[19] 1.
Wer will/ kan ein gekröntes Buch
von schwarzen Krieges-zeilen schreiben:
Ich will auff Venus Angesuch
ihr süsses Liebes-handwerk treiben:
Ich brenne. Wer nicht brennen kan/
fang' ein berühmter Wesen an.
2.
Ich sehe vor mir Blut und Staub/
und tausent Mann gewaffnet liegen/
ich sehe/ wie auff Sieg und Raub
so viel vergöldte Fahnen fliegen:
doch brenn' ich. Wer nicht brennen kan/
fang' ein berühmter Wesen an.
3.
Ich höre der Trommpeten Schall/
der Paukken Lerm/ den klang der Waffen/
der schrekkenden Kartaunen knall/
der Büchsen und Musketen paffen
und brenne. Wer nicht brennen kan/
fang' ein berühmter Wesen an.
4.
Ich hätte die Gelegenheit
ein neues Ilium zumelden:
Es gibt mir Anlaß mancher Streit
so vieler ritterlichen Helden:
Doch brenn' ich. Wer nicht brennen kan/
fang' ein berühmter Wesen an.
[20]
5.
Ich spür' auch hier Ulyssens Wizz/
mich reizen Hektors tapfre Tahten:
Was hilffts? mich läst die Liebes-hizz'
auff andre Künste nicht gerahten.
Ich brenne. Wer nicht brennen kan/
fang' ein berühmter Wesen an.
6.
Was mein beflammtes Herze hegt/
zieht meinen Geist von seiner Erden:
hätt' Amors Gluht mich nicht geregt/
wie würd' ich je beschrieen werden?
Nun brenn' ich. Wer nicht brennen kan/
fang' ein berühmter Wesen an.
7.
Was mir die Venus predigt ein
samt ihrem lieblichem Empusen/
mag meines Nahmens Lorber sein:
Sonst brauch' ich keiner andern Musen.
Ich brenne. Wer nicht brennen kan/
fang' ein berühmter Wesen an.
8.
Was frag' ich nach der Alten Neid/
was nach dem stumpfen Tadler-besen!
Es ist genug/ wenn nach der Zeit
mich liebe Jungfern werden lesen.
Ich brenne. Wer nicht brennen kan/
fang' ein berühmter Wesen an.
9.
Ich weiß/ wenn ich verweset bin/
wird mich das junge Volk betrauren/[21]
und sagen: Ach/ daß der ist hin
den Venus ewig hiesse dauren!
Wer aber nimmer brennen kan/
wird keine Venus fangen an.
Buchempfehlung
Karls gealterte Jugendfreundin Helene, die zwischenzeitlich steinreich verwitwet ist, schreibt ihm vom Tod des gemeinsamen Jugendfreundes Velten. Sie treffen sich und erinnern sich - auf auf Veltens Sterbebett sitzend - lange vergangener Tage.
150 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro