6. Gedenk wie du es hast getrieben

[112] 1.

Gleich als du hättest still gesessen/

als dir annoch das junge Bluht

in deinem frischem Herzen wallte:

so schreib' und sing' ich dir nicht gut.

Seht/ Kinder/ wie der Alte/ Kalte

die Heiligkeit nu hat gefressen!


2.

Wie kunnt' er doch in seiner Jugend

den jungen Mägdchen schleichen nach!

wie wüst' er sie so schön zu grüssen!

wie hielt' er gern mit ihnen Sprach'

und kunnte weidlich sie zerküssen!

iezt ist er keusch und lehret Tugend.
[112]

3.

ör/ Alter/ denk auff deine Zeiten/

und denk/ daß ich in diesen bin.

Ich werde mich auch ernstlich halten/

wenn einst mein runzel-striemig Kinn

in grauen Borsten wird veralten:

denn wil ich auch auff Erbar streiten.


4.

Wer weiß/ was unter deinen Haaren/

dem alten Schnee/ verborgen ist?

die Alten sein auch offters Gekken/

doch wissen sie mit Wizz und List

die Narren-Kappe zu verstekken.

Man hat der Tohrheit viel erfahren.


5.

Wir Jungen können nicht verschweigen/

wenn uns ein Glükk willkommen heist.

Straks müssens alle Leute wissen/

denn wird es an uns mißgepreist.

Wir folgen Alten auff den Füssen/

und man wil uns des Lasters zeugen.


Quelle:
Kaspar Stieler: Die geharnschte Venus, Stuttgart 1970, S. 112-113.
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