41. In Frankreich

[132] Ich suche mich von jeglichem Vorurteil frei zu machen und nichts als kalter Philosoph zu sein.[132]

In Frankreich sind die Frauen durch die Erziehung der liebenswürdigen Franzosen, die nur Eitelkeit und sinnliches Begehren kennen, weniger tatkräftig, weniger energisch, weniger gefürchtet und besonders weniger geliebt als die Frauen Spaniens und Italiens.

Die Macht einer Frau steht im unmittelbaren Verhältnis zu dem Unglück, das sie über ihren Geliebten zu bringen vermag. Wenn jedoch allein die Eitelkeit entscheidet, so ist eine Frau höchstens nützlich, niemals notwendig. Das Schmeichelhafte des Erfolgs aber liegt im Erringen, nicht im Besitzen. Für lediglich sinnliche Bedürfnisse gibt es Dirnen, und nicht ohne Grund sind die Dirnen Frankreichs reizend, die Spaniens höchst übel. In Frankreich können Dirnen den meisten Männern ebensoviel Glück gewähren als ehrbare Frauen, das heißt Glück ohne Liebe, und etwas schätzt ein Franzose immer höher als seine Geliebte: seine Eitelkeit.

Ein junger Pariser sieht in der Geliebten eine Art Sklavin, die vor allem den Zweck hat, ihm die Freuden der Eitelkeit zu gewähren. Wenn sie den Geboten dieser maßgebenden Leidenschaft nicht mehr entspricht, verläßt er sie und ist obendrein noch sehr zufrieden mit sich selbst, wenn er seinen Freunden erzählen kann, auf welche überlegene Weise und unter welchen pikanten Umständen er sich ihrer entledigt hat.

Ein Franzose (Meilhan), der sein Land sehr gut kennt, sagt: »In Frankreich sind große Leidenschaften ebenso selten, wie große Männer.«

Es fehlt der französischen Sprache an Wörtern, um auszudrücken, wie durchaus unmöglich für einen Franzofen die Rolle eines verlassenen Liebhabers ist, dessen Schicksal und Verzweiflung die ganze Stadt kennt und[133] teilnehmend verfolgt. In Venedig und Bologna ist das nichts Ungewöhnliches.

Wenn man in Paris Liebe finden will, so muß man zu den Klassen niedersteigen, wo die Energie durch den Mangel an Erziehung und Eitelkeit und den Kampf um die wirklichen Bedürfnisse des Lebens noch nicht so gebrochen ist.

Eine große ungestillte Sehnsucht verraten heißt eine Niederlage eingestehen, ein Bekenntnis, das in Frankreich ganz unmöglich wäre und nur unter ganz gewöhnlichen Leuten vorkommt; man würde sich dadurch allerlei schlechten Witzen aussetzen. Daher das übertriebene Lob der Dirnen im Munde der französischen Jugend, die sich vor ihrem eigenen Herzen fürchtet. Die maßlose, plumpe Angst, sich unter seiner Würde zu zeigen, ist das leitende Element der Unterhaltung der Provinzler. Es ist historisch, daß einer, der die Ermordung des Herzogs von Berry als Neuigkeit hörte, die Antwort gegeben hat: »Das wußte ich schon,« – nur aus Furcht, dem, der etwas Neues erzählt, eben dadurch nachzustehen.

Im Mittelalter stählte die Gegenwart der Gefahr die Herzen. Wenn ich mich nicht irre, liegt hierin ein Grund für die erstaunliche Überlegenheit der Männer des Cinquecento. Die Originalität, bei uns selten, lächerlich, gefahrvoll und häufig unnatürlich, war damals alltäglich und ungeschminkt. Länder, wo die Gefahr noch heute mit eiserner Hand droht, wie Korsika,38 Spanien und Italien, bringen immer noch große Männer hervor. In diesen Himmelsstrichen, wo die Glut der Sonne während dreier Monate im Jahre die Galle reizt, fehlt es meist nur an der Verwendung der Spannkraft, in Paris fehlt diese Spannkraft selbst.[134]

Viele unserer jungen Leute, die sonst in Montmirail und im Bois de Boulogne so unternehmungslustig sind, fürchten sich vor der Liebe, und aus richtiger Verzagtheit meiden sie den Anblick eines jungen Mädchens, das sie hübsch finden. Wenn sie daran denken, was in Romanen als Pflicht eines Liebenden bezeichnet wird, sind sie starr. Diese kalten Seelen verstehen nicht, daß der Sturm der Leidenschaft, der die Wogen im Meer aufjagt, auch die Segel des Schiffes schwellt und ihnen die Kraft verleiht, den Sturm zu besiegen.

Die Liebe ist eine köstliche Blume, aber man muß den Mut haben, sie am grausigen Rand eines Abgrundes zu pflücken. Außer der Lächerlichkeit sieht die Liebe immer das Schrecknis, von der Geliebten verlassen zu werden. Dann bleibt für das ganze Leben nichts übrig als ein dead blank.

Die Vollkommenheit der Kultur bestünde darin, die feinen Genüsse des neunzehnten Jahrhunderts mit häufigeren Gefahren zu vereinen. Die Genüsse des Privatlebens müßten sich ins Unendliche steigern, je häufiger man sich der Gefahr aussetzte. Ich denke dabei nicht nur an kriegerische Gefahren. Ich wünsche solche Gefahren zu jedem Zeitpunkt, in jeder Form, für alle Lebenskreise; sie müßten den Inhalt des Lebens ausmachen wie im Mittelalter. Der Gefahr, wie sie von unserer Kultur präpariert und zugestutzt wird, ist auch der langweiligste und schwächste Charakter gewachsen.

Ich finde in O'Mearas Buch A voice from Saint-Helena (II, 94) die Worte eines großen Mannes:

»Murat erhält den Befehl: Gehen Sie zur Vernichtung der sieben oder acht feindlichen Regimenter vor, die dort unten in der Ebene am Kirchdorf stehen! Im[135] Augenblick war er wie ein Blitz auf und davon, und so wenig Kavallerie er auch führte, die feindlichen Regimenter waren bald zersprengt, vernichtet und verschwunden. Überläßt man diesen Mann aber sich selbst, so hat man einen Schwachkopf ohne Urteil. Es ist mir unbegreiflich, wie ein so tapferer Mann so feig sein kann. Nur vor dem Feinde war er tapfer, dort aber gewiß der glänzendste und mutigste Soldat von ganz Europa.

Er war auf dem Schlachtfelde ein Held, ein Saladin, ein Richard Löwenherz. Machte man ihn zum König oder setzte man ihn in einen Ministerrat, so war er nichts als ein Feigling ohne Willen und Urteil. Murat und Ney sind die tapfersten Männer, die ich gekannt habe.«

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 132-136.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Über die Liebe
Über die Liebe: Essay
Über die Liebe, Jubiläumsausgabe
Über die Liebe (insel taschenbuch)
Über die Liebe
Über die Liebe