Lob der Sinne

[30] Mögen andere nach Zeno's Hallen,

Mit Diogenes verkehrtem Sinn,

Im Gefühle ihrer Größe wallen!

Meine Gottheit winkt mir nicht dahin;

Ihre Stirne ist bekränzt mit Rosen,

Ihre Stimme tönt, wie Silberschlag,

Sie umflattern leichte frohe Scherze,

Und die Freude folgt ihr jubelnd nach.


Eure Lust, ihr Sinne! eure Freuden

Mögen immer finstre Seelen scheu'n;

Ich will ihren höher'n Flug nicht neiden,

Will mich eurer reinen Wonnen freun!

Schöner dünken mir dann Luna's Stralen,

Wenn sie hehr durch Silberwolken bricht,

Klarer rieselt mir die Silberquelle

Zwischen Veilchen und Vergißmeinnicht;
[31]

Rührender singt für mich Filomele

Vom beblühten Zweig ihr Abendlied,

Höh're Wonne hebet meine Seele,

Wenn die Sonne früh' in Osten glüht;

Schöner lacht für mich die ganze Erde,

Froher fühle ich des Lenzes Wehn,

Süß'ren Nektar reifet mir die Traube

An des Rheines goldnen Reben-Höhn;


Hoch empor hebt mich zu reinren Freuden

Meiner Harfe goldnes Saitenspiel,

Süße Thränen sanfter Rührung gleiten

Von den Wangen, malen mein Gefühl,

Singt mir Selmar vor mit Zaubertönen,

Und mit einem Blick, der Wahrheit spricht,

Von der Liebe ew'gen Harmonieen; –

Diesen Himmel faßt die Erde nicht!

Quelle:
Elise Sommer: Poetische Versuche, Marburg 1806, S. 30-32.
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