An meine Schwester

[139] Schön ist's, unter blüthenvollen Zweigen

Blasse Sterne langsam schwinden sehn,

Wenn die blauen dämmernden Gebirge

Sanft geröthet von Aurora stehn;


Wenn die grosse Königin des Tages

Die Natur mit Flammenblicken grüsst;

Wenn die Fackel ihres Abendgoldes

Prachtvoll in des Meeres Wellen fliesst!


Schön ist's hier, wo schattiger Platanen

Silberthau den grünen Boden tränkt,

Wo mir an des See's umschilftem Ufer

Ruhe hold zu höhern Freuden winkt;


Wo der Lenz im weissen Blüthenkranze

Einen Teppich blauer Veilchen webt,

Luna magisch um die dunklen Tannen

Wie ein Geist aus andern Welten schwebt!


Schön ist's, wenn des Maien Silberglocke

Zwischen seidnen Blättern duftend blüht,

Und die volle frischbethaute Rose

In dem Morgengold der Sonne glüht!
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Aber schöner sind die Eichenwälder,

Wo ich einst mit meiner Lina gieng;

Wo das Abendlied der Nachtigallen

An geweihter Grotte uns umfieng;


Wo der Waldstrom über Sand und Kiesel

In die Silberfluten niedersank;

Wo so manches liebe blaue Blümchen

Thränen treuer Schwesterliebe trank;


Wo ich Arm in Arm mit Dir im Grünen

Unterm Schatten hoher Eichen sass,

Und des nahen bangen Trennungstages

Im Gefühle meines Glücks vergass!


Wie auf Wetterwolken sank er nieder

Dieser folgenschwere bange Tag,

Wo ich sprachloss mit zerrissnem Herzen

Dir zum letztenmal am Busen lag!


Tröstend rief die goldne Hoffnung leise:

»Fasse dich, du wirst Sie wiedersehn,

An der Ostsee blühenden Gestaden

Wirst du deine Lina wiedersehn!«

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 139-141.
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