Linda

[202] Du griffst nach Glück.

Es schmolz wie Flocken Schnees,

die du in aufgehobnen Händen eingefangen.

Frost fiel auf dich. Du hast Decken

über dein rot strömendes Herz gehangen.

Traumstarre kam und füllte alle Mulden deiner Seele

wie Gewässer aus entsperrten Wehren –

Nun fühlst du Wüsten um dich wachsen,

die dein wehes Blut verzehren.

Nun siehst du dich, mit nachtgebundnen Augen,

wie im Schlaf, durch tote Gassen schreiten

Und Schicksal, spukhaft nah und unerreichbar,

dir vorübergleiten.

Wach auf! Gespenster suchen dich!

Sieh: über dir wölbt sich südlicher Mittagshimmel,

buntgefleckt, goldtief und klar!

Sieh: der Meerwind deiner Kindheit weht immer noch

über dein aufgelockertes schwarzes Haar!

Sieh: deine schlaf betäubten Augen sind

ganz getränkt und vollgesogen

Mit Glück der Welt, das sie in frühen Klostertagen

dürstend auf sich hergezogen.

Und jeder Hauch,

der dein erwachend Blut dereinst bewegt,

Ward nun zum festen Pulsschlag,

der dein Wesen nährt und trägt.

Tanz bäumt sich in deinen Gliedern

und wartet, aufgereckt,

Daß deines Herzens Cymbelschlagen

seine Lust erweckt.[203]

Deines Lebens Stimme steigt,

morgendlich überschwellend wie Lerchenschlag,

Über das Frühlingsland,

das lauter und jung erglänzt wie am ersten Tag.

Vor deiner Schwelle wartet alles Wunder

und will zu dir herein –

Schüttle die Nacht von dir!

Sei du! Und du wirst stark und selig sein.[204]

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 1, Hamburg o.J. [1954].
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