfand, lächelte sie Vinicius zu und wollte ihn fragen, wo sie seien; doch nur ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen, aus dem Vinicius kaum seinen Namen heraushören konnte.

Er kniete vor ihr nieder und legte seine Hand leise auf ihre Stirn, indem er sagte: »Christus hat dich gerettet und dich mir wiedergeschenkt.«

Ihre Lippen bewegten sich wiederum in unverständlichem Flüstern; dann schlossen sich ihre Lider, ein leichtes Aufatmen hob die Brust, und sie versank in einen tiefen Schlaf, den der Arzt Theokles erwartet hatte und von dem er die Wiederkehr der Gesundheit erhoffte.

Vinicius blieb auf den Knieen vor ihr liegen und betete inbrünstig. Seine Seele war so ausschließlich mit seiner Liebe beschäftigt, daß er seine Umgebung vollständig vergaß. Theokles kehrte mehrmals ins Cubiculum zurück, zu wiederholten Malen zeigte sich hinter dem aufgehobenen Vorhang auch Eunikes goldhaariges Köpfchen. Endlich begannen die im Garten gehaltenen Kraniche krähend den Anbruch des Tages zu verkünden, aber immer noch umklammerte Vinicius im Geiste die Füße Christi, ohne etwas von dem zu sehen oder zu hören, was um ihn herum vorging, während in seinem Herzen[292] ein Dankopfer loderte und er in einer Seligkeit schwebte, die ihm schon auf Erden einen Vorgeschmack des Himmels gewährte.

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 2, S. 290-293.
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