Bei Uebersendung eines Lorbeerzweigs

[89] An Herrn Superintendent Justi zu Marburg


Ich hatt' ein holdes Röschen

Für Dich, o Freund! erzogen.

Schon schimmerten so röthlich

Die zarten seid'nen Blätter

Durch die gesprung'ne Hülle,

Und süsser Duft entwehte

Dem jüngsten Kinde Florens;

Drei kleine Knöspchen drängten

Sich aus dem grünen Laube,

Und wanden sich so traulich

Um ihre schöne Schwester;

Bald rauschten Aeolsflügel

Laut heulend durch den Aether;

Es nahte starre Kälte

Und zwang die bange Erde

In diamantne Fesseln;

Da sank mein holdes Röschen,[90]

Und seine zarte Blüthe

Verwelkte ungenossen,

Sein grünes Laub erstarrte,

Sein milder Duft verwehte,

Vergebens bat ich Floren,

Ein Kränzchen mir zu schenken.

Noch schlummert Lenz und Freude

In Tellus kaltem Schoose.

Da naht' ich mich so schüchtern

Appollons heil'gem Haine:

Den immer grünen Lorbeer

Kann selbst kein Gott vernichten,

In ew'ger Jugend-Schöne

Umstralet er den Holden.

Ein Lorbeer-Reis nur fleht' ich

Vom hohen Dichter-Gotte,

Den Sänger zu bekränzen,

Dem er so hold gelächelt;

Doch zürnend sprach der Hehre:

»Zu lang hast du verweilet!

Schon mancher aus dem Chore

Der heil'gen Sänger weiht' ihm

Des Lorbeerhaines Spende!«

Dies Röschen nur erhascht' ich,

Das bring' ich Dir entgegen,

Empfang' es nun, o Theurer!

Mit einem holden Blicke.

Wenn Phöbus wieder lächelt,[91]

Soll ihm die Muse kosen,

Bis er, vom heil'gen Pindus

Ein Lorbeer-Reis zu brechen,

Der Freundin Deiner Lieder,

Für Dich, o Freund, gewähret!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 89-92.
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