Neunzehntes Capitel

[154] Der Knabe und er gingen eine Zeit lang schweigend nebeneinander durch den Wald. Bruno war zu stolz, als daß er eine Unterhaltung mit dem hätte beginnen sollen, der ihn ganz vergessen zu haben schien, und Oswald war mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt. In dem krystallhellen Spiegel von jenes Mannes kindlich reiner Seele, hatte er sein eigenes Gesicht erblickt – aber wie erblickt? von Leidenschaft zerrissen, von Zweifel verdüstert, so daß er vor sich selbst erschrak. Und dieser Mann, sprach er bei sich, kommt zu Dir, sich von Dir Rath zu holen; der Sehende zu dem Blinden, der Gesunde zu dem Kranken! Er entdeckt einen Fehler in der Rechnung seines Lebens, und er setzt sich hin und rechnet und rechnet und ruht nicht, bis das Facit stimmt, und Alles wieder schier und glatt ist, und Du taumelst durch's Leben, wie ein leichtsinniger Kaufmann, Schuld auf Schuld häufend, von einer tollen Speculation in die andere rennend, unbekümmert darum, wie es am Zahlungstage werden soll. Jener Mann würde sich eher die Hand abhauen, als sie nach etwas ausstrecken, das er nicht verdient hätte im Schweiße seines Angesichts. – Du nimmst die Gaben der goldigen Aphrodite und was Dir sonst ein günstiges Geschick gewährt, hin, wie Dein gutes Recht und murrest nur, daß es nicht mehr ist. Jetzt bist Du schon nicht mehr zufrieden mit Melitta's Liebe, für die Du ihr auf den Knieen danken müßtest; jetzt verlangst Du, sie sollte Dich geliebt haben, ehe sie Dich kannte, sie sollte wenigstens mit ihrer Liebe auch die Erinnerung an diesen Mann verloren haben. Wenn ich die Erinnerung tödten könnte, sagte sie. Nun, was uns gleichgültig ist, vergißt man gar leicht, und was man nicht vergißt und nicht vergessen kann – das ist uns nicht gleichgültig. Also haßt sie diesen Mann? Aber der Haß ist der wilde Bruder der holden Schwester Liebe! Vielleicht liebt sie ihn noch! – Und woher kam er[154] eben? Von ihr! ohne Zweifel. – Bruno, führt dieser Seitenweg noch sonst wohin, außer nach Berkow?

Nein, und ich finde den Weg wirklich nicht interessant genug, um ihn zweimal an einem Tage zu gehen. Hier ist ein anderer, der uns aus dem Walde herausführt und dann immer am Rande hin bis beinahe nach Hause; wollen wir den nicht einschlagen?

Meinethalben, sagte Oswald, sogleich wieder in seinen bösen Traum zurückfallend. Also wirklich von ihr! Doch das ist ja nicht möglich? »Ein rollend Rad des Weibes Brust hat gedrechselt; die Lilienhöhen decken, was wankt und wechselt« – das kann der Baron so gut wie Du in der Frithjofssage gelesen haben. Er ist ja auch ein Schriftgelehrter und dabei Baron und reich. – Dem Manne kann es gar nicht fehlen; aber Melitta soll mir Rede stehen; sie soll mir sagen, daß ich Ursache habe, den Mann zu hassen, wie ich ihn hasse.

Bruno war, durch die Breite des Weges von ihm getrennt, schweigend neben Oswald hergegangen. Er bemerkte wohl dessen Aufregung; er sah, wie sein Gesicht sich immer mehr verdüsterte, wie schmerzlich seine Lippen zuckten, wie seine Hand sich krampfig ballte; er sah, daß sein Freund nicht glücklich war. Mehr bedurfte es bei dem großmüthigen Knaben nicht, ihn alle seine persönliche Empfindlichkeit, seine eignen Klagen vergessen zu machen; er kam leise an Oswald heran und seine Hand ergreifend, sagte er:

Was fehlt Dir, Oswald? Warum sprichst Du nicht? Zürnst Du mir?

Ich Dir! mehr antwortete der junge Mann nicht; aber der Ton, mit dem er diese Worte sprach, und der Blick, mit dem er sie begleitete, waren genug, um Bruno von der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu überzeugen, und sie so lange zurückgestaute Fluth seiner Liebe in wildem Ungestüm hervorbrechen zu machen. Er umschlang Oswald und drückte und herzte ihn unter Thränen und Schluchzen.

Bruno, Bruno, was ist Dir? rief Oswald, durch die stürmische Zärtlichkeit des Knaben erschreckt.[155]

Ich glaubte, Du liebtest mich nicht mehr, schluchzte Bruno, und sieh, Oswald, wenn auch Du mich nicht mehr lieben willst, dann muß ich sterben.

Das bleiche Todtenbild, das Oswald heute Morgen in seinem fieberhaft erregten Zustande so entsetzlich deutlich geträumt hatte, trat wieder vor seine Seele und gab dem leidenschaftlichen Worte des Knaben eine fürchterliche Bedeutung. Sprachlos vor Rührung zog er den Weinenden an sein Herz, und wiederholte sich im Stillen das Gelöbniß, diesem armen, verlassenen Knaben ein Bruder zu sein.

So standen sie, sich eng umschlungen haltend. Rothe Abendlichter spielten in den Wipfeln der Tannen; aus dem Walde tönte der sanfte klagende Gesang eines Vögeleins.

Da schlugen aus geringer Entfernung wüste, häßliche Töne an ihr Ohr, laute drohende Stimmen von Männern, die in einem heftigen Wortwechsel begriffen schienen – Schelten, Fluchen – dann auf einen Augenblick tiefe Stille und plötzlich der laute Ruf: Herr Gott! Hülfe! ist denn Niemand da! Hierher!

Oswald und Bruno, die einen Augenblick athemlos gelauscht hatten, eilten jetzt im vollen Lauf der Stelle zu, von wo der Hülferuf ertönte. Sie kamen auf einen Platz, hart am Rande des Waldes, wo Holz gefällt wurde, und zwischen den einzelnen noch stehenden Bäumen hier und da Klafter aufgeschichtet waren. Neben einem halb beladenen, mit vier Pferden bespannten Wagen lag ein Mann auf der Erde, mit Händen und Füßen um sich schlagend, ein anderer hatte sich über ihn gebeugt, ihn mißhandelnd oder beschwichtigend – man konnte es nicht unterscheiden. Als die Beiden herankamen, erhob sich dieser Letztere – es war der Inspector Wrampe – und schrie ihnen entgegen: Schnell, Herr Doctor, um Gotteswillen! Der Kerl stirbt mir unter den Händen.

In der That, das Aussehen des Mannes auf der Erde war entsetzlich genug. Das Gesicht verzerrt, die Augen verdreht, daß man nur das Weiße sah, Schaum vor dem Munde, die Fäuste geballt, der Körper in Krämpfen zuckend – kaum, daß[156] Oswald den riesigen Knecht wieder erkannte, der damals durch seine Grausamkeit gegen seine Pferde den Zorn Bruno's herausgefordert hatte.

Oswald war an der Seite des Menschen niedergekniet, er wischte ihm den Schaum vom Munde, er band ihm die steife Binde ab, er suchte ihm eine bessere Lage zu verschaffen.

Haben Sie nichts ihm unter den Kopf zu legen? rief er dem Inspector zu, dessen rohes, bärtiges Gesicht die hülflose Angst unaussprechlich albern machte.

Unter den Kopf? unter den Kopf? hier! und dabei zog er seinen Rock aus und stopfte ihn als Kissen unter den Kopf des Mannes.

Ist kein Wasser in der Nähe? rief Oswald weiter.

Wasser in der Nähe? Nein – aber in dem Rock steckt eine Flasche – da – das mag auch wohl helfen – Herr Jesus. – –

Oswald wusch mit dem Branntwein die Stirn des Kranken, der allmälig etwas ruhiger wurde.

Wie ist denn dies gekommen? fragte er.

Ja, ich weiß es nicht, rief der Inspector mit kläglicher Stimme. Ich komme hierher geritten, weil der Kerl mir zu lange im Holz trödelt, um ihm ein bischen den Marsch zu machen. Da sitzt er bei seinem Wagen auf dem Baumstamm und regt sich nicht. Was hast Du hier zu sitzen? fragte ich. Warum soll ich hier nicht sitzen? sagte er. Bist Du wieder besoffen, Jochen? sagte ich, denn ich sah, daß er ganz wäss'rige Augen hatte und seine Schnapsflasche leer neben ihm lag. Selber besoffen, sagte er. Du bist ein ganz infamer Schlingel, sagte ich. Selber Schlingel, sagte er. Na, Herr Doctor, so was kann man sich doch nicht gefallen lassen. So ich runter vom Pferde und meinem Kerl ein paar aufgezählt. Er in der größten Wuth auf mich los – mit einem Mal fällt er, wie ein Ochs, auf die Erde – und fängt an – ach, Herr Jesus, da geht es wieder los. So was hab' ich mein Lebtag nicht gesehen.

Der Knecht bekam wieder einen Krampfanfall; Oswald[157] selbst befürchtete das Schlimmste. Schnell, schnell, rief er, das Holz vom Wagen herunter, wir müssen ihn langsam nach Hause fahren. Unterdessen reitet einer nach dem Arzt.

Ja, ja, ich will nach dem Doctor reiten, rief der Inspector, froh, fortzukommen, und schon mit einem Fuß im Bügel.

Hier geblieben, herrschte ihn Oswald an; wie kann ich ohne Sie den Mann fortschaffen? Schämen Sie sich nicht, Herr Wrampe, daß Sie ein solcher Hasenfuß sind? Nehmen Sie sich ein Beispiel an Bruno.

Bruno hatte Oswald nach Kräften unterstützt, jetzt stand er auf dem Wagen und warf mit vollen Armen das schon aufgeladene Holz herab. Ich will zu dem Doctor reiten, Oswald! rief er herabspringend.

Es wird wohl das Beste sein, Bruno, sagte dieser. Du kennst den Weg und ich kann hier nicht fort. Schnallen Sie ihm die Bügel kürzer, Herr Inspector.

Gleich, gleich, sagte dieser, aber schon hatte Bruno es selbst gethan; mit einem Satze, ohne den Bügel zu berühren, saß er im Sattel und hatte die Zügel ergriffen. Das feurige Thier, die ungewohnte leichte Last fühlend, bäumte sich.

Es wird Sie abwerfen, Junker! sagte der Inspector.

Keine Furcht, rief der Knabe! Ihre Peitsche her! Hopp, allez! und damit hieb er das Pferd über den Hals und sprengte im Galopp davon. Oswald sah nur noch, wie er, am Rande des Waldes angekommen, über den breiten Graben setzte auf den Weg, von dem Weg über den andern Graben auf eine Wiese, um, über diese weggaloppirend, schneller die Landstraße zu gewinnen, die nach Faschwitz und von dort weiter nach dem Städtchen führte, in welchem der Doctor wohnte.[158]

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 154-159.
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