An die Nacht

[229] Des Abendhimmels letzte Rosen bleichen,

In blauen Duft taucht sich der Berge Grün,

Die Vögel eilen zu belaubten Eichen,

Der Aar schwebt stolz zum Felsenhorst dahin;

Des frohbewegten Lebens Spiele weichen

Den Truggestalten, die im Aether fliehn,

Der Quelle Rieseln, und die muntre Grille,

Besprechen sich in feierlicher Stille!


Empfange mich, nach heisser Tages-Schwüle,

Willkomm'ne Nacht! der sanfte Ruh' entquillt;

Hier wieg' ich mich im seligen Gefühle,

In Ahnung, die des Herzens Sehnsucht stillt.

Wie wohl ist mir in deiner Schatten-Kühle!

Hier ruh' ich sanft, vor jedem Blick verhüllt.

Voll innren Friedens blick' ich in die Ferne,

Die goldne Hoffnung stralt von jedem Sterne!


O Freundin schöner Seelen und der Müden!

Streu' allen Edlen deinen süssen Mohn!

Umhülle sie mit deinem stillen Frieden

Und stärke jeden matten Erdensohn!

Bekränz' ihn mit des Himmels schönsten Blüthen

Und mal' ihm jenseits seiner Tugend Lohn;

Erhelle sanft mit goldner Hoffnung Stralen

Die Nacht des Kerkers, lind're seine Qualen!
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Ein holdes Bild aus Iris Farben webe

Voll Schöpferkraft für jeden Menschenfreund;

Mit deiner Ruhe stillem Reiz umschwebe

Das Lager, wo gekränkt die Unschuld weint!

Umringt von bleichen Schreckgestalten bebe

In reuevoller Angst der Menschenfeind!

Ihm weig're ohne Mitleid und Erbarmen,

Der Ruhe Glück in deinen holden Armen!


Die schönsten Träume bringe meinen Guten

- Du kennst sie, Nacht! die meine Seele meint –

Dort, wo der Morgenröthe sanfte Gluten

Arkona malen, wenn der Tag erscheint;

Wo stolz der weiten Ostsee Wellen fluten,

Da wallen sie, um die mein Auge weint.

Wenn Sehnsucht, Liebe, zärtliches Verlangen,

Wie ernste Genien mich bang' umfangen!


Sanft klagend, wie der Geister Melodieen,

Ertöne mir der Harfe goldnes Spiel,

In ungestörten reinen Harmonieen

Begegne sich der Geist mit dem Gefühl;

Ich sehe schon in ernsten Phantasieen

Der vielen Erdenwünsche letztes Ziel:

O stille Nacht! so lieblich, so erlabend,

Erscheine mir am grossen Feierabend!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 229-231.
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