Gethsemane

[174] Um die Stunde war's,

Da die heilige Stille der Mitternacht

Auftaucht vom Meer und segnend über Welten fährt.

Jäh durch die Palmen schritt das Todesgrauen,

Urweltenweh[174]

Rang auf zum Firmament.

Schwer hing der Himmel –

Nacht ... Tod ... In tiefem Schlaf die Jünger ...

Und wilde, brennendwilde Einsamkeit ...

Aufschluchzend schlägt er auf die Wurzelknorren,

Weint in die Nacht,

Die lächelnd über's Haupt die Schleier hebt.

Ein sengend Leuchten durch die Dämmernebel:

Die Sonne.


Von Glockenstühlen sprang sie rot in graue Türme,

Fiel stäubend in die Kuppeln, flutete

In wildem Quellen durch die schlanken Stämme,

Wegspuren zeichnend roten Flammengoldes.

Vom Boden weg

Sah Christus – blickte

Mit fremden Augen in die schäumende Morgenglut,

Und wie ein Wecken klang's ihm durch die Brust,

Das uralt junge Schöpferlied des Lichts:

Posaunen trugen ehern es empor

Und alle Geigen fielen flimmernd ein

In brausenden Bogenstrichen,

Vögel jauchzten,

Und Morgenglocken wehten von den Türmen

Jerusalems herauf, einrauschend in

Die breiten Takte, die

Im Werdelied des Tags die Welt durchfurchten.

Nieder fiel Christus, starrte

Hinunter auf die rote Stadt, die

In tausend Türmen tausend Fackeln fachte,

Und zur Sonne auf,[175]

Zur ewig göttlichen jauchzte sein Mund:

»O sterben, sterben, Gott! ... In Meere will

Ich tauchen purpurüberrauscht,

In Licht zerfließen, ganz in Duft mich lösen,

Als Welle wehen in des Weltalls Strom.

Denn nun

Ward mir der Welten letzter, tiefster Sinn.

Aus deiner Sonne Morgenaugen las ich ihn. –


O sterben, sterben, Gott! ... Doch wie

Der Schiffer, dem

Die Brandung in des Nachens Rippen brach,

Flutenumdröhnt

Der Zukunft goldverbrämtes Eiland grüßt:

So grüß ich euch, Schlummernde, Ungeborne –

Aus harter Nacht ein junges Sonnenvolk.

Denn also lehrte mich dein Schöpfertag:

Glut quillt aus Asche, Leben sprüht aus Tod,

Aus tiefsten Nächten dämmern neue Morgenröten.«


Und gehobnen Blicks

Schritt seinen Häschern er durchs Licht entgegen.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 2, Hamburg o.J. [1954], S. 174-176.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Verstreute Gedichte aus den Jahren 1902 bis 1904
Verstreute Gedichte aus den Jahren 1902 bis 1904

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Rameaus Neffe

Rameaus Neffe

In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon