Morgenlied

[136] Schon sinkt die Nacht in ihre Grotte,

Der goldne Morgen lößt sie ab;

Er wird geweckt von einem Gotte,

Der Daseyn und Gefühl mir gab.


Ihm will ich die verjüngten Kräfte

Mit neuem Tugendeifer weih'n,

Und nach vollbrachtem Tagsgeschäfte

Mich seiner schönen Schöpfung freu'n.


Sie strömet reine Harmonieen

In jedes edlen Menschen Brust,

Der Leidenschaften Stürme fliehen

In ihr, wie jede niedre Lust.


Von ihr begeistert, möcht' ich singen

In Feueroden Gottes Lob!

Ihm will ich höh're Opfer bringen,

Der mich vor Tausenden erhob.
[137]

Doch flög' ich auch mit kühnen Schwingen

Zum Sitz der Gottheit selbst hinan,

Wie dürft' ich's wagen, Gott zu singen?

Ich bet' ihn tief im Staube an.

Quelle:
Elise Sommer: Poetische Versuche, Marburg 1806, S. 136-138.
Lizenz:
Kategorien: