Vierundzwanzigstes Kapitel

[223] Klotildens Verzweiflung war minder groß, aber ihr war doch übel genug zu Mute, während sie in der Ecke ihres Wagens saß, sich gegen den Zug, der durch die Ritzen ging, möglichst dicht in ihren Pelzmantel hüllend. Sie hatte, als sie kam, nicht die Absicht gehabt, mit ihm zu brechen; nun mochte es sein. Daß dies ein Bruch war, ein vollständiger, darüber konnte man sich doch nicht täuschen. Und Gott sei Dank, daß er es war! Die Sache hatte ja schon angefangen, lächerlich zu werden. Und das eben war doch der Gipfel der Lächerlichkeit: über dies Souper in der häßlichen Spelunke mit dem komischen Kellner ging es nicht. Und der Mensch hatte offenbar den Humor von der Situation gehabt: sie hatte deutlich sein Grinsen gesehen, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Mein Himmel, in welche kuriose Lagen gerät man, wenn man sich mal ein bißchen amüsieren will! Weiter hatte es doch keinen Zweck gehabt. Und wäre es noch amüsant gewesen! Aber dies Laufen nach seinen überschwenglichen Briefen! dies Warten an dem Schalter, während der Beamte in dem Haufen herumsucht und einem endlich den Brief hinreicht mit einem Blick, als wolle er[223] sagen: Meine Gnädige, lassen Sie das! Es führt zu nichts Gutem. Glauben Sie mir: ich spreche aus alter Erfahrung! – Der Mann hat ja so recht: zu nichts Gutem; aber möglicherweise zu was ganz Schlimmen. Viktor steht auf dem Punkt, mir den Stuhl vor die Thür zu setzen. Kann's ihm auch nicht verdenken: keiner ließe sich das gefallen. Ich muß mich nur wundern, daß er mit seiner Empfindlichkeit es so lange ausgehalten hat. Aber ich werde heute abend Frieden mit ihm machen. Es wird nicht so schwer sein: ein großes Donnern und Blitzen seinerseits; ein paar Thränchen meinerseits – und das Gewitter ist passé. Er kommt von solchen Abenden, so wie so, immer etwas angeheitert nach Hause. Allerdings muß er mich dann da finden, wo er mich diese acht Tage hoffentlich schmerzlich vermißt hat.

Sie sah bei dem Schein einer vorübergleitenden Laterne nach der Uhr und erschrak aufs heftigste: beinahe elf! sie hatte gemeint, es könne noch nicht zehn sein. Viktor pflegte von seiner Corpskneipe freilich immer sehr spät heimzukehren. In seiner jetzigen Stimmung, wer konnte wissen, ob ihm die Kneiperei Spaß machte, ihn nicht die Sehnsucht nach Hause trieb, oder – mein Gott! – am Ende gar ein unbestimmter Verdacht! Der nun bestätigt wurde, wenn er kam und fand sie nicht!

Sie wollte dem Kutscher zurufen, er solle schneller fahren, doch das verquollene Fenster ließ sich so bald nicht öffnen; erst nach unsäglicher Mühe kam sie damit zu stande. Sie rief es dem Kutscher hinaus, der etwas antwortete, wovon sie nur das Wort »Glatteis« verstand. Und auch das nicht verstanden haben würde, hätte sie[224] nicht bereits seit einiger Zeit bemerkt, daß der Wagen auf bedenkliche Weise hin- und herrutschte. Als Landkind wußte sie wohl, was eine solche Kalamität zu bedeuten hat, besonders auf chaussierten Wegen, und wenn noch gar das Pferd schlecht beschlagen ist. Was hier entschieden der Fall war: mehrere andere Wagen hatten sie überholt, die jetzt wo möglich schon in der Stadt waren, während sie eben erst den Großen Stern passierten. Freilich, wenn der Mensch jetzt sogar auf längere Strecken Schritt fuhr! Sie wollte anhalten lassen, aussteigen und einen vorüberkommenden Pferdebahnwagen anrufen. Aber es würde jetzt um halb zwölf Uhr keiner mehr kommen, oder sie die Haltestelle nicht finden und so hier in der rabenschwarzen Nacht auf der einsamen Chaussee umherlaufen, jedem Strolch, der des Weges kam, schutzlos ausgeliefert. Sie wußte sich nicht zu raten, zu helfen, und vor Frost und Angst an allen Gliedern bebend, brach sie in krampfhaftes Weinen aus.

Endlich war die Kleine-Stern-Allee erreicht und der Kutscher bog wenigstens in diese ein, nachdem er die Korsoallee überschlagen und so einen Umweg von mindestens einer dreiviertel Stunde gemacht hatte, jedenfalls nicht, weil es sich, wie er behauptete, auf der Charlottenburger Chaussee doch noch immer besser fuhr, sondern um eine möglichst lange Zeit gefahren zu sein.

Klotilde hatte längst den Kampf aufgegeben; in der Stumpfheit der Seele, die sie befallen, ließ sie sich die Allee, die Tiergartenstraße hinauf und weiter die endlosen Straßen schleppen, bis der Wagen mit einem jähen Ruck vor ihrer Wohnung hielt und der Kutscher, den Schlag aufreißend, mit heiserer Stimme sagte: er[225] könne die Nummer nicht erkennen; aber es werde schon richtig sein.

Sie zahlte dem Mann seine ganz unverschämte Forderung und gab ihm eine Mark dazu, – hatte sie die Hoffnung, überhaupt noch anzukommen, doch schon beinahe aufgegeben! Der Kutscher, der plötzlich sehr gemütlich geworden war, schloß ihr sogar die Hausthür auf, da sie mit ihren ungeübten, völlig erstarrten Fingern nicht damit zustande kommen konnte.

Die Treppe war dunkel – jedenfalls eine Chikane des Dieners, der mit de Kammerjungfer gemeinschaftliche Sache machte. Sie standen jetzt auf Viktors Seite. Wenn sie sich heute abend mit Viktor ausgesöhnt, würde morgen früh den beiden gekündigt.

Sie hatte ihren Flur erreicht; durch die schmalen Fenster der Flurthür kam der Schein eines Lichtes, das sich bewegte. Man hatte wohl ihren Schritt auf der Treppe gehört und wollte die Unbotmäßigkeit wieder gutmachen. Es würde ihnen nichts helfen.

Die Thür wurde von innen geöffnet. Klotilde prallte zurück: vor ihr, mit einer Lampe in der Hand, stand Viktor.

Bitte doch, einzutreten! sagte er, die Lampe auf eine Konsole an der Wand stellend.

Sein Überzieher hing neben seinem Hut auf dem Regal neben der Konsole; augenscheinlich war er bereits längere Zeit zu Hause.

Sie standen jetzt auf dem Korridor einander gegenüber im Licht der Lampe, das scharf auf die bleichen, hier in Schreck, dort in Zorn verzerrten Gesichter fiel.[226]

Ich habe Dich bereits seit einer Stunde erwartet, sagte Viktor, mit einer rauhen Stimme, die offenbar ruhig gelassen klingen sollte; aber freilich nicht bedacht, daß der Weg von Charlottenburg etwas weit und heute nacht vermutlich nicht besonders ist. Dieser Herr hier, der denselben Weg machen mußte, hat Dich um eine volle Stunde überholt. Kommen Sie doch mal heran, Herr Krüger! Wir haben hier keine Geheimnisse voreinander.

Aus dem Schatten des großen, prächtigen Schrankes, den sie von dem elterlichen Gute mitgebracht hatte, trat ein kleiner, bleicher Mann – der Mann, der in dem National-Museum hinter ihnen die Treppe hinabgestiegen war, und den sie seitdem nun schon so oft hinter sich, neben sich, immer in unheimlicher Nähe bemerkt hatte.

Dies ist die Dame, die Sie um neun Uhr am Arm des Ihnen bekannten Herrn in das Restaurant haben treten sehen?

Jawohl, Herr Assessor.

Und die mit ihm in dem cabinet séparé verschwand?

Jawohl, Herr Assessor.

Und mit ihm dann eine Unterredung hatte, die Sie Wort für Wort von dem nächsten Kabinett aus gehört haben?

Jawohl, Herr Assessor.

Es ist gut. Sie können hinausgehen. Erwarten Sie mich auf dem Treppenabsatz!

Herr Krüger hatte die Flurthür hinter sich zugemacht.

Nur noch ein paar Worte, sagte Viktor, während er sich den Überzieher anzog und den Hut herabnahm: Ich kann die Frau, die unglücklicherweise die Mutter[227] meiner Kinder ist, nicht um zwölf Uhr nachts auf die Straße werfen, wohin sie gehört. Aber noch eine Nacht unter demselben Dache mit ihr zu verbringen, verbietet sich von selbst. Ich räume Dir also das Feld. Morgen vormittag um zehn werde ich wieder hier sein; wir werden dann das weitere miteinander besprechen. Gute Nacht! – Friedrich!

Die nur angelehnte Thür zum Speisezimmer wurde schnell aufgemacht und der junge Diener trat heraus, ein Licht in der Hand.

Leuchte uns hinab! sagte Viktor; Du kannst dann zu Bett gehen.

Er war mit Friedrich aus der Flurthür; Klotilde hörte die drei die Treppe hinabsteigen. Sie stand noch auf derselben Stelle, unbeweglich. Nur einmal hatte sie die Regung gehabt, Viktor zu Füßen zu fallen: seine vornehme Ruhe hatte ihr so imponiert. Es wäre dann alles gut geworden – ganz gewiß! Aber in Gegenwart jenes gräßlichen, bleichen, kleinen Menschen, und nun gar Friedrichs – unmöglich! Und nun war alles aus!

Hätte es doch noch einen Sinn, murmelte sie. Um eine solche Geschichte! eine so alberne Geschichte!

Sie wollte in Lachen ausbrechen; aber aus ihrer Kehle kamen nur ein paar rauhe, häßliche Töne, vor denen sie erschrak.

Von der Konsole nahm sie die Lampe und ging in ihr improvisiertes Schlafzimmer, dessen Thür sie hinter sich verschloß.[228]

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Zum Zeitvertreib. Leipzig 1897, S. 223-229.
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