Fünftes Bild


[216] Vollmondnacht. Beschneites, weites Feld. Rechts Dorngestrüpp und unter ihm eine winzig kleine Zelle aus Backsteinen, in welcher der Heilige, nur im Rücken sichtbar, betet.


DER HEILIGE.

Ai! Ai! Ai! Ai! Nie! Nimmer! Satan!

Sagt nicht der süße Herr: »Wer läßt sein Weib

Um meinetwillen –?« Und: »Verlasse alles!«

Nein, nein, ich greif nicht zu! Du bietest da

Mir etwas Blühendes, prangend in Reizen.

Und Jesus sagt: »Es gibt Verschnittene,

Die sich verschneiden um des Himmelreichs willen.«

Und der Apostel singt von den vieltausend

Jungfräulichen in weißen Kleidern, die

In Weihrauch stehn und goldne Harfen schlagen

Auf Zion unablässig und ein Lied,[216]

Vom Weibe unbefleckt, zu singen wissen,

Das weiß nicht der, der je ein Weib umarmt hat.

Ich will dies süße Lied. Nun weiche! Weichst du?

O heilloser Verräter! Immer ärger

Stellst du mir nach? Wohlan!


Er eilt aus seiner Zelle vor und wirft sich in den Schnee.


Wohlan, du Feind, ich will dich überlisten,

Denn wir sind schlangenklug nach dem Gebot

Des Meisters. Also sieh: ich balle Klumpen,


Er formt Schneeballen.


Sieben. Der große, sonderliche deutet

Mein Weib – und hier zwei Söhne und zwei Töchter.

Und Knecht und Magd dazu. Und nun, Franziskus,

Schaff Brot und Kleidung, schaffe dies und das,

Sei hier und dort, nur nicht bei deinem Herrn,

Dem süßgeliebten Christus! Tue dies

Und tue das, nur nicht ununterbrochenes,

Beseligend Gebet in stiller Zelle.


Er steht auf.


Feind, wenn dir dieses nicht genügt, vernimm in Inbrunst:

Ich will die Ewigkeit und nicht die Zeit;

Die Zeit ist tot, die Ewigkeit ist lebend.

Ein Weib ist Zeit, und eine Ewigkeit

Ist ewige Hochzeit ewiglicher Minne.

Ich will die Ewigkeit! Mir gab den Ring

Das Lamm, das alle Zeiten überbrückte

Im blutigen Opfer. Und ich halt den Ring,

Den süßen, feurigen, an meiner Hand.

Ich bin des Geistes und vermählt dem Geist,

Ich zeuge feurige Tage

Der ewiglichen Minne süß in Christus,

Im Vater und im Geist. Sei, heilige Jungfrau,

Du reines, weißes Haus

Des Herrn, mein Beistand! Und du weiche, Satan!


Er wirft sich in die Dornen, und es sind lauter rote Rosen.


Quelle:
Reinhard Johannes Sorge: Werke in drei Bänden. Nürnberg 1964, S. 216-217.
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