2. Das graue Schloß

[354] Es war ein Klingeln und Läuten und ein freudiges Brüllen und Meckern durcheinander, als am andern Tage die Morgensonne aufging, die Bergtäler rauchten und die Herde wieder zu den Triften hinanstieg. Aber der Hirt Gregor ging nicht mit, sondern er stand in steifem Sonntagsputze auf der Gasse und sonnte sich; nur der graue Hund in seinem ewigen Werktagswamse und der Hirtensohn auch in dem seinigen begleiteten die Herde – der eine freudig sein Halsband schüttelnd, der andere rüstig den Bündel Steigeisen und das Griesbeil schulternd, die einzigen zwei Wesen, welche heute arbeiten mußten; denn alles andere ging der Feier und Ruhe nach. Auch der alte Boten-Simon stand schon mit einem glänzenden Gesichte, von dem er den zollangen Wochenbart geschoren, und mit noch glänzenderer Jacke auf der Gasse da, und schaute herum, recht behaglich die Wonne des einzigen Ruhetages der Woche fühlend, an dem er sonst nirgends[354] hin mußte als in die Kirche, was er sehr gerne und immer mit vieler Salbung tat. Die Pfeife dampfte bereits, und auf dem Hute hatte er ein ganzes Gebüsche von Gebirgsfedern stecken, nebst dem riesenhaften Fächer eines Gemsbartes. Die warme Sonntagssonne stand bereits am Himmel und warf eine freudenreiche Strahlenmenge in das Tal. An den Bergen blitzte der Tau, und die Pernitz rollte lauter Gold und Silber durch die Felsen. In allen Häusern rührte und rüstete es sich sonntäglich, und die Waldhöhen standen in einem wahren Lauffeuer von Singen und Schreien der Vögel.

Oben im Stockwerke der grünen Fichtau öffnete sich ein Fenster, und das Antlitz des Wanderers blickte heraus, die Haare von der freundlichen Stirne zurückstreifend und die Augen nach Himmel und Wetter richtend. Beides ward genügend befunden, und er wollte eben wieder zurücktreten, als auch Vater Erasmus aus dem Hause schritt, zunächst an seinem Leibe schon die schimmernde Sonntagswäsche und die Sonntagskleider tragend, darüber aber noch die Werktagsjacke geworfen, und die Alltagskappe auf.

»Guten Morgen, Simon,« rief er, »guten Morgen! Ein schöner Tag das – das sind Tage zur Flachsblüte.«

»Blüht bereits, wie ein blaues Meer, im Asang draußen«, sagte Simon.

»Ich habe ihm den handigen Fuchs in die Gabel zu spannen befohlen«, redete hierauf der Wirt durch die Türe des Gassengärtchens hinein; »denn er ist gelassener als der andere – aber ich sage dir, Anna, daß du dich nicht etwa verleiten lässest, wenn er dich einladet, mit ihm zu fahren; der Fabelhans würfe dich samt sich in einen Graben. Fahre mit mir, wer weiß, wie bald ohnehin einer kommt, der dich auf immer und ewig davonführt.«

Anna, die im Gärtchen Rosen und anderes zum Sonntagsputze schnitt, wurde in diesem Augenblicke unter[355] der Gartentür sichtbar, und die braunen Augen gegen den Vater hebend, sagte sie: »Ei, er wird mich nicht einladen, und der andere wird auch nicht kommen, lieber Vater.«

Sie war in ihrem Morgenkleide wieder gar so schön. Wenn sie auch öffentlich immer im Landesschnitte ging, so trug sie doch zu Hause Kleider nach eigener phantastischer Erfindung, und Vater Erasmus, einst ein Kenner weiblicher Schönheit, und nicht der letzte, der sie an seiner Tochter anerkannte, wurde nun vollends schalkhaft, indem er sagte: »Nun – nun, du Narre, er wird nicht ausbleiben, aber wenn er kommt – ein ganz auserlesener Bräutigam muß es sein, sonst lasse ich dich nicht von hinnen – ein ganz ungeheurer Prinz von einem Bräutigame muß es sein.«

»Wenn ich aber nicht gerne, nicht recht gerne fortgehe,« erwiderte sie treuherzig, – »nicht wahr, Vater, so soll mich keiner aus der schönen Fichtau fortbringen?«

Und wie sie hiebei so die bewußtlos schönen Augen gegen den Vater richtete, so rieselte es ihm, der ohnedies närrisch über sie war, wie von lächerlichem Stolze und von lächerlicher Freude durch die Glieder, und er platzte los: »Das soll er auch nicht – ja ich sage dir, wenn du nicht ein Glück machst, daß du ordentlich darnach zitterst, so darfst du nicht aus dem Hause – ein Glück mußt du machen, daß die ganze Fichtau die Hände zusammenschlägt.«

Über Annas Angesicht floß bei diesen Worten ein Purpur, so tief und schön, wie der der Rosen in ihrer Hand; zwei reine zentnerschwere Augenlider lagen tief herab gesenkt, und sie ging augenblicklich in den Garten zurück. Dort trat sie vor einen Fliederstrauch, schnitt aber nichts ab, sondern stand davor, und blickte ihn bloß an oben im Gemache stand einer, und drückte sich die Hand an seine Stirne – – nur die zwei arglosen alten Männer standen auf der Gasse, und plauderten fort.[356]

»Ihr habt da eine gottlose hoffärtige Rede getan, Erasmus«, sagte der Boten-Simon; »wenn Ihr Eurer Tochter ein so vermessenes Glück erzwingen wolltet, daß es über Menschlichkeit hinausgeht, so seht zu, daß Euch Gott nicht mit ihrem Unglücke strafe.«

»Nun es ist nicht so arg gemeint,« fiel ihm der Fichtauer Wirt in die Rede, »wenn es nur ein tüchtiger Mann ist, in so Haselant wie der Stadtschreiber, mit dem der Schmied prahlt, sondern ein franker Biedermann, der seine Geschäfte rasch weg tut, schön und jung und freundlich ist und die Anna ein wenig hätschelt, weil sie's gewohnt ist. Ein paar Pfennige muß er haben, und dann legt sie das Ihrige dazu; denn mein einziges Kind geht nicht leer aus der grünen Fichtau – und verdient sie es denn nichts? sagt, Simon, ist sie nicht ein Ding, daß es ordentlich eine Schande ist, daß ich ihr Vater bin? – Nur meinen Kopf hat sie nicht; sie geht zu viel auf Faselei und Zeugs – das hat sie von der Mutter.«

»Ja, ja,« sagte Simon, »sie ist absonderlich geworden; ich duze sie schon seit einem Jahre nicht mehr, aber ich glaube immer, Ihr habt sie vermessen über ihren Stand erzogen.«

»Das soll sie auch,« erwiderte der Wirt, »sie soll über ihren Stand, darum tat sie noch keinen Schritt in die Schenkstube, und darf in der Wirtschaft nichts anrühren – und damit ists gut. Ich muß jetzt zu dem Wagen schauen. Lebt wohl.«

»Der ist nunmehro auch ein Narr«, sagte der Boten-Simon, indem er dem Abtretenden nachsah, und seine Pfeife fortrauchte.

Es hatten sich mittlerweile mehrere jener Gebirgswagen auf der Gasse der grünen Fichtau eingefunden, in denen die wohlhabendere Klasse an Sonn- und Feiertagen zur Kirche zu fahren pflegt. Auch von Fußgängern hatte sich einiges hinzugesellt.[357]

Da die Gebirgsbewohner zerstreut mit ihren Gehöften in den Bergen sitzen, da die Gebirgskirchwege oft meilenlang sind, so hatte sich die Sitte gebildet, ein wenig bei der grünen Fichtau anzuhalten, um sich zu sehen, zu besprechen und etwa ein kleines zweites Frühstück zu halten.

So war es auch heute. Sowohl auf der Gasse als auch in der Stube waren Gespräche, und Boten-Simon war bald von mehreren Gruppen umstanden, wo er bald mit diesem, bald mit jenem ein weniges redete.

Das Zimmer des Naturforschers im oberen Stockwerke erglänzte indes freundlich von den Strahlen des Morgens, und sein Schimmer fiel auf die allerlei Stufen und Steine, die umherlagen und traurig funkelten, oder auf Kräuterleichen, deren dürre und spröde Gerippe die wohltuende Helle und Wärme nicht mehr empfanden, die durch die Fenster herein wallte, und die ihnen einst auf ihren freien Bergen so herrlich war; der Mann aber ging zwischen diesen Sachen auf und nieder, und sann nach.

Da war er vor wenig Wochen in ein schönes Tal voll grüner Pflanzen und freundlichen Gesteins gekommen auch ein schmuckes Mädchen hatte er gefunden – – und wie war denn nun alles? Die Tage waren so linde, so schmeichlerisch und so unschuldig über seinem Haupte weggegangen. Keiner brachte etwas Neues, in keinem ist etwas geworden – sie heischte nicht, sie forderte nicht, sie hoffte nicht – – und wenn er sie nun so stille, so sinnend, so brütend stehen sah: da war in ihm ein solches Übermaß von Neigung und Erbarmen, daß er sich nicht zu helfen wußte. Er hätte sich alle Adern öffnen lassen, wenn es nur ihr, nur ihr Linderung und Glück zu bringen vermocht hätte. Er wäre gerne an das Fenster getreten, um hinabzusehen, aber er getraute sich nicht; denn er fürchtete sich, daß sie noch immer am Flieder stehen und sinnen möchte.[358]

Nachdenklich blieb er vor seinen Pflanzen und Steinen stille stehen und dachte: ›O du süßes, unerforschtes Märchen der Natur, wie habe ich dich immer und so lange in Steinen und Blumen gesucht, und zuletzt in einem Menschenherzen gefunden! O du schönes, dunkles, unbewußtes Herz, wie will ich dich lieben! Und ihr Blüten dieses Herzens, ihr unschuldigen, beschämten, hülflosen Blicke, mit welcher Freude drück ich euch in meine Seele!‹

So dachte er oben; unten aber rief die Stimme des wieder auf die Gasse gekommenen Vaters: »Ei, da hast du ja einen gewaltigen Pack von Blumen und Kraut aus dem Garten geplündert, und trägst dich damit, wie unser Pflanzenmann, wenn er das Gras von unsern Bergen schleppt.«

Der Wanderer trat ans Fenster.

»Es ist nur, Vater,« sagte Anna, »weil ich Thrinen einen recht vollen Strauß mit in die Stadt bringen will, weil sie in dem großen, widerwärtigen steinernen Hause keine Blumen haben. Und wie man sie in einen Strauß ordnet, daß es schön sei, habe ich von unserm Gaste gelernt, der mehr von Blumen versteht, als wir alle zusammen im ganzen Fichtauer Tale. Es ist auch ein wunderbares Leben in ihnen, hat er gesagt, und ich glaube es – und gewiß haben sie noch recht liebe, kleine Seelen dazu. Er weiß schon, warum er sich so mit ihnen abgibt.«

»Ja, ja, ja, ja, Leben und Seelen und Katzen,« erwiderte der Wirt, »sieh nur zu, daß du einmal mit deinem Kirchenanzuge fertig wirst; pünktlich nach einer halben Stunde wird abgefahren.«

Anna ging ins Haus, und nur dem feinen Ohre Heinrichs war ihr leichter Tritt auf der Treppe vernehmlich, wie sie die Blumen auf ihr Zimmer trug.

Nach einer halben Stunde waren wirklich, wie vorausgesagt, die schlanken glänzenden Füchse des Fichtauer Wirtes jeder an seinen Wagen gespannt, aber auch die Weiber,[359] wie voraus zu sehen, nicht fertig. Erasmus ging in einem feinen, fast städtischen Sonntagsrocke unruhig hin und her. Boten-Simon hatte nach einem riesenlangen Stocke gegriffen, um seine Kirchenwanderung zu beginnen; denn der Schecke mußte an Sonntagen die herkömmliche Ruhe haben. Auch andere Wagen warteten noch ein wenig, um sich dem Zuge anzuschließen. Der Schmied saß im lächerlichen Putze da, und hatte eine flammend rote Decke auf den Wagensitz gebreitet und auf das Geschirre des Pferdes gesteckt, um den Stadtschreiber würdig zu empfangen. Auch der Wandererstand schon in seinem schönen Gewande da, daß er ordentlich, wie der vernünftigste Mensch aussah – – siehe, da erschien endlich auch Anna und die Mutter auf der Gartentreppe herabschreitend.

Die Mutter, eine sehr schöne Frau mittlerer Jahre, mit Gesichtszügen, deren Ausdruck weit über ihrem Stande zu sein schien, war in dem gewöhnlichen Sonntagsanzuge der wohlhabenden Gebirgsbewohner, obwohl alles an ihr von besserem Stoffe und feinerem Schnitte war; denn Erasmus liebte es, die Früchte seiner guten Wirtschaft an den Seinigen zu zeigen. Anna war gekleidet wie die Mädchen des Tales, aber wie man sie so über die Gasse sittsam dem Wagen zuschreiten sah, so hätte man geschworen, sie sei aus einem ganz anderen Lande, und trage einen Anzug, den sie sich erfunden, weil sie in demselben am schönsten sei. Ohnedies sind die Fichtauer Trachten die malerischsten im ganzen Gebirge. Da sie an Heinrich vorüberkam, überzog ein feines tiefes Rot ihre Wangen, und ihres Versprechens eingedenk richtete sie ihre schönen Augen voll treuherziger Liebe auf ihn, so daß jeder, nur ihr Vater nicht, hatte erkennen müssen, was hier walte, wenn sie überhaupt Augen dafür gehabt hätten.

Der Naturforscher nötigte aus Gutherzigkeit den Boten-Simon[360] zu sich auf den Wagen, welcher aber nur sehr zögernd und mißtrauisch folgte und sichtbar mit dem Plane umging, sich der Zügel zu bemächtigen, sobald sich irgend etwas Verdächtiges ereigne – aber zum Erstaunen des Wirtes und der andern fuhr der Wanderer vor ihren Augen so geschickt von der Gasse weg, und so rasch der Steinwand entlang, daß dem Vater Erasmus das Herz im Leibe lachte, wie er seinen Fuchs so taktsicher dahin tanzen sah, und daß er ordentlich eine Hochachtung für seinen Gast zu fassen begann. Zunächst folgte er selber mit Annen und der Mutter, dann der Schmied und dann die andern.

Als man den langen, schmalen, romantischen Gebirgsweg neben der Pernitz zurückgelegt hatte und eben um den letzten Hügelkamm der Fichtau herumbog, wo dem Reisenden plötzlich ein breites Tal und der schlanke spitze Turm von Priglitz entgegensteigt, fahr ein rascher Wagen an sie heran, in welchem der Stadtschreiber mit seiner jungen Gattin saß, um die Kirchfahrer zu bewillkommen.

»Sei gegrüßt, Heinrich,« hatte er gesagt, »du teuerster aller Vagabunden, sei gegrüßt!«

»Gott grüße dich, Robert,« antwortete der andere, »das ist ein köstliches Tal, diese Fichtau!«

»Habe ich es dir nicht gesagt,« entgegnete Robert, »habe ich es dir nicht gesagt, als du immer nicht kommen wolltest?«

Sie hatten sich aus den Wagen hinüber die Hände gereicht. Indessen war aber Thrine von ihrem Sitze hinabgesprungen und Anna auch von dem ihrigen, und sie herzten sich auf offener Straße, als wollten sie sich tot drücken. Thrine war in der Tat eine ›schneeweiße‹ Thrine; denn ihr Kleid trug ganz und gar untadelig diese Farbe, und das Frauenhäubchen um das junge schöne Angesicht war dem schneeigsten glänzendsten Mittagswölkchen des[361] Hochsommers vergleichbar. Sie drückte Annen von sich, sah sie an, und konnte sich nicht satt an ihr sehen, daß sie denn in so kurzer Zeit gar so schön geworden sei freilich konnte sie nicht ahnen, aus welch süßem, knospendem Boden diese Schönheit so schnell aufgesproßt war. Anna langte den mächtigen Blumenknäuel, den sie im ersten Schreck weggeworfen hatte, aus dem Wagen und drang ihn Thrinen auf. »Du mußt ihn zu Hause auflösen«, sagte sie; »denn die armen Stengel sind von den Fäden fast wund gedrückt, was ihnen sehr schadet; dann mußt du alles geordnet in deine Blumenbecher stellen.«

»Gott zum Gruße, Herr Schwiegervater«, hatte Robert dem Schmiede zugerufen; »nach dem Gottesdienste fahren wir alle zusammen in die lustige Fichtau.«

»Schön Dank, Herr Sohn, schön Dank«, entgegnete der Schmied, und indessen hatte sich wieder alles zur Weiterfahrt eingerichtet. Anna saß wieder bei Vater und Mutter, Thrine bei dem Gatten, und Heinrich fuhr bereits mit Boten-Simon so rasch den talführenden Weg gegen Priglitz ab, daß dessen Hutfedern flatterten und der Gemsbart sauste.

Man kam vor Roberts Hause an, wo immer die Wagen des Schmiedes und Wirtes warten mußten; man ordnete sich die Kleider, wechselte einige Worte und ging dann in die Kirche.

Nach dem Gottesdienste war, wie gewöhnlich, bei Robert ein Glas Wein. Thrine und Anna liefen durch alle Zimmer und verweilten hauptsächlich in der hintern Stube bei Thrinens kleinem Kinde. »Wie es gar so lieb und schön und unvernünftig ist«, sagte Anna, indem sie die kleinen unbewußten Züge des Kindes streichelte. Der Schmied saß indessen vorne in der Prunkstube im Ehrenstuhle, Annas Mutter bekam süßes Gebäcke, Erasmus machte beim Priglitzer Wirte droben ein Geschäft ab, und die Freunde Heinrich und Robert beredeten sich angelegentlich[362] einige Minuten in einer Fenstervertiefung, als ob sie einen Plan ins Reine brächten. Dann traten sie zu den andern. Vater Erasmus kam auch. Thrine hatte sich angekleidet, von dem Kinde Abschied genommen und nun fahr alles der grünen Fichtau zu.

Wir aber müssen hier von derselben scheiden, so gerne unsre Feder noch bei dem klaren, freien, heiteren Fichtauer Leben verweilen möchte. Allein der Zweck der vorliegenden Blätter führt uns aus dieser harmlosen Gegenwart, die wir mit Vorliebe beschrieben haben, einer dunklen schwermütigen Vergangenheit entgegen, die uns hie und da von einer zerrissenen Sage oder einem stummen Mauerstücke erzählet wird, denen wir es wieder nur eben so dunkel und mangelhaft nacherzählen können. Zu Ende versprechen wir wieder in die Gegenwart einzulenken, und so ein dämmerndes, düsteres Bild in einen heitern freundlichen Rahmen gestellt zur Ansicht zu bringen.

Heinrich hatte nämlich von Robert das Versprechen erhalten, daß er sich bemühen wolle, ihm den Eintritt in den verfallenden Rothenstein zu verschaffen, und daß er ihm den Erfolg seiner Bemühungen in einem Briefe mitteilen werde, der zugleich Ort und Zeit der Zusammenkunft feststelle.

Ehe wir sie nun auf den alten Berg und in das alte Schloß geleiten, ist es uns noch vergönnt, den letzten Rückblick in das Fichtauer Tal zu tun, und zu sagen, daß die Forellen des Vater Erasmus ganz vortrefflich waren, daß Thrine, Anna, Robert und der Wanderer beim Schmiede im Garten speisten, daß nach Tisch ein ergötzliches Scheibenschießen war, daß sich manche heitere und lustige Gäste in der grünen Fichtau vorfanden, daß Anna im Laufe des Abends einmal der schneeweißen Thrine ohne allen Grund um den Hals fiel, und endlich, daß die Stadtleute erst nach Hause fuhren, da schon alle Sterne am Himmel standen. Gleich darauf, da schon auch alle Lichter[363] der grünen Fichtau ausgelöscht waren, trat der Mond heimlich über den Berg herüber und schaute in den Garten, ob er wieder das süße, flüsternde, verstohlene Glück erblicke, wie gestern – allein es war nicht da; Gebüsch und Garten standen leer, und die ganze Nacht erblickte er nichts anderes als die glänzenden Lichttropfen der Gräser und das silberne Rieseln der Wasser.

Dem bewegten Sonntage folgte die arbeitsvolle Schleppe der Woche: Simon und der Schecke fuhren landaus, landein, die Sägemühle kreischte, die Schmiede tosete; Erasmus handierte und wirtschaftete, Anna ging hier und dort, oder stand und dichtete. Freilich hielt sie treu ihr Wort in Hinsicht des freundlichen Anschauens, aber auch in Hinsicht der Weigerung, je wieder mit Heinrich allein beisammen zu sein. Er sah sie nur von ferne, er sah sie gehen und kommen, oder ihr liebes Kleid sanft schimmern zwischen den Büschen des Gartens.

So verging die Zeit. Der Flachs blühte im Asang draußen immer blauer und blauer, die Tage wurden einer schöner als der andere, und so kam endlich auch wieder der Samstag, und mit ihm der Schecke, und Simon, und auch der Brief von Robert. Nachdem ihn der Wanderer gelesen, zahlte er an Vater Erasmus die Wochenrechnung, sagte, daß er heute nicht die Knechte aus den Gebirgen, die Jäger und andere Samstagsgäste der grünen Fichtau abwarten könne, sondern daß er noch heute nach Priglitz gehen und bei Robert übernachten wolle – etwa nach ein paar Tagen komme er wieder zurück; seine Sachen sollen indes auf seinem Zimmer verschlossen bleiben.

Und somit war dies unser letzter Blick in die Fichtau. Heinrich ging erst spät abends fort, und wie er der Steinwand entlang ging und um sie herumbog, so versank hinter ihm und auch hinter uns die ganze liebe grüne Fichtau mit allen ihren bereits angezündeten Lichtern, mit ihren fröhlichen Samstagsgästen und dem abendlichen Klingen[364] der Zithern. Nur die rauschende Pernitz ging mit ihm und erzählte und plauderte ihm in der Finsternis vor, bis sie beide hinauskamen in das breitere Tal und an die Mauern von Priglitz.

Des andern Tags war wieder ein Sonntag, der nächste seit jenem, wo wir die Gesellschaft auf ihrer Kirchenfahrt begleitet hatten; aber heute finden wir die zwei Freunde, Robert und Heinrich, allein, wie sie, ehe noch die Strahlen des ganz heitern Tages heiß zu werden begannen, den verhängnisvollen Berg zu dem Schlosse Rothenstein hinanstiegen. Den ebenen Weg hatten sie mit einem Wagen zurückgelegt. Am Fuße des Berges nahm sie eine Allee uralter, dichtbehaarter Fichten auf und leitete sie empor. Die laue Vormittagsluft seufzte schwermütig in den Zweigen, und je höher sie kamen, wurde es immer einsamer, und das sonntägliche Schweigen der Fluren wurde immer noch tiefer und noch schweigender. Endlich gelangten sie zu einer grauen, von dichten Fichtenzweigen gestreichelten, eisenglatten Mauer von ungewöhnlicher Höhe. Dem Fahrwege der Allee gegenüber stand der weiße Fleck des zugemauerten Tores, und darüber starrten mißstimmige Trümmer eines Wappens.

Robert duckte sich unter das zwischen den Fichtenstämmen wuchernde Haselgesträuch, ging etwas neben der Mauer fort, und dann drückte er gegen einen hervorstehenden eisernen Knopf, worauf im Innern eine grelle Glockenstimme antwortete. Allein nachdem die unaufhörlich wackelnden Töne des Metalles geendet hatten, war es wieder stille wie zuvor, nur daß sich in der beginnenden Tageswärme ein vielstimmiges Grillenzirpen auf dem Berge erhob.

Vergeblich rief Robert: »He, holla! ich bin es, der Syndikus, den du einzulassen versprochen.« Es erfolgte keine Antwort. Nur sah Heinrich, da er zufällig emporblickte, am Mauerrande ein Haupt: Gesicht und Haare so grau,[365] wie daneben die uralte Steinmetzarbeit, und die Augen starr auf die beiden Männer geheftet. Nach einer Weile verschwand es, und kurz dar auf hörte man ein seltsames Ächzen und Knarren in der Mauer, und zum Erstaunen des Wanderers schob sich ein Stück derselben gleichsam in einander, und es wurde die dunkle Mündung eines Pförtchens sichtbar, darinnen wie in einem Rahmen eine große Gestalt stand, dieselben steingrauen Gesichtszüge tragend, die Heinrich auf der Mauer gesehen hatte, nur ein Lächeln war jetzt auf ihnen, so seltsam, wie wenn im Spätherbste ein einsamer Lichtstrahl über Felsen gleitet. – »Geht nur gleich in den grünen Saal«, sagte die Gestalt.

»Sei gegrüßt, Ruprecht,« sagte Robert, »zeig uns den grünen Saal, und alles andere auch, wenn es dir genehm ist.«

Ohne alle Antwort wich der Mann zurück. Sie traten ein, und in demselben Augenblicke ging ein fürchterlicher, ein zärtlich gewaltiger Ton über ihren Häuptern durch die Luft.

»Es ist nur die Geige des Prokopus,« sagte der alte Mann, »schreitet herein, Erlaucht, in die Stadt des alten Geschlechtes.«

Bei diesen Worten verbeugte er sich gegen Stellen, wo niemand stand –; und dann richtete er den Mechanismus der Mauer. Es hob wie eine ablaufende Turmuhr zu schnarren an, schwenkte herum und schloß sich, so daß der Ort kaum zu erkennen war, durch den sie hereingekommen.

Die Freunde standen aber nun innerhalb der Mauer nicht etwa auf einem Schloßplatze oder dergleichen, sondern wieder im Freien, und vor ihnen stieg der Berg sachte weiter hinan, nur war seiner Senkung ein breites, weites, rätselhaftes Vieleck abgewonnen, auf dem sie sich eben befanden; es war mit Quadersteinen gepflastert, aber aus den Fugen trieb üppiges Gras hervor, und die heiße Sommersonne[366] schien darauf nieder. Mitten auf dem Platze lagen zwei schwarze Sphinxe, mit den ungeheuren steinernen Augenkugeln glotzend und zwischen sich das ausgetrocknete Becken eines Springbrunnens hütend, aber aus dem aufwärtszeigenden Stifte sprang kein Wasser mehr; der Wind hatte das Becken halb mit feinem Sande angefüllt; aus den Randsimsen quollen Halme und dürre Blümchen; und um die Busen der Sphinxe liefen glänzende Eidechsen.

Weiter hinter dieser Gruppe stand ein Obelisk, jedoch seine Spitze lag ihm zu Füßen.

»Der Graf Johannes ist schon vor dreihundert oder vierhundert Jahren gestorben«, sagte Ruprecht.

Seitwärts diesem Platze sahen die Freunde ein kleines Häuschen stehen, wahrscheinlich die Wohnung des Pförtners; von dem eigentlichen Schlosse aber war nichts zu erblicken als graues Dachwerk, über das Grün des Berges hineinschauend und von kreisenden Mauerschwalben umflogen. Sie stiegen sofort den verwahrlosten, ausgewaschenen Weg hinan. Hie und da war auf der Abdachung des Berges ein Geschlecht zerstreuten Mauerwerkes und grünen Wuchergebüsches, worunter ganze Wuchten des verwilderten Weinstockes, der seiner Zucht entronnen, sich längs des Bodens hinwarf und sein junges, frühlingsgrünes Blatt gegen das uralte Rot der Marmorblöcke legte, die hie und da hervorstanden. Mancher kreischende Vogel schwang sich aus dieser grünen Wirrnis empor, wie die Freunde weiter schritten, und verschwand im lächelnden Blau des Himmels.

Auf dem ganzen Wege erblickten sie kein einziges menschliches Wesen. Die Seite des Berges, auf der sie stiegen, schien ein verkommender Park zu sein. Es hüpften Hasen empor und flohen seitwärts, alle Arten von Schmetterlingen und Insekten flogen und summten, und eine Lindengruppe, an der die Freunde vorüberkamen, hing voll[367] wimmelnder Bienen. Aber nirgends war ein Mensch. Als sie auf der Hälfte des Weges waren, kam ihnen ein Hund nach, ein Bulle der größten Art, und ging ruhig hinter Ruprecht her.

»Wir haben alle Dinge bewacht,« sagte der alte Mann, »und der Hund ist mir sehr beigestanden, weil sie ihn fürchten weit und breit. Im Sixtusbaue, wo die Nonnenzellen sind, fließt alles von Honig; denn ich nahm ihnen nie einen, und der Wein muß in seiner eigenen Haut liegen. Ich habe dem Gerichte, da es alles anschauen wollte, den Weg nicht gezeigt, der von der Nonnenklausur hinabführt, darum wissen sie von dem Weine nichts. Gehet aber in den grünen Saal, Erlaucht, da werdet Ihr sehen, wie gut der Mann konterfeit hat.«

Heinrich sah verwundert auf Robert, dieser aber sagte: »Du hast wieder einen deiner bösesten Tage, altes Rüstzeug.« Dabei heftete er die Augen auf den Mann.

Dieser aber schwieg augenblicklich, sah den Syndikus betroffen an, und durch die versteinerten Züge ging ein feines Erröten, wie wenn er sich schämte. Fortan schwieg er.

Man hatte endlich die Kante des Berges erreicht, und Heinrich sah nun, wie erst eigentlich gegen die andere Seite hinab in einem sanftgeschwungenen Tale die Sammlung der Bauwerke lag. Es war alles viel großartiger, weiter und auch verworrener, als er gedacht hatte. Ein ganzes Geschlecht mußte durch Jahrhunderte hindurch auf diesem Berge gehauset, gegraben und gebaut haben. Abgesonderte Bauwerke, gleichsam selber wieder Schlösser, standen auf verschiedenen Punkten, niedere Mauern liefen hin und her, Brüstungen bauschten sich, die Anmut griechischer Säulen blickte sanft herüber, ein spitzer Turm zeigte von einem roten Felsgiebel empor, eine Ruine stand in einem Eichenwalde, und weit draußen auf einer Landzunge, deren Ränder steil abfielen, schimmerte[368] das Weiß neuester Gebäude. Und diese ganze weitläufige Mischung von Bauten, Gärten und Wäldern war umfangen durch dieselbe klafterdicke, hohe, graue Eisenmauer, durch welche sie hereingelassen worden waren, und an welcher Heinrich bei seiner Entdeckung des Schlosses, wovon er nur einen Teil gesehen, herumgekrochen war, um einen Eingang zu finden. Wie ein dunkles Stirnband umzirkelte sie den weiten Berg und schnitt seinen Gipfel von der übrigen Welt heraus.

Da standen sie nun, und Robert suchte zu erklären, was er erklären konnte; denn auch er war mit dem Schlosse und mit Ruprecht nur äußerst oberflächlich bekannt, in wiefern es nämlich seit dem Tode des letzten Besitzers seine amtlichen Verhältnisse mit sich gebracht hatten.

Der griechische Bau war der des Grafen Jodok, dessen der Vater Erasmus erwähnt hatte. Er sah aus dem Schoße dichten Gebüsches herüber: ein edles Geschlecht weißer, schlanker Säulen. – Und um sie herum war es so grün, als zöge sich ein jonischer Garten sanft von ihnen gegen die andern barbarischen Werke hinan. Weit davon weg stand der Turm des Prokopus, ein seltsamer Gegensatz zu dem vorigen; denn wie ein verdichteter, zusammengebundener Blitz sprang er zackig und gotisch von seinem Felsen empor; der Felsen selbst ragte aus einem Fichtenwalde, der, durch den Borkenkäfer abgestorben, wie ein weißes Gegitter da stand. Hinten auf einer breiten glatten Wiese lag der sogenannte Sixtusbau: breit, bleifarben, massiv, ohne die geringste Verzierung, mit noch vollständig erhaltenem grünem Kupferdache. Die Fenster, ohne Simse und flach, standen so glatt in der Quadermauer wie Glimmertafeln, die im Granite kleben. Die neuesten Gebäude auf der auslaufenden Bergzunge waren die Wohnung Graf Christophs, des letzten Besitzers, gewesen. Lange Terrassen und Gartenbauten trennten sie von den oben genannten, und ein Gartenhaus,[369] allerlei Ruhesitze und Lustbäuschen umgaben es, mit und ohne Geschmack erbaut und bereits wieder im Verfalle begriffen. Von hier aus sah man auch deutlich die Ruine um den Eichenbestand herüber blicken, einen Bau voll Balkonen, Giebel und Erker, aber gräßlich zerfallen – es war das Haus des alten Julian gewesen. Ein Gedränge uralter, riesenarmiger Eichen schritt von dem Neubau gegen die Ruine hinüber, und man sah zwischen den Stämmen Damhirsche wandeln und grasen.

»Das ist ja ganz herrlich und närrisch,« rief Heinrich, »wer hätte gedacht, daß eine solche Menge von Gebäuden auf diesem Berge Platz haben sollte, und daß noch die schönste Landschaftsdichtung zwischen ihnen und um sie liege. Mir ist es, wie in einem uralten Märchen, alles so wunderlich, als läge die Fichtau gar nicht unten, in der ich doch gestern noch war. Komm, laß uns auf die äußerste Spitze dieser Zunge vorgehen, dort muß die schönste Umsicht sein, und ehe wir in all das Mauerwerk kriechen, wollen wir hinuntersehen auf das Land, ob es denn auch wirklich noch ist wie gestern.«

Und sie gingen vorwärts auf der Zunge, deren Spitze zugleich der höchste Punkt des Berges war. Hier stürzt die Wand schwindelsteil ab, und man sieht über die Ringmauer wohl hundert Klafter senkrecht nieder. Auch auf dieser äußersten Spitze war ein Bauwerk, aber nur ein länglich rundes Dach von Säulen getragen, zwischen welche man im Winter Glasfenster schieben kann. Im Innern sind an den Säulen herumlaufende Sitze, von dem roten Landesmarmor gehauen.

Wohl war das Land noch wie gestern: grün und weich und ruhig lag die ganze Fichtau in der Sommervormittagsluft unten, ein sanftes Hinausschwellen von Hügeln und Bergen, bis wo der blaue Hauch der Ferne weht, und mitten drinnen der glänzende Faden der Pernitz – alles bekannt und vertraut, eine holde Gegenwart, herumliegend[370] um die unklare Vergangenheit, auf der sie standen. Von der Häusergruppe der grünen Fichtau war nichts ersichtlich, nur der Felsengipfel des Grahns blickte rötlich blau und schwach durch die dicke Luft herüber, und Heinrichs Auge haftete gerne und mit Rührung auf ihm, als einem Denkzeichen des lieben, sanften Herzens, das an seinem Fuße schlägt und vielleicht in dieser Minute an den fernen teuern Freund denkt.

Die Männer sprachen nur wenige Worte, indem sie ihr Vergnügen ausdrückten und sich die verschiedenen Berggestalten zeigten und erklärten, während der Alte noch immer stumm und unbeweglich hinter ihnen stand – nur die auf dieser Höhe ziehende Mittagsluft regte die dünne, graue Locke seiner Schläfe; denn er hatte sein Barett, von beiden unbemerkt, noch immer in den Händen.

Sie hätten wohl zu andern Zeiten länger das heitere Bild zu ihren Füßen betrachtet, aber heute zog sie ihre nächste Umgebung unmittelbar an. Heinrich schlug vor, gleich die neuen Gebäude aufschließen zu lassen, da sie einmal in der Nähe seien, aber Robert zeigte ihm, daß dies unmöglich sei; denn Graf Christoph hatte, da er in den afrikanischen Krieg geritten, vorher alle Tore versiegelt, mit dem Befehle, daß vor seiner Zurückkunft nichts berührt werden dürfe, im Falle seines Todes aber der neue Besitzer erst am Tage seines Antrittes die Gebäude öffnen möge. Da hingen nun hinter allen den großen Spiegelfenstern des Hauses ruhig und schwer die grünseidnen Vorhänge nieder und regten keine Falte hinter dem glatten, glänzenden Glase. An Türen und Toren waren die Siegel, ebenfalls grün, sehr groß und mit dem Scharnastschen Wappen versehen. Von dem Dache hatte der Wind den einen und andern Ziegel heraus genommen, worauf bald mehrere oder wenigere Nachbarn folgten, so daß an manchen Stellen die nackten Sparren und Latten ungastlich und lächerlich in die Luft hinausstarrten.[371] Der alte Mann sah das alles mit ruhigen und heitern Blicken an, als wäre es in der schönsten Ordnung. Der Kiesplatz vor dem großen Tore war von altem Regen zerwaschen, keine Spur von Rädern oder Hufen, und überall zwischen den Quarzkörnern sproßte zartes Gras hervor.

»Und wie lange ist dein letzter Herr schon weg?« fragte Robert.

»Nach der großen Krankheit – – –« begann langsam, schüchtern und mißtrauisch der alte Mann, indem er sich näherte – – aber Robert unterbrach ihn und sagte: »So setze doch dein Barett auf.«

»Ja, die Sonne ist heiß,« erwiderte Ruprecht, »sie ist heiß, ich habe es vergessen – und eine Pelzhaube ist gegen sie so gut, wie gegen den Winter.«

Und wirklich sahen die Freunde, daß sein Barett, das er bisher immer in den Händen gehalten hatte, trotz des heißen Sommertages eine Pelzhaube war.

»Nun wie lange«, sagte Robert wieder, »ist dies Haus da herrenlos?«

»Nach der großen Krankheit,« fuhr der Greis fort, »die draußen im Lande war – – nein, es war ja vor der Krankheit, und Narcissa starb an ihr, weil sie sich so kränkte; aber eigentlich hieß sie gar nicht Narcissa, sondern Tiburtia, aber weil sie so hoch gewachsen war, weil sie so zart und schön war, und weil sie den Kopf stets ein klein wenig gesenkt trug, so hat er sie immer Narcissa genannt – – Der Herr vergebe ihm, er war sehr stürmischen Gemütes, aber er war auch wieder so fromm wie ein Kind; denn ich selber habe ihn einmal weinen gesehen, daß man meinte, das Herz werde ihm aus dem Leibe springen – und dann ließ er die grünen Vorhänge nieder, siegelte alle Tore zu und ritt davon; denn seht, er war auch trotzig, wie Graf Julius, der ebenfalls fortging und nicht wieder gekommen ist. Er hatte die Tage vorher das[372] Drehtor machen und das große daneben zumauern lassen – und alle Diener und Jäger, und die Hunde und die Pferde – alles flog desselben Tages davon, und er sagte: ›Hüte das Werk, wie den Stern deiner Augen, und halte die Brut ferne, bis ich komme und sie als mein Weib erkenne.‹ Dann habe ich das Werk gehütet, daß nur die Vögel des Himmels herein zu fliegen vermochten. Eine Stille war Euch, Graf Sixtus, eine Stille im Sonnen- und Mondenscheine – und immer fort still, nur daß die Totengeige des Prokopus, die er wieder hatte aufziehen lassen, zuweilen nachts oder tags tönte oder läutete. Dann waren fünf, sechs, acht Jahre, bis die vielen Herren mit dem Pergamente kamen, alles untersuchten und zusiegelten – dieser Syndikus, der mit Euch ist, war auch dabei und sie erzählten, daß man ihn in der heidnischen Stadt so schön begraben habe. Die Narcissa liegt in der Schloßkapelle; der Dechant war selbst herübergekommen und hatte gesagt: ›Ich will sie gesegnen.‹ Sie konnte nicht mehr warten, weil ihr das Herz stehen geblieben war.«

Er hatte diese Rede größtenteils an Heinrich gerichtet, Dieser hörte ihm schweigend und mit Schonung zu. Man war indessen durch den Eichenhag bis nahe an die Ruinen des Grafen Julian gekommen, und wie man auf den glänzenden Rasenplatz hinausgetreten war, auf dem die Trümmer liegen, so sprang der große Hund Ruprechts plötzlich gegen den Anger vor, und wedelte und scharrte, und bellte gegen die Luft empor – Ruprecht aber schrie: »Daß du stürzest, Pia, fürchterliches Kind, Pia! Pia! – – siehe, mein Herz, komme eilig herunter – ich habe dir ja gesagt, du sollest bei den Ringelblumen sitzen bleiben und sollest zählen, wie oft die Schwalbe zugeflogen kommt – –.«

Und ein feines klingendes Silberstimmchen ertönte in der Luft: »Sie flog fünfmal und zwanzigmal, und immer und von den Ringelblumen ist die erste gelb, und die[373] zweite gelb – und sie waren alle gelb. Ich falle nicht, siehe nur, ich falle nicht.«

Die Freunde blickten empor, und auf dem höchsten der vielen Balkone des zerfallenden Schlosses, auf einem Balkone, der so in der Luft draußen hing, als klebe er nur an einem einzigen Steine, war ein Kind – ja sogar nicht einmal auf dem Balkone, sondern auf dem Steingeländer desselben war es, halb sitzend, halb reitend, es schien ein Mädchen; denn eine Fülle der schönsten gelben Ringellocken wallte um den Nacken und das glühende Gesichtchen, sie mochte zehn bis elf Jahre alt sein, oder auch noch jünger – am äußersten Geländer saß sie und jauchzte, und so wie ihr Ruprecht zugerufen hatte, und wie ihr eignes Stimmchen erklungen, wurde sie noch fröhlicher, daß er sie gesehen; sie stand auf, und schwebte nun stehend auf dem unsichtbar schmalen Stege des Geländers, und ging vorwärts und ging rückwärts, und neigte sich und beugte sich über, daß den Männern unten ein Schwindel und Grauen ankam, und daß ihnen die Augen vergingen.

Und sie rief dem Hunde zu: »Hüon, Hüon: komm herauf.« Und da dieser sich wälzte und plump in die Luft sprang und ungeschickte Freudentöne gab, so wußte sie sich vor Lachen nicht zu helfen.

»Ich werde mir die Haare ausraufen, wenn mir einmal der Hund ihre zerschmetterten Glieder nach Hause schleppen wird; denn er hat sie lieb, und sie folgt ihm auch am meisten.« Diese Worte hatte der Greis heimlich zu sich gesagt, aber die zwei Männer hatten sie gehört.

Indes warf oben das Kind die Arme empor und rief: »Ich sehe hierhin und dorthin, ich sehe alle Mauern, alle Bäume und die ganze Welt.«

Es schien, als hänge ihr lichtes Kleid wie eine weiße Sommerwolke im Himmelsblau draußen – die Männer standen regungslos, um sie nicht zu erschrecken und zu[374] stören – endlich verschwand sie plötzlich oben, man hatte kaum gesehen, wie sie von dem Geländer gestiegen und durch die Mauer hineingekommen war – und fast in dem nämlichen Augenblicke wurde sie unten auf dem Rasen sichtbar, wie sie durch eine kleine Bresche neben Himbeergesträuche heraustrat. Sie blieb stehen, als bemerke sie die Fremden erst jetzt, zögerte, sah sie eine Zeit lang mit wilden, schwarzen Augen an, dann aber ging sie zuerst langsam um die Mauerecke, scheu und wild, wie eine junge, schlanke Pantherkatze, dann fing sie an, den jenseitigen Rasenhang hinab zu laufen – der Hund hinter ihr, und die Freunde sahen noch, wie sie weiter unten das mächtige Tier mit beiden Armen umschlang und sich mit ihm durch Gras und Gebüsche hinabschleifte, bis sie beide nicht mehr sichtbar waren und nur die Büsche wogten.

»Wir werden jenes Loch zumauern, Erlaucht,« sagte Ruprecht flüsternd, indem er hinzeigte und in seinen Gesichtsfalten Zorn und Todesblässe schlotterten, »im Parthenon liegen noch Ziegel, sie werden ohnedies nicht gebraucht.«

Dann fuhr er fort, als hätte er seine Begleiter vergessen: »Die Raben des Grahns werden kommen, über meine Hütte fliegen und mir Botschaft bringen, wenn sie schon tagelang nicht nach Hause gekommen ist – weil sie auf einem roten Steine liegt; die gierige Kohlmeise wird ihre Äuglein ausgehackt haben – oder die Wasser der Pernitz werden um ihre zarten Glieder waschen, und die Fische werden heimlich herumschießen, wie stumme Pfeile, hastig zupfen und sich um das Stückchen balgen, das einer erwischte – – ich werde indes suchen, und suchen, immer, immer – – und werde dann zum fürchterlichen Himmel heulen, daß die Sterne daran zittern; denn sie ist das Allerschönste auf der Erde, das Schönste zwischen Sonnen und Sternen, wie Narcissa war.«[375]

Einen tiefen furchtsamen Blick warf er gegen Heinrich und sagte: »Ich werde öffnen; denn ich halte immer gesperrt.«

Und er drehte große Schlüssel in dem knarrenden Schlosse – aber es war lächerlich, zu schließen, wo nichts zu verschließen war; denn alle Mauern klafften, eine breite, sanfte Treppe führte zu Schutt, durch die Fenster wehte die Luft, kein Getäfel und Holz war mehr zu schauen, der Marmor der Gänge und Säle war erblindet, steinerne Stiegen hingen in der Luft, Mörtel rollte und rieselte allseits, ein buntes Lichterspiel flimmerte, und hellgrüne Pflanzen taumelten, wo ein Lüftchen zog oder ein Strahl hinküßte. Über eine jener hängenden, schief gesunknen Stiegen mußte das Mädchen zu dem hohen Balkone gelangt sein.

Nachdem sie über Kalkhügel und Steinhaufen gegangen, durch Breschen und Türlöcher gekrochen, ohne das mindeste Merkwürdige getroffen zu haben, verlangten sie hinaus, und der Greis führte sie durch ein anderes Tor, das er ebenfalls sorgsam hinter sich verschloß, in den Garten des Hauses. Es war ein langes Viereck, zu dessen beiden Seiten Mauerwerk lief, nicht hoch über dem Boden zwei lichte, freundliche Säulengänge führend. Von hinten war das Viereck durch einen mächtig großen Marmorfels geschlossen.

Wenn ein Wald oder Garten auch eine Ruine sein könnte, so wäre es dieser gewesen. Eingesunkne Gartenbeete, blecherne Blumentäfelchen mitten im Grase, eine fröhliche Wildnis von Unkraut, ein verdorrter Obstbaum, ein anderer ein bloßer Pflock mit zwei grünen Wasserschößlingen, ein dritter mit herrlicher Frucht, eine zwecklose späte Gabe – die Pfirsichzweige an der Wand, einst die Liebe und der Stolz des Herrn, hingen seitwärts, unangebunden, unfruchtbar, wie schlechte Weidenruten eine Ulme war emporgeschossen und streckte ihre Zweige[376] lustig in den Säulengang hinein. Tausend Bienen und Käfer summten und arbeiteten in den üppigen Blüten des Unkrautes.

Mitten hindurch aber ging ein breiter, schöner Weg, als wäre täglich jemand darauf gewandelt, oder als wäre er gestern erst gemacht worden. Heinrich hatte auch bemerkt, daß in der Ruine von dem einen Tore bis zum andern über die Schutthügel ordentlich ein getretener Weg laufe. Sie gingen den Garten entlang. Wie sie immer näher kamen, so stieg ihnen der rote Fels stets größer entgegen, und Heinrich bemerkte endlich, daß in denselben eine hohe Pforte gehauen war, mit einem eisernen Tore verschlossen, daran eiserne Schlösser hingen, mit dem gräflichen und den Gerichtssiegeln versiegelt. Es war dieser Felsen der sogenannte rote Stein, in dem die Lebenserzählungen aufbewahrt waren, und dessen Bedeutung Heinrich von Robert aus den Gerichtspapieren erfahren hatte.

Seitwärts dem roten Steine war der Kirchhof des Schlosses. Ein anderes Tor, nicht massiv, nicht versiegelt, sondern ein hohes, breites Eisengitter, führte hinein. Es war auch ein Garten, aber statt der Blümlein war nur ein dunkler hingehender Rasen, statt des Obeliskes ein weißes Kruzifix in Mitte von vier Linden, und statt des Gartenhauses eine Kapelle, von den Eichen überschattet, die draußen in dem Walde des Julian standen.

»Die Bücher, so in dem Gewölbe dieses roten Steines sind,« sagte Ruprecht, »reden nur zu den Leuten, die aus dem Blute unsrer Grafen stammen, und jeder Tropfen ist aufgeschrieben, der seit siebenhundert Jahren aus einem ihrer Herzen rann, und keiner darf die Schrift lesen, der nicht ein Kind desselben Geschlechtes ist. Ihr seht, daß die Tore des Steines versiegelt sind, Ihr könnt nicht hinein, aber zu dem andern habe ich die Schlüssel.«

Und er schloß das Gitter auf und führte sie durch eine[377] heitere Allee von Linden auf den Kirchhof. Es war der stillste Ort, den Heinrich noch auf dem Berge gesehen hatte, fast zum Frieden und Schlummer ladend; denn von drei Seiten war er durch den Eichenwald des Julian umgeben, so daß beinahe kein Lüftchen, ja kein Ton von außen zu dieser Insel dringen konnte: von der vierten Seite stand das alte Schloß und die Lindenallee, grau und grün gemischt – und von oben war die tiefe Bläue des Himmels und das niederfließende Gold der Sonne. Auch war jene wimmelnde Bevölkerung von Kreuzen und Zeichen nicht da, womit sonst so gerne die Erhabenheit eines Totengartens zerstört wird, und womit der Mensch seine armen Flitter auch in dieses ernste Reich hinüber trägt, sondern auf dem gleichen Rasen waren nur einige unbedeutende Merkmale, die Ruhestelle treuer Diener des Hauses bezeichnend, und in der Mitte stand ein hohes Kreuz von weißem Marmor, als Zeichen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Gleichheit. Viele Mitglieder des Geschlechtes ruhten ohne Grabmerkmal, wie sie es verordnet, unter der allgemeinen einfachen Decke des Rasens; andere aber lagen mit Wappen, Zeichen, Zierden und Prunk in der weitläufigen Gruft unter der Kapelle. Heinrich und Robert stiegen in diese Gruft hinunter; Ruprecht, der sie ihnen aufgeschlossen hatte, blieb oben auf einem Marmorwürfel sitzen, der aussah wie ein unfertiger Grabstein. Die Gruft hatte nichts anderes, als eben Grüfte zu haben pflegen: Sarge, Wappen, Vergänglichkeit – alles bedeckt mit Pomp und Moder, nur ein einziger Sarg stand da, ganz einfach von Eichenholz gezimmert ohne das geringste Zeichen, ja sogar ohne Namen. Sie stiegen nach einiger Betrachtung wieder hinauf, und wie sie aus dem dunklen Tore der Kapelle ins Freie traten, hörten sie ein plötzliches Rauschen, und sahen noch das Wegflattern des Gewandes und den Sprung des Hundes. Das wilde, scheue Kind, Pia, war in ihrer[378] Abwesenheit bei Ruprecht gewesen und hatte bei ihrer Ankunft die Flucht ergriffen; sie sahen nur noch, wie sie hinter einen Holunderbusch, der an der Kirchhofmauer stand, verschwand, aber dort stehen blieb, und durch eine Öffnung ihr schönes Gesichtchen herausbog und halb dreist und halb geschreckt mit den übernatürlich glänzenden, schwarzen Augen die Fremden anstarrte er wie sich Robert nur regte, so zuckte sie weg, und wurde erst viel später wieder gesehen, wie sie mit Hüon auf einer roten Felskuppe stand. Von da an sah man sie bis gegen Abend nicht wieder. Heinrich konnte sich eines unheimlichen Gedankens nicht erwehren, wenn er sich diese zwei Wesen als die einzigen Bewohner des Berges dachte; den märchenhaft alten, blödsinnigen Mann und das verwahrloste, zartgliedrige Wesen, das in seiner Gesellschaft zu einem Wüstenvogel aufwachsen muß, der entsetzt aufflattert, wenn ihm die schöne Bildung eines Menschenantlitzes sichtbar wird.

»Sie ist stille und gut,« sagte Ruprecht, nachdem er die Kirchtüre gesperrt und den Schlüssel wieder zu den andern genestelt hatte, »sie saß die ganze Zeit, als Ihr in dem Gewölbe unten waret, hier auf dem weißen Steine und atmete ihr Laufen aus, und von dem Händchen quoll in Blutstropfen, weil Ihr sie an den alten Mauern so erschreckt habt, und sie fragte, wer Ihr seid, und warum ich Euch denn nicht erschlüge, wie den Wolf, der auch im Winter in die Fichtenallee gekommen ist und mit Hüon spielen wollte. – – Sie wußte nicht, auf welchem traurigen Steine sie saß und die Worte von den Menschen und Wölfen redete. – – Sehet, dieses Ding da sollte, als er ihren Tod erfuhr, nach dem Vorbilde gemeißelt werden, worunter Chelion liegt; aber als Ihr das große Pergament brachtet, Herr Syndikus, und von seinem Begräbnisse erzähltet, da raffte der Werkmeister den Hammer und Meißel zusammen und ging fort, daß nun der eichene[379] Sarg ohne Namen unten stehen muß, und der Grabstein ohne Bedeutung hier oben liegen. Auch der Konterfeier ging fort und ließ die schönen, grünen, seidnen Vorhänge hängen – und sie hängen noch dort; denn das Grüne hat er sehr geliebt – – und Ihr müsset sie beide züchtigen, Erlaucht, die ungetreuen Knechte. Ach alles, alles ist nicht fertig geworden.«

»Lasse uns um Gottes willen das andere schnell abtun, mir wird es unheimlich in der Gegenwart dieses alten Mannes«, flüsterte Heinrich seinem Begleiter zu.

»Lasse ihn nur,« versetzte dieser, »er ist ja übrigens ganz harmlos.«

»Ich werde Euch nun zum glatten Hause führen«, sagte Ruprecht, »und die Klausur der Frau Hermenegild aufschließen; aber es sind jetzt die Bienen drin – sie tun nichts und sind nicht wild; denn ich habe ihnen nie Honig genommen, sie tragen viel aus den Linden der Gräber herüber, und der ist süß und duftig – – ich werde Euch auch den Wein zeigen – folgt mir nur«

Und er führte sie durch den Eichenwald dem sogenannten Sixtusbaue entgegen. Sie betraten ihn von der Hinterseite, und fanden wirklich hier den seltsamsten Haushalt: es lief ein langer, schmaler Glasgang mit erblindeten regenbogigen Scheiben längs des Gebäudes, und aus einigen zerbrochenen Scheiben desselben wogte es von Bienen aus und ein, und so viel man durch das trübe Glas erkennen machte, war der Gang, insbesondere die Nischen, abenteuerlich mit riesenhaften Waben bebaut, und die allergrößte Tätigkeit herrschte fort, daß es einem ordentlich im Kopfe wirrte und schwirrte, je länger man dem Treiben dieses Knäuels von Republiken zusah, an einem zu solchem Haushalte so unpassenden und ungewöhnlichen Orte.

»Die Nonnen hatten sonst den Gang zum Lustwandeln gehabt« sagte Ruprecht, »aber das ist nun nicht mehr[380] möglich, weil sie tot sind, und wir können auch nicht dort gehen, wegen der Bienen; ich werde aber öffnen, wo wir durch die Zellen der heiligen Frauen kommen. – Im Winter gebe ich dem kleinen Geflügel immer Stroh; Graf Christoph nahm ihnen noch Honig, denn er war ihr Herr; aber ich lasse sie fortbauen, und es sind schon manche Schwärme in die Fichtau hinausgeflogen, weil sie meinten, es sei hier zu enge, oder weil sie taten, wie die Jugend überhaupt zu tun pflegt. Da die Frau Gräfin Hermenegild, als ihr Herr, Ubaldus, im heiligen Kriege gefallen war, die Zellen eingerichtet und die heiligen Frauen zur Anbetung Gottes berufen hat, dachte sie nicht, daß in den schönen Glasgang diese Bewohner kommen würden – – ja damals sind sie gewandelt und haben kunstreiche Arbeiten gemacht, die noch alle im roten Saale aufbewahrt sind; aber weil die Zellen nicht von dem Heiligen Vater geweiht waren, so wurde es nach dem Tode der Frau Gräfin untersagt, daß sie weiter bestehen; und die letzte der Nonnen starb, da mein Urgroßvater ein Kind war. Er ist auch Kastellan gewesen.«

Und bei diesen Worten hatte er ein Tor am Ende des Glasganges geöffnet, und führte sie nun durch Zellen und Gemächer, durch Refektorium und Sprechsaal – und sie sahen all das dumpfe, bestaubte Geräte, die schwarzen Bilder, die blinden Fenster und die zerfetzten Tapeten der Nonnen.

Gegen Ende dieser Dinge, wo wieder die andern Gemächer des Hauses beginnen, war einiges in Schutt, und allerlei Gänge öffneten ihre Höhlen. Hier sagte Ruprecht heimlich zu Heinrich, er sollte mit ihm gehen; denn er müsse ihm allein etwas zeigen. Heinrich zauderte anfangs ein wenig, aber durch Robert ermutigt folgte er dem Alten. Dieser gab in Miene und Bewegung alle Zeichen der höchsten Freude zu erkennen, führte ihn Trepp auf, Trepp ab, sperrte Türen auf und zu, machte endlich[381] am Ende eines verfallenen Ganges Licht, und stieg mit ihm eine Wendelstiege hinab. Dort öffnete er ein äußerst kleines Türlein und führte Heinrich hinein: und siehe, da lag weithin Faß an Faß, der Greis in höchster Freude und Befriedigung zeigte darauf und sagte: »Ich habe das alles bewahrt; der große Eingang ist verschüttet, und diese Treppe wußten sie nicht, da sie kamen, alles zu beschauen. – Ich allein habe den Wein gepflegt, und pflege ihn noch; ich trinke keinen Tropfen – gebt mir nur ein wenig, wenn ich alt und krank werde – ich zeige dem andern, der mit Euch ist, nichts, denn sie wollen unser Eigentum verzetteln, und ich hätte ihn auch gar nicht in das Schloß gelassen, wenn nicht Ihr mit ihm gewesen wäret«, und bei diesen Worten brach er in ein kindisches Schluchzen aus, und ehe es Heinrich hindern konnte, hatte er sich niedergebückt und dessen rechte Hand geküßt, indem er lallend und bittend sprach: »Seid nur nicht mehr zornig, nun ist ja Bertha längst gestorben und sehet, ich habe für alles und alles gesorgt und es gehütet wie mein eigenes Herz. O, ich habe unsäglich viel ausgestanden.«

Heinrich konnte seine äußerste Erschütterung nicht bergen, und der Gedanke, der in seinem tiefsten Innern saß, die fast unglaubliche Ahnung, die ihn hieher geführt, die Ahnung, die er nicht einmal seinem Freunde zu offenbaren gewagt, schien sich hier an dem Wahnwitze eines alten Mannes zu verkörpern und zu offenbaren.

›Wenns ist‹, dachte er, ›wenns ist- –!‹

Er zitterte fast, nur um ein Haar breit in der verdunkelten Seele des andern weiter zu forschen, um sie nicht noch tiefer zu zerrütten. Die Verrückung jener Gesetze, auf deren Dasein im Haupte jedes andern man mit Zuversicht baut, als des einzigen, was er untrüglich mit uns gemein hat, trägt etwas so Grauenhaftes an sich, daß man sich nicht getraut, das fremdartige Uhrwerk zu berühren,[382] daß es nicht noch grellere Töne gebe und uns an dem eigenen irre mache. Auch verlangte der Alte kein Zeichen, weil er sich selbst Rede und Antwort gab. Mit haushälterischer Geschäftigkeit führte er ihn von Faß zu Faß, zeigte die Neunziger, die Eilfer, den vom Rhein, die Ausländer, die Spanier, die Portugiesen – er zeigte ihm die Vorrichtungen, mit denen er nachfülle, die Fässer rein halte, die Luft wechsle – – in allem diesen zeigte sich die bewundernswerteste Zweckmäßigkeit. Er wurde immer vergnügter, und da er die wirklich erstaunliche Reihe von Fässern gezeigt hatte, näherte er sich vertraulich dem Ohre Heinrichs und sagte heimlich: »Das ist der neue Syndikus der schwarzen Stadt; sagt ihm kein Wort von dem vielen mächtigen Weine; denn sie versiegeln alles, bis Graf Christoph kommt; aber der kommt nicht mehr, und ist tot und im Mohrenlande begraben auch Steuer und Abgaben gehen immer ein und werden im Rathause der schwarzen Stadt aufgehoben. Geht nur gleich, wie ich schon gesagt, in die grüne Stabe, wo sie schon alle warten.«

»Wird aber nicht Pia Schaden nehmen, wenn wir so lange weg bleiben«, sagte Heinrich versuchsweise.

»Wer!?« entgegnete der Alte mit allen Zeichen des höchsten Erstaunens, indem er seinem jungen Begleiter mit der Laterne ins Gesicht leuchtete. Sein Geist hatte in Jahren geschwebt, wo Pia nicht war, und der Geier, der an seinem Gehirne fraß, das Mißtrauen an sich selbst, stand auf und schlug ihm die düstern Flügel um das Haupt. Er ging hastig und verstummt den Gang zurück, löschte das Licht aus, verbarg mit größtem Scharfsinne die Laterne, führte Heinrich in tiefster Dunkelheit wieder Trepp auf, Trepp ab, Gang aus, Gang ein, und sie standen endlich plötzlich bei Robert, der an einem Fenster ihrer geharrt hatte. Ruprecht war jetzt wieder ohne ein einziges Wort. Er schritt über einen Vorsaal, schloß[383] auf und öffnete, sich anstemmend, die eingerosteten Türflügel zu den Gemächern. Eine Reihe von Zimmern empfing sie mit schwerer, verblichener Pracht; altertümliche, geschnitzte Geräte, wunderliche Tapeten, teils noch ganz, teils durch Moder und eigene Schwere zerrissen, Zeltbetten, Putztische, Sesselreihen, alles von altväterischem Prunke, kunstreich und doch fest gearbeitet, alles bedeckt mit Massen von Staub und Spinnenweben, und ein trübes Licht fiel durch die blinden Scheiben von dem einsamen, funkelnden Tage draußen herein.

Mit den schwermütigen Gefühlen menschlicher Nichtigkeit und Vergänglichkeit wandelten die Freunde durch diese Stätten versunkenen Glückes und Elendes, und Heinrichs Herz war tief und ahnungsvoll erregt. Er mußte sich einige Male die Hand über seine Augen legen, um sich zu sagen, wo er sei, und um dem andern sein Inneres zu verbergen.

So hatten sie mehrere Zimmerreihen durchwandelt, einst zu dem verschiedensten Gebrauche bestimmt, von der Öde des Prunksaales an bis zur Heimlichkeit des einstigen Schlafgemaches. Der Alte war ohne viele Teilnahme hinter ihnen gewandelt, aber da die Zimmer zu Ende waren und sie wieder in einen Vorsaal gelangten, bog er plötzlich um eine Ecke, riß mit sichtlicher Hast und Freude zwei riesengroße Flügel auf – und ein zauberischer Anblick schlug den Freunden entgegen: es war der grüne Saal; mit dem feinsten, dunkelsten Serpentine waren die Wände bekleidet, riesengroße Fenster, von unten gegen oben zum Teile mit grauer Seide gedeckt, rissen sich gegen den glänzenden Himmel auf, und ihr Glas war glatt und spiegelhaft, als hätte man es in diesem Augenblicke gesetzt – der Grund aber war, weil es der Alte immer putzte. – – Und in der Lichtflut dieser Fenster stand, in die dunkle Ebene des Serpentins gerahmt, eine ganze Reihe der herrlichsten Bilder: es waren sämtliche[384] Scharnast, Männer, Frauen und Kinder, von Haupt-und Seitenlinien – und wie der erste Blick zeigte, von den besten Meistern gemalt. Man sah selbst Rubens' und van Dycks Pinsel, die besten Deutschen und sogar den Spanier Murillo. Heinrich war erstaunt, ja er war betäubt über diese Herrlichkeit. – Da funkelte die Sonne in wundervollem Schmelze auf jener Rüstung, jenem Goldgehänge, jenen Vasen und Geschirren schwer und massenhaft, als müßte ihre Wucht von dem Bilde niederbrechen, – auf dem weichen Goldhaare der Frauen, auf jenem Antlitze, in dem lieblichen Auge, auf dem Munde, der eben nur gesprochen haben muß, auf der Hand, die auf dem Marmortische ruhte oder den schweren Samt emporhielt – auf den Gesichtern der Männer, über die, obwohl in tausend Gedanken und Leidenschaften zersplittert, doch dieselbe Familienähnlichkeit hinlief, alles glänzte und funkelte da, von der furchtbaren Körnigkeit jener Menschen in Stahl und Eisen angefangen bis zu der Pedanterie und Weichheit derer, die in Tressen und im schwarzen Fracke sind.

Robert, der auch den Saal noch nicht gesehen hatte, war eben so bezaubert wie Heinrich; – Ruprecht im Übermaße der Befriedigung und des Stolzes stand da und drückte sein Gefühl dadurch aus, daß er abenteuerlich und ungeschickt mit seinen Fingern in dem großen Bunde Schlüsseln, den er trug, suchte und arbeitete und nestelte. Er hatte sein Barett abgenommen, als wäre er in der Kirche.

Nachdem der erste Eindruck dieser Einfachheit und Größe [denn selbst die Bilder waren weitaus über Lebensgröße] in etwas vorüber war, ging man zur Betrachtung der Einzelheiten über. Da hing gleich zu Anfang der alte Hans, ein frommer Herr und Ritter, daneben sein Eheweib Adelgund, ein echt deutsches Gesicht, wie sie uns so gerne aus den Bildern Albrecht Dürers ansehen.[385] – Von ihm aus folgte die Reihe eiserner Männer und sittiger Frauen: Bruno und Brigitta – Benno und Irmengard dann Abaldus, dann Hermenegild, die Nonne – Johannes, der Kreuzfahrer – – und andere und wieder andere eine ganze Reihe. Vorzügliche Gemälde waren alle, obwohl sie augenscheinlich viel später gemalt wurden, als die Urbilder lebten, aber wahrscheinlich nach vorhandenen, wenn auch schlechten Originalen, denn dafür sprach der in allen Gesichtern der Männer fortgehende Familienzug. Die Namen standen in großen Goldbuchstaben unter jedem Bilde auf dem dunklen Serpentine. Was Heinrich ganz besonders wohl tat, war, daß die Bilder ziemlich tief herabgingen und von oben beleuchtet wurden, wie es denn überhaupt hervorging, daß der Gründer dieser Anstalt nicht die Bilder des Saales wegen aufgestellt, sondern daß dieser in seiner ungeheuren Größe und einfachen Pracht nur zur Verherrlichung jener dienen sollte. So war auch im ganzen wüsten Zimmer nicht ein einziges Gerätstück; bloß an Fenstervorhängen waren die mannigfaltigsten, behutsamsten Vorrichtungen, um teils die verschiedensten Lichterspiele auf die Gemälde wirken lassen zu können, teils dieselben vor unmittelbarer Sonne zu schützen. Und wie sehr Ruprecht mit der Sache vertraut war und sie liebte, zeigte der Umstand, daß er oft durch unbedeutende, gelegentliche Züge an Schnüren oder Federn ganze entfernte Bilderreihen plötzlich in das zarteste Licht legte, da sie vorher in ungünstiger Dämmerung geschwebt hatten.

Von den Frauen war keine einzige unschön, manche voll herrlicher Anmut, und einige Jungfrauen blendend und untadelig. – Von den Männern war keiner unbedeutend, viele schön, einige voll Schwärmerei oder Gewalt des Geistes; alle mit einem sonderbaren Zuge von Überschwenglichkeit, wie mit einem Familienzeichen behaftet; – da war Johannes, der Erbauer der Sphinxe und des[386] Obeliskus – dann Sixtus, der Gründer dieses Baues und wahrscheinlich auch des grünen Saales, dann Ubaldus, der strenge Krieger – und andere. – – Weit unten von denen saß ein alter Mann mit einem Blicke, als glühte Dichtkunst oder Wahnsinn drinnen: es war Prokopus, der Sterndeuter. – Jungfrauen in sanfter Schönheit prangten neben ihm, seine Töchter, und hart daran ein seltsames Paar, zwei Männer: der eine in reichem Goldkleide, widrigen Antlitzes mit furchtbarem, rotem Barte, der andere im armen grünen Jagdkleide, ein sanftes Bild der größten Jugendschönheit; es waren die Brüder Julianus und Julius, Söhne des Prokopus – – Heinrich erschrak; denn wenn es wahr ist, was ihm ein gesendeter Zufall erst kürzlich geoffenbaret, wenn er ein später Sprosse all dieser Männer ist, so war es dieser Jüngling Julius, durch den der Strom in sein fernes, abgelegenes Heimattal geleitet wurde, daß er selbst nun heute, nach mehr als anderthalb Jahrhunderten, ein verschlagner, unbeachteter, letzter Tropfen desselben, vor der reichen Quelle stehe, aus der er kam. – Wie seltsam die Schicksale der Menschen und der Geschlechter sind! Was mußte nicht geschehen, daß er heute hier stehe und auf die zarte Stirne und die großen, freundlich lodernden Augen eines Knaben schaue, der vielleicht sein Ur-Ur-Großvater ist, jener Mann, von dem er so viel reden gehört, der gekommen sei, man wußte nicht, woher, der gewaltet, gewirtschaftet und gelebt habe, so herrlich wie kein Mensch, und den er sich nie anders denn als schwachen, verkommenen Greis vorstellen konnte, weil der Großvater erzählt hatte, wie er so schön im weißen Barte und schwarzen Samtkleide auf dem Paradebette gelegen sei, als man gekommen, um ihn mit Gepränge zu begraben, weil er heimlich ein vornehmer Herr und Graf gewesen.

Robert stand neben dem Freunde – und ahnte nicht, was in demselben vorgehen mochte. Auch der Greis Ruprecht[387] schaute so gleichgültig und blöde auf alles, als verstände er nichts.

Indessen blickte dasselbe Schwärmerauge des Prokopus aus dem Bilde, dieselben guten, sanften Blicke der Jungfrauen und dieselben ungleichen Mienen der feindlichen Brüder.

Man ging endlich weiter.

Julianus war der letzte im Harnisch gewesen, aber auch dieser, ein leichtes, vergoldetes Ding, war mehr Spielzeug als Waffe. Nach ihm begannen die kleinen Degen und die Bordenkleider und Reifröcke, und – merkwürdig – war es nun Zufall oder war es Zeichen jener Zeit, die, sittenloser als eine, auch ihren fahlen Fittig. Über diesen entlegenen Berg geschattet hatte – die bisherige Reihe bedeutungsvoller Köpfe brach hier ab, und es folgten einige von vollendeter Nichtigkeit, ein Gebäude von Borden und Locken und Angesichter voll Zeremonie und Leerheit. Erst gegen das Ende, bevor der ganze Bilderreigen Überhaupt abbrach, gleichsam wie der letzte Glanzblitz einer erlöschenden Flamme, saß noch eine Gruppe, welche Auge und Ahnungsvermögen jedes Beschauers an sich riß; für unsere Freunde aber durch die aberwitzige Vermittelung des alten Mannes wahrhaft erschütternd wurde.

Die Zeit der Borden und Zöpfe nämlich hörte plötzlich bei einem Manne auf, der in ganz fremder Kleidung da saß, die gar keinem Jahrhunderte der Geschichte angehörte; einer Gattung weitfaltigen, rabenschwarzen Mantels mit roter Seide ausgeschlagen. Ein Kopf voll Schönheit und Bedeutung sah ernst und doch sanft schwärmend daraus nieder: ›Jodokus‹ stand unter dem Bilde. Die Männer sahen ihn neugierig an, den Menschen, von dem so abersinnige Gerüchte umgingen, und der doch so ruhig und gelassen-tatfähig aus dem Bilde sah, wie man es etwa von einem Epaminondas erwartet haben würde.[388]

Auf einmal, da sie so hinsahen, ertönte hinter ihnen schüchtern, da er seit langem wieder zum ersten Male das Wort nahm, die Stimme Ruprechts, welcher sagte: »Er hat selbst den himmelblauen Vorhang im Testamente so verordnet, wie er ist, und daß er nur gehoben werde, wenn dringender Grund ist, das Bild zu sehen.«

Die Freunde blickten auf, und wirklich bemerkten sie, was sie im Augenblicke vorher nicht beachtet hatten, daß das Gemälde neben Jodokus mit blauer Seide verhängt war.

»Nun, es ist dringender Grund,« sagte Robert lächelnd, »enthülle das Ding.«

Aber der Alte achtete nicht auf die Rede dieses, sondern mit einem düstern, verzagten Seitenblicke Heinrich streifend, sagte er: »Ja, ja, es ist dringender Grund – ein dringenderer kann gar nicht sein; aber ich warne Euch Ihr werdet Euch entsetzen.«

Einen Augenblick zauderte er noch, dann aber tat er einen kurzen Zug an einer seidnen Schnur, der Vorhang rollte sich von selber empor, klappte in eine Feder, blieb stehen – und der alte Mann trat weit in den Saal zurück, als wäre er von tiefster Erschütterung ergriffen – aber, was sie sahen, war nicht zum Entsetzen, es war eher lieblich und schön: eine kleine weibliche Figur war auf dem Bilde gemalt, wie ein Kind in sanfter Trauer, und doch wie ein vermähltes glühendes Weib. Über dem schwarzen Seidenkleide hielt sie ein lichtes Antlitz, so seltsam und schön, wie eine Blume über dunklen Blättern. Die kleine, weiße Hand lag auf Marmor und spiegelte sich drinnen. Die Augen sahen fremd und erschreckt. Zu ihren Füßen, als friere er, schmiegte sich ein Goldfasan.

Unten im Serpentine stand: ›Chelion‹.

Die zwei Männer hatten lange und mit größtem Wohlgefallen den Schmelz dieses Bildes betrachtet, aber wie sie sich endlich zum Gehen wegwandten, sahen sie zu[389] ihrem Erstaunen den greisen Kastellan mit äußerster Verzückung nach dem Gemälde starren. Er hatte sich nicht im geringsten geregt, und war weit hinten im Saale gestanden. Die Freunde richteten bei dieser Erscheinung, gleichsam wie durch Verabredung, noch einmal ihren Blick auf das Bild, und als nach einer Weile Heinrich sagte: »Sie ist aber eigentlich auch wundervoll schön und seltsam«, hörte man den Alten schleichenden Trittes herzugehen, und wie er in die Nähe Heinrichs gekommen, streckte er tastend seine Hand gegen ihn, daß der dürre Arm weit aus dem Ärmel des alten Rockes vorstand, und rief mit leiser, heiserer Stimme: »Ja, das ist auch entsetzlich, das ist das Unglück, wie sie schön ist, wie sie über alle Beschreibung schön ist – – ich bitt Euch, wahrt Eure Seele, Graf Sixtus! auf den Knieen bitt ich Euch, wahret Euch vor Versuchung; denn die Hölle hängt nur an einem Haare – – alles ist gut abgegangen; er hat sie lieb gehabt, fort und fort, wie der Adler sein Junges, aber da war sie weiß, ehe sie gestorben ist, so weiß war sie wie die Lilien, die unten im Sumpfe wachsen und die Häupter auf das schwarze Wasser legen – und mich hat er oft angeschaut mit den glänzenden Augen – und da er schon den langen, weißen Bart hatte, hat er mich angeschaut mit den schwarzen Augen, wie nachts die Eule blicket; – aber ich habe die Zähne meines Mundes zusammengeschlossen wie Eisen und kein Wort durch sie herausgelassen, – und dann hat er mich auch wieder lieb gehabt, und da er unten am Häuschen saß und die Sonne schien, da hat er meine Hand genommen und sie gestreichelt und gesagt: ›Lieber Ruprecht, lieber Ruprecht!‹ denn seht« – hiebei neigte sich der Greis gegen Heinrichs Ohr und flüsterte mit bedeutsamem Lächeln »er war seine letzten Tage blöde und wahnsinnig.«

Die zwei Männer schauderte es ins tiefste Mark der Seele, und Heinrich trat einige Schritte weg, aber der[390] wahnwitzige Kastellan folgte ihm sachte mit glänzenden Augen: »Er hätte Euch über den Stein hinabgestürzt – Ihr seid aber auch viel schöner, als er es je gewesen – ich habe ihn recht gut gesehen, wie er bei Prokopus' Turme and, es war Nacht, und sein schwarzer Mantel war so finster wie die Wolken, die draußen wehten und Blitze zogen – der Seidenmantel knisterte – und es war eine so heiße Nacht, wißt Ihr? und sie dauerte so lange, als wie sonst drei, aber endlich wurde es Morgen und klar, Ihr waret fort – – es ist sehr gut, daß Ihr fort waret – – und es kamen so schwere, so schwere Zeiten – ich habe Euch gesagt, daß sie wie eine Lilie weiß war und noch kleiner als sonst immer, und alle sind gestorben, die arme Chelion starb, mein Weib Bertha starb, Ihr starbet, und wie er das Schloß angezündet hatte und unten im Häuschen auch tot lag, lange gestreckt, den weißen Bart wie ein zerfetztes Banner haltend, da kam ihr Sohn, der arme Christoph – seht Ihr ihn daneben – aber er ist auch tot und Narcissa – und alle sind sie tot – –...«

Unwillkürlich sahen die Freunde auf das Nebenbild der Chelion, und wirklich stand ein junger Mann dar auf, ihr vollendetes Abbild – wie sie so seltsam und schön, aber mit trüben, schwermutsvollen Blicken. Dieser war also der letzte Besitzer des Berges gewesen.

Zu einer andern Zeit und in anderer Lage würden sie lange vor diesen merkwürdigen Bildern und Naturspielen gestanden sein, aber in diesem Augenblicke war es ihnen nicht möglich; denn der alte Mann neben ihnen war von einer so furchtbaren Erregung gefaßt, daß er bei seinen letzten Worten in ein krampfhaftes Weinen ausbrach, die Hände vor das Gesicht schlug und die überreichlichen Tropfen zwischen den dürren, faltigen Fingern hervorquellen ließ, so daß sein ganzer Riesenbau vor Schmerz zitterte, wie der See schwankt, wenn ein ferner Sturm tobt. Das Herz der Freunde tat einen Blick[391] in die Schlucht einer verworrenen, vielleicht grausenhaften Tat – sie konnten nicht forschen, und wollten es nicht; denn bereits funkelte der Wahnsinn, wie ein düstres Nordlicht, an allen Punkten des unglücklichen Wesens vor ihnen, und sie mochten ihn nicht steigern, daß er nicht etwa überschlage und dem, wenn auch uralten, Körper Riesenkräfte gebe und zu Entsetzlichem treibe – auch hat das Menschenherz eine natürliche Scheu, den dunklen Spuren eines andern nachzugehen, auf denen es zu Schuld und Unglück wandelte. Deshalb schwiegen sie beide tief und ernst, selbst gegen einander, und blickten nur noch trübe auf die beiden Bilder: Mutter und Sohn. Chelion war schön wie ein reiner Engel, und Christoph war es wie ein gefallener. Neben ihm war kein Bild mehr, sondern die lange Reihe leerer Nischen für alle noch Ungebornen, als hätte der Gründer auf eine Ewigkeit seines Geschlechtes gerechnet.

Die Freunde wandten sich nun zum Fortgehen. Ohnehin war ihnen die Luft dieses Saales drückend geworden. Sie wollten unbeachtet an Ruprecht vorübergehen, überzeugt, daß er ihnen, sich sänftigend, stille folgen würde. Aber wie er ihre Absicht erriet, ließ er plötzlich die Hände von seinem Gesichte fallen, und statt der vorigen Erregung sahen sie nun das äußerste Erstaunen darinnen, so, daß ihm sogar vor Schreck die Tränen stocken geblieben und wie gefrorne Tropfen in dem weißen Reife seines Bartes standen: »Aber wie seid Ihr denn?« rief er mit heftiger Stimme, »wozu habe ich Euch denn hergeführt? wozu seid Ihr denn zurückgekehrt? Ich habe den ganzen Tag die Geduld mit Euch gehabt, ich habe ja die höchste Geduld gehabt, als Ihr immer und immer die andern Dinge des Berges anschautet und nicht ginget, wohin ich Euch führen wollte, ich habe die Geduld gehabt, um Euch endlich auch zu zeigen, was ich getan habe – warum wollt Ihr denn nun fortgehen?!«[392]

»So zeige uns nur, alter Mann, was du getan hast,« sagte Heinrich freundlich, »zeige es nur, wir freuen uns ja darauf.«

»Sehet,« rief der Greis besänftigter, »alle sind sie da, alle, die je lebten und atmeten auf dem roten Steine – sie sind versammelt in dem grünen Saale; nur einer war verworfen, – ich habe ihn immer sehr geliebt, und dachte, es soll nicht so sein – seht nun: ich war es, der es machte, daß Ihr schon im Saale standet, als er noch lebte, aber er wußte es nicht, er ging hinüber, und wußte es nicht. – – Wartet nur, ich will zuerst den blauen Vorhang herablassen, weil er nicht offen stehen bleiben darf«

Diese letzten Worte hatte er beschwichtigend und vertraulich gesagt, und dann lief er gegen Chelions Bild:

»Hüll dich ein,« sagte er murmelnd, »du schöne Sünde, hüll dich ein, du Apfel des Paradieses« – – und er zog wieder an der Schnur, und freiwillig, wie hinauf, rollte sich nun der Vorhang herunter, Stück um Stück den Schimmer des Bildes deckend, bis nichts mehr sichtbar war als die unschuldige Seide, straff gespannt und matt erglänzend. Dann zu heller, unheimlicher Freude über gehend, sprang der Greis zu der leeren Nische neben Christoph, drückte gegen eine Feder, und zum Erstaunen der Männer sprang der Serpentin los – und in das Krachen mischte sich das triumphierende Kichern und Lachen des Greises. Sie sahen nun, daß der Stein bloß auf eine Kupfertafel gemalt war, daß sich diese völlig umlege und noch ein Bild entblöße, das sie vorher ge deckt hatte. Es war ein Männerbild, und im Serpentine unten stand: ›Sixtus II‹

Allein das Bild war das Heinrichs Zug für Zug, nur in fremden Kleidern.

Der Alte rieb frohlockend und herausfordernd die Hände, als wollte er sagen: ›Nun?! nun?!‹

Robert war zum äußersten betroffen. Er hatte bisher die[393] zwei andern begleitet, wie einer, der bloß Merkwürdigkeiten anschaut, nun aber wußte er plötzlich nicht mehr, woran er sei – – zwar ein Gedanke, blitzschnell und abenteuerlich, schoß durch sein Gehirn, aber er war zu lächerlich, als daß er ihn nicht sogleich hätte verwerfen sollen – nur fragend blickte er gegen den Freund. Dieser aber, der ebenfalls die Sache zu fassen begann, war anfangs totenblaß, dann allmählich flammend rot geworden; – der stummen Frage des andern aber konnte er eben so wenig eine Antwort geben. Bloß der wahnwitzige Greis war der einzige, der völlig klar war; mit einer Freude und Geschäftigkeit, die man an ihm gar nicht zu ahnen vermocht hätte, ging er sofort an das Werk der Erklärung, und in dem listigen Lächeln seines Angesichtes schwamm die gänzliche Beruhigung, die er über seine Anstalten empfand.

»Ich habe Euch bloß«, begann er, »nach dem kleinen, runden Bilde machen lassen, das im Deckel Eures feinen Reisekästchens war – wißt Ihr? – ich habe es nach jener Nacht herausgestohlen und aufbewahret. Ein alter, alter Mann hat Euch konterfeit, Ihr müsset ihn erst belohnen; denn er hat Euch sehr geliebt. Des ganzen lieben Tages Länge saß er oben im Julianusschlosse, über die sinkende Stiege hinauf, wo ich ihn versteckt hielt, und wohin ich ihm Essen und Trinken brachte. Dort malte er, und viele Tage und Wochen vergingen, ehe Ihr so herrlich wurdet, wie Ihr jetzt seid. Der arme Mann! weil er so alt war, mußte ich ihn immer beinahe die Treppe hinauftragen, daß sie unter uns knitterte und einzustürzen drohte. ›Gott lohne es Euch, Ruprecht‹, hatte er gesagt, ›Gott lohne es Euch, wenn Ihr alt werdet.‹ Er hat noch keinen Heller für das Bild, Ihr müßt ihm einen Lohn geben; denn sein Alter ist darbend und verachtet.«

»Ach, der ist wohl schon jenseits aller Heller und Millionen«, sagte Heinrich trübsinnig.[394]

»Und nun,« fuhr der Kastellan begeistert fort, »nun muß das falsche Kupfer weg; wir werden Euch neben Jodok und Chelion setzen, weil Ihr früher seid als Christoph, und dieser muß auf Euren Platz herunter. – Fürchtet Euch nicht, Graf Sixtus, der andere ist schon gestorben er ist alt, sehr alt gewesen, und hat einen langen, weißen Bart gehabt; und ›lieber Ruprecht‹ hat er gesagt, wenn er auf der Bank des kleinen Häuschens saß – und Christoph ist auch tot. – Narcissa darf nicht in den grünen Saal, weil sie noch nicht angetraut war, ihr Bild ist auch nicht fertig, und es war ein barscher Mann, der sie konterfeite, und ging fort, als Christoph tot war – und Ihr aber, Erlaucht, kommt nun, und bringet Diener und Leute auf den Berg, daß es wieder lebe und wimmle, und eine Nachkommenschaft werde, den ganzen Saal zu bemalen und die ganze Zukunft zu erfüllen bis zum Jüngsten Tage.«

»Lasse ihn in seiner Ahnung,« sagte Robert, »es dürfte eher sein Gehirn zersprengen, ehe wir ihm begreiflich machen, daß du nicht Sixtus seiest.«

»Bin ich auch nicht Sixtus,« antwortete Heinrich, »so bin ich doch einer von diesen da – – ich bitte dich, frage jetzt nicht, mir ist alles sonnenklar, nur zittert jeder Nerv in mir. Ich werde dir alles – alles enthüllen, frage nur jetzt nicht.«

Und in der ungeheuren Aufregung, in der er war, ging er gegen Ruprecht, und als glaube er es selber, sagte er zu ihm: »Sei gepriesen, alter Mann, für das, was du getan hast – ich danke dir dafür, ich danke dir, und ich werde redlich sorgen für alle deine künftigen Tage.«

Dem Greise war in seiner Schwäche ein kindisches Weinen über diesen Dank angekommen, aber es äußerte sich nur darin, daß ein Zucken und allerlei Bewegungen und Regungen emsig durch die Falten des verfallenen Angesichtes liefen. Er beugte sich mehrmal, und beugte sich[395] tief und vornehm, wie ein belohnter Diener – es wäre lächerlich gewesen, wäre es nicht schauerlich erschienen. »Ich tat nur meine Schuldigkeit,« sagte er, »ich tat nur meine Schuldigkeit!« Dann ging er mit allen Zeichen der Befriedigung und mit einer gewissen Würde in seiner Gestalt gegen das Bild und sagte: »Zum letzten Male wollen wir es schließen, Erlaucht, daß es nach kurzem offen strahle vor den Augen aller Menschen, und auf ewige Zeiten. O, ich habe Euch gleich gekannt,« fügte er zufrieden lächelnd hinzu, »da Ihr heute Einlaß verlangtet!« – Mit diesen letzten, fast heimlich gesagten Worten drehte er den Kupferdeckel wieder herum und fügte ihn ein, so daß keine Spur blieb, wo er sich früher geöffnet.

»So, jetzt ist alles geschehen und gesehen«, sagte er und trat zurück. Wirklich waren nun alle folgenden Nischen in langer Reihe leer, und die Freunde wanderten noch den Rest entlang, dem Tore zu, das sie in die andern Gemächer des Baues führte.

Daß sie dem, was nun folgte, wenig Aufmerksamkeit schenkten, begreift sich. Sie gingen noch durch mehrere Abteilungen des Sixtusbaues. An den grünen Saal stieß ein roter, gefüllt mit den tausenderlei Arbeiten der Frauen des Rothensteines, namentlich mit einer Unzahl Spielereien der Nonnen. Sonst möchte es nicht ohne Annehmlichkeit sein, diese Zeugen einer vergangenen Abgeschiedenheit zu betrachten, wie sie für den einen ein Glück, für den andern eine Trauer war, – aber die zwei Männer eilten vorüber, um nur so schnell als möglich Raum und Luft zu gewinnen und ihre Herzen gegenseitig ausschütten zu können. Nur ein Gemach, als sie all die Räume und Zimmer durchwandelt hatten, nahm noch ihre Aufmerksamkeit in Anspruch – es war das letzte, nahe an dem großen Tore gegen die Vorderseite des Baues gelegen, aus dem sie nun hinaustreten sollten. Das Gemach[396] war der im Sechseck gebaute Malersaal, in welchem die Bilder zum grünen Saale verfertigt zu werden pflegten. Und auf eine schaurige Weise legte er jetzt den späten Besuchern diese seine einstige Bestimmung vor Augen; denn alles lag und stand noch so, als wäre der Künstler vor einem Augenblicke hinweggegangen; aber ausgedorrte Farben, Staub und Spinneweben zeigten, daß hier jahrelang keine menschliche Hand tätig gewesen sei. Dennoch waren noch alle Fenstervorhänge niedergelassen, bis auf einen, um das Licht auf die Leinwand zu sammeln. Eine lebensgroße Gliederpuppe saß da, und schwere, schön geordnete, grünseidne Draperie hing an ihr nieder, um auf das Bild gemalt zu werden; aber die scharfen Seidenfalten derselben lagen voll dichten, alten Staubes, und der Glanz des Stoffes war erblindet. Der rote Samtsessel, auf dem die saßen, die abgebildet werden sollten, stand leer; aber daneben auf der Staffelei war auch das unvollendete Bild von der, die zuletzt auf dem Stuhle gesessen. Um das Bild war schon im voraus ein breiter Rahmen von künstlichem Serpentine gemalt, um die Wirkung auf den künftigen Platz berechnen zu können; aber es kam nie auf diesen künftigen Platz. – Das Haupt war zwar vollendet, die Figur und der Grund aber bloß umrissen und untermalt, und die Hände waren weiße, verwischte Flecken. Heinrich jagte mit seinem Tuche den größten Teil des Staubes von dem Bilde, und getrübt durch den noch gebliebenen, sah ein schönes, schlankes Weib, wie eine Narzisse, demütig und selig aus der Fülle der schönsten, blonden Locken heraus.

»Geht vorüber, geht nur eilends vorüber,« sagte angstvoll dringend der Greis, »ich bitt Euch inständig, geht vorüber – es ist nur mein armes Kind – was soll ich denn hier stehen bleiben? – ich habe ja ohnedies schon um sie geweint. – – Sie sollte in den grünen Saal kommen, aber er wurde in dem Lande der Heiden erschlagen – der[397] Maler ging fort – sie starb. – – Seht, der Konterfeier ist hinterlistig wieder erschienen und wollte das Bild und die Sachen fortnehmen, aber ich sagte zu ihm, daß ich ihn erstechen werde, wenn er es täte – da ging er, und kam nimmermehr wieder. Ich bitte Euch, laßt stehen und gehen – – alles ist nicht zu Ende; alles ist falsch, ihre Ehre und ihre Erhebung ist falsch, wie der Stein, den sie um ihr Bildnis gemalt haben. – – O, vieles, vieles ist fürchterlich geworden, seit Ihr fort waret: Graf Jodok hat seinen Sohn Christoph verflucht, und dieser ist nicht gekommen, bis der Vater tot war, und dann kam er, und war wie eine scheue Amsel auf dem Berge und gesellte sich zur schlanken Ammer, die immer erschrocken das Köpfchen warf. – – Aber sie beide waren so schön, wie gar nichts auf Erden, und lauter Friede und Heimlichkeit war auf dem Berge. – – Laßt sie ruhen – laßt sie ruhen! – Hier ist das Tor; Ihr könnt ja gleich in den indischen Garten des bösen Jodok kommen. Seht, der Garten ist so schön – geht nur hinaus, geht hinaus, ich bitt Euch.«

Und hastig hatte er bei diesen Worten das Tor der ganzen Breite nach aufgerissen. Feines, liebes Grün sah einladend herein. Er zeigte hinaus; er war sichtlich erleichtert, als die Freunde das Gemach verlassen hatten. Dann mit Kraft und Schnelle jagte er die Flügel zu, drehte dreimal den Schlüssel im großen Schlosse um und schlug noch mit der Faust auf das eiserne Tor, recht freudig, daß es einmal zu sei. – Aber auch die Männer waren erleichtert, als der düstre, schwarze Bau gleichsam hinter ihrem Rücken zurückwich, und die helle, grüne Landschaft glänzend in der Nachmittagssonne vor ihnen lag und sich die Flut des lieben, vertrauten Sonnenlichtes wieder um sie ergoß. Es war ein reicher Garten, durch den sie gingen, voll der sanftesten Sträuche und Bäume nebst Resten verkommener ausländischer Gewächse.[398]

Mitten in dem Garten stand ein großer, weißer Würfel aus dem feinsten Marmor gehauen, mit der Inschrift: ›Jodokus und Chelion.‹ Sie gingen vorüber, dann gelangten sie in den griechischen Säulenbau des Jodok, das sogenannte Parthenon. Die Säulen standen hoch und prächtig in die Lüfte, und Gemächer und Korridore liefen; aber alle die Keuschheit des Marmors war häßlich von Rauch und Flamme geschwärzt und verödet – eine Schicht unreiner Ziegel lag zwischen den beschmutzten Säulen und schändete die edle Leiche des Gebäudes.

Sie weilten auch hier nicht lange – und es war auch nichts zu sehen als die leere, hohle Hülse einstiger Wohnlichkeit, in der nun die Trauer brütete. – Sie gingen hinter dem Gebäude durch einen weitläufigen Obstgarten nach und nach um die Bergkuppe herum und stiegen dann durch den erstorbenen Fichtenhain zu dem Turme des Sterndeuters Prokopus hinan. Der Turm selber war leer, nur daß noch Trümmer von astronomischen Geräten, Mappen und Büchern herumlagen.

Aber an der Außenseite desselben war gegen Süden eine riesenhafte Äolsharfe gespannt. Ihre Saiten gingen von dem gepflasterten Steinboden, der rings um den Turm lief, bis auf die Spitze desselben empor, und sie wogten leise, tief und zart im Hauche der leichten Luft, als die Freunde eben davor standen, gleichsam als rede sie jetzt freundlich zu ihnen, während sie öfter unter Tags einen lauten, langen Ruf über die Berge getan.

Mit dem Turme des Prokopus war die andere Seite des Schloßberges gewonnen, und sie begannen nun den Rückweg. Der alte Pfad, der von dem Turme abwärts lief, wand sich wieder sachte um die Wölbung des Berges dem Tore zu, durch das sie hereingekommen waren, weil es das einzige in der ganzen Ringmauer war. Ehe sie zu dem Platze der Sphinxe und des Obeliskus gelangten, trafen sie auf die Wohnung des Kastellans – es war ein[399] niederes, breites Haus, an einer heißen Sandlehne gelegen – und hier sahen sie noch einmal das Kind Pia, wie es mitten unter Ringelblumen in verwahrloster Gartenwildnis schlief. Ein steinaltes Mütterchen, wahrscheinlich die Magd Ruprechts, saß bei ihr und wehrte ihr die Fliegen. Auch der Hund saß nebenan und betrachtete klug die Gruppe.

Ruprecht war auf dem Wege von dem Berge herab wie ein Lamm hinter den Männern gegangen. Jetzt, wie sie ein wenig anhielten, um die Gruppe im Garten zu betrachten, und er an ihnen vorbeikam, sahen sie, daß seine blaßblauen Augen ganz leer standen, daß er auf die Seinen keinen Blick tat und geradeswegs gegen die Ringmauer zuschritt. Dort angekommen, öffnete er die Pforte und wies die Männer unter denselben Verbeugungen hinaus, wie er sie hereingewiesen hatte. Sie traten durch das schmale Drehtor und hörten hinter sich die Vorrichtung knarren und den Schlüssel rasseln. Nach einigen Schritten, die sie gebeugt durch das verwachsene Haselgebüsche getan hatten, standen sie wieder in der Fichtenallee vor dem weißen Mauerflecke, wie sie vor einigen Stunden gestanden waren, ehe man sie hineingelassen hatte.

Die Nachmittagsluft seufzte wieder eintönig in den langen, haarigen Zweigen, wie es die am Vormittage getan, und die Stille und die Harzdüfte sanken wieder von den Wipfeln. Das Rätsel des Berges, das Heinrich gesucht, lag nun hinter ihm, und die graue, hohe, stumme Mauer stand wieder davor.

Da sie nun allein waren, und da sie die unbetretene, unbefahrne Straße der düstern Allee abwärts zu schreiten begannen, sagte Robert zu Heinrich: »Nun aber um Gottes willen erkläre, was soll alles das bedeuten?«

»Ich will es dir sagen,« antwortete Heinrich, »aber zuvor erkläre du mir, wie es denn kam, daß du nie von diesem[400] außerordentlichen Schlosse und seinem wunderlichen Testamente zu mir gesprochen hast, da ich doch schon so viele Wochen in der grünen Fichtau wohne und so oft mit dir zusammengekommen bin?«

»Deine Frage ist noch wunderlicher als die Sache selbst«, erwiderte Robert. »Wie konnte mir beikommen, eben weil du schon viele Wochen in der Fichtau warest, daß du von einem Dinge nichts wissest, das doch in aller Leute Munde war? und wie sollte ich freiwillig wieder von etwas beginnen, von dem man eben erst aufgehört hatte zu reden?«

»Nun, so hat mich denn ein Wunder in dieser Angelegenheit geführt,« sagte Heinrich, »sonst wäre sie gerade für den verloren gewesen, den sie doch am meisten anging, der mitten im Gespräche darüber saß und nicht einen Laut davon vernommen hat! – Höre mich an. Du weißt, wie ich dir sagte, daß ich wunderbare Ruinen gefunden, und daß ich den närrischen Fichtauer Wirt darüber zu Rede gestellt; – du weißt, daß du mir dann selber das sonderbare Testament dieser Scharnasts auseinandergesetzt hast; aber das weißt du nicht, daß ein furchtbarer Blitz auf mich von heiterem Himmel gefallen war daß ein solcher Scharnast mein Ahnherr gewesen – und daß ich es doch keinem Menschen dieser Erde zu entdecken wagte, weil es dennoch unwahr sein konnte – ach, es schwebte mir ja kaum wie ein dunstiger, duftiger Nebelstreifen vor, der dahin sein konnte, ehe man ihn erfaßt. – Ich schrieb desselben Abends, als ich mit dem Wirte und deinem Schwiegervater gesprochen hatte, noch an meine Mutter, und befragte sie, wie unser Ahn geheißen, und welche seine Verhältnisse gewesen – und ich schickte den Brief noch in der Nacht nach Priglitz auf die Post. Darum, Freund, war es auch nicht Neugierde allein, was mich auf diesen Berg trieb, sondern ein Instinkt, der auf seinen Gegenstand weist, wenn er ihn[401] auch noch nicht kennt. Siehe, dir muß der Kastellan, dir muß meine Ähnlichkeit mit jenem Bilde aberwitzig gewesen sein, und mir wurde es klar, wie die Sonne des Firmamentes. Ich will dir jetzt auch alles erzählen, merke wohl auf. Vor hundertundzwanzig Jahren kam ein Mann in unser Tal, das damals fester, dichter Wald war, kaum von einigen Hütten und Feldern unterbrochen. Der Mann hatte niemand als ein wunderschönes Mädchen mitgebracht, war sehr alt, trug einen weißen Bart und dunkle Kleider. Mit Werkleuten und Knechten, die er aufnahm, baute er ein schönes, weißes Haus auf dem Waldabhange und erweiterte um dasselbe den Raum in Gärten und Feldern. Sodann soll er allen, die um ihn wohnten, Gutes getan haben; er soll sie angeleitet, in tausend Dingen unterrichtet und überhaupt weise und ruhig gelebt haben. In jener Zeit geschah es auch, daß mein Urgroßvater, ein wohlhabender, gelehrter Mann und Pflanzenkenner, angezogen durch die wilde Schönheit des Waldtales, sich ebenfalls darin ansiedelte und ein ähnliches Haus baute wie der eingewanderte Alte. Da nun aber der Urgroßvater noch sehr jung war und, wie die Familiensage spricht, sehr schön, so geschah es wieder, daß sich er und die Tochter des fremden Mannes sehr gefielen und endlich heirateten. Der weise Greis hat noch lange gelebt, und ist an die hundert Jahre alt geworden. Erst bei seinem Tode kam es zu Tage, daß er ein Graf gewesen und Scharnast und Julius geheißen. Es sollen – waren es nun Verwandte oder sonst nur Freunde – vornehme Leute zum Begräbnisse in den Wald gekommen sein; aber wo sie hingeraten, oder ob man noch etwas von ihnen gehört, davon wußte man später nichts mehr. Auch verlor sich die ganze Sage der Abstammung in unserer Familie, wie eine Dämmerung, die vergeht, so, daß kaum einer davon sprach, die andern es nicht glaubten. Denke dir nun, wie mir ward, da der Wirt die Namen nannte, die mir in den[402] Ohren klangen, und die ich kaum heraufbeschwören konnte – denke dir, wie ich in dieses Schloß trete und mich der irre Kastellan als Herrn begrüßt – wie ich auf jenem Bilde in längst verschollenen Kleidern stehe – wie ich als Genosse in den Jugendgeschichten eines uralten Mannes spiele. – – Wenn es nun ist, denke dir, wenn es ist: dann ist jener schöne, sanfte Knabe Julius in Jagdkleidern der weise Greis aus unserm Walde, dann bin ich in die Fichtau gegangen, um Blumen und Steine zu sammeln, und habe das tote Geschlecht meiner Väter gefunden. Wie wunderbar! Warum ich aber jenem andern Bilde einer andern Linie, jenem zweiten Sixtus so ähnlich sehe, weiß ich nicht, wenn es nicht eines jener Familienwunder ist, die sich zuweilen ereignen, daß nämlich in einem Gliede plötzlich wieder dieselbe Bildung hervorspringt, die schon einmal da gewesen, um dann wieder in vielleicht ewige Unterbrechung auseinanderzulaufen oder wenn es nicht ein Fingerzeig des Himmels ist, daß noch ein entfernter Sprößling dieses Geschlechtes lebe, auf den man sonst nie gekommen wäre.«

Robert schüttelte bei diesen letzten Worten seines Freundes fast traurig den Kopf und sagte: »Das ist ja eine erstaunliche, überaus merkwürdige Geschichte, die du da so erzählst, als wäre sie vollkommen einleuchtend – ich erstaune fast vor den Folgen – ich weiß es noch gar nicht, wie sehr ich mich darüber freuen werde – aber vorerst bin ich noch beinahe betrübt darüber; denn siehe, Heinrich, deine Erinnerungen zählen vor Gericht nicht, der Name ist dir dunkel, die Erkennung des Kastellans folgte bloß aus deiner Ähnlichkeit mit jenem Bilde, die selber zufällig ist – ich sehe einer endlosen Sache entgegen. Wird man nicht sagen, du selber habest das Bild malen und dort verstecken lassen, da die Ähnlichkeit zu lächerlich ist? oder was beweist sie am Ende? Sage, hast du außer den Dingen, die du mir erzähltest, weiter nichts,[403] nicht irgendeine kleinste Kleinigkeit, woraus Hoffnung entstände, daß man würde einen Beweis herstellen können?«

»Ich weiß in der Tat sonst nichts,« entgegnete Heinrich, »als daß jener alte Mann Julius Graf Scharnast geheißen, das heißt ich meine, daß er so geheißen, aber ich habe meiner Mutter geschrieben, ob er so geheißen, und ob nicht Schriften von ihm übrig wären. Ich bin nur darum nicht gleich selbst nach Hause gereiset, damit ich noch eher dieses Schloß besuchen und dann mit dir reden könnte, daß du mir als Rechtserfahrner einen Rat gebest. Sobald die Antwort der Mutter da ist, werde ich sie dir mitteilen und dich fragen, was ferner zu tun ist.«

»Es ist gut so,« antwortete Robert, »sage nur keinem Menschen etwas von der Sache, damit nicht entgegengearbeitet werde. Wenn die Lage so ist, wie sie scheint, dann müssen bestimmt und gewiß Dokumente von jenem Julius Scharnast irgendwo liegen; die Kunst ist dann nur, sie klug zu finden und klug zu heben, ehe sich eine Hand darein mischt. Sie müssen vorhanden sein, wenn er nicht ganz und gar leichtsinnig und sorglos um seine Nachkommenschaft gewesen ist. Wenn der Brief deiner Mutter Winke gibt, so will ich selber mit dir reisen und jeden kleinsten Faden selber lenken und leiten, damit du nicht zu Schaden und Irrtum kommst.«

»Ich danke dir,« sagte Heinrich, »ich wußte, daß du gut und hülfreich bist, darum habe ich mich dir allein anvertraut.«

»Gut und hülfreich?« erwiderte Robert; »die Sache ist ja so ungeheuer und merkwürdig, daß ich ein wahrer Tiger sein müßte, wenn ich dir nicht mit Händen und Füßen beispränge – und ich begreife nicht, wie du so ruhig davon reden kannst, wie etwa von einem Pachtvertrag, oder einem Pferdekaufe.«

»Siehe, das ist so: ich trage die Sache schon acht Tage[404] mit mir herum, wurde sie gewohnt, und sie ist mir indessen völlig einleuchtend geworden.«

»Ich wollte nur, sie wäre dem Lehenhofe auch einleuchtend«, sagte Robert, und dann fuhr er so wie aufzählend fort: »Es muß ein Taufschein da sein, ein Trauschein, etwa ein Testament jenes Greises, Korrespondenzen, ein Offizierspatent oder so etwas, – wenn Ihr nur die Dinge nicht zerrissen habt. – – Es dürften, ja es müssen sogar im Gewölbe des roten Steines Schriften sein, die über jenen Julius Auskunft geben – – dann der Vertrag über den Waldkauf und Häuserbau deines Greises – der muß in einem Archive sein. Euer Tal ist ja landesherrlich, nicht wahr?«

»Ich bitte dich, schone mich jetzt mit diesen Dingen«, sagte Heinrich; »denn ich weiß sie nicht; aber wenn wir reisen, werde ich dich überall hinführen, wo du hin verlangst, und dir Auskunft verschaffen, worüber du nur willst.«

»Nun ich hoffe und wünsche und will alles Beste für dich«, antwortete Robert; »aber ich habe eine wahre Angst , eine peinigende Angst habe ich, wie wir das Ding durchsetzen werden.«

»Ich wieder gar keine«, sagte Heinrich; »entweder rollt alles schön und klar wie Perlen heraus, oder ich bin ganz und gar keiner von jenen. – Nur leid täte mirs dann, sehr leid um das schöne Schloß, daß ich nicht auf seinem Berge arbeiten und schaffen dürfte, und daß ich es nicht mit all seinen Schätzen und Mälern von dem Heimfalle an Verderbnis und Unheimlichkeit retten könnte.«

»Freilich wäre es auch mir sehr angenehm«, erwiderte Robert; »es wäre eine wahre Freude für mich, es wäre die größte meines ganzen Lebens, Thrine und mein Kind ausgenommen, wenn ich dich hier oben wüßte als Herrn und Besitzer, ein klares und freundliches Leben führend über den Trümmern dieser verworrenen, vielleicht sündhaften[405] Vergangenheit. – Du würdest alles ordnen, daß es heiter würde; du wärest uns so nahe, deine Mutter und Schwester wären bei dir – – und vielleicht ein gar so liebes Weibchen auch? – – Hab ich dich?«

»Erwähne das nicht,« sagte Heinrich errötend, »erwähne das jetzt nicht.«

»Nun, nun, du brauchst dich nicht zu schämen«, entgegnete Robert; »sie ist schon recht, sie ist herrlich und mehr wert als alle Fürstinnen und Grazien der Welt.«

»Freilich ist sie mehr wert, freilich«, – sagte Heinrich.

»Nun so handle rasch zu,« erwiderte Robert, »und lasse alles andre gehen, wie es gehen mag.«

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen waren die Freunde endlich vollends den Berg hinabgelangt, und sahen unten im dichten Gebüsche das Häuschen des Grafen Jodok stehen, und das steinerne Bänkchen davor, auf dem er in den letzten Tagen seines Lebens gesessen war. Dann gingen sie durch heitere Obstbaumgruppen dem Dorfe zu, wo sie ein Mahl bestellt hatten, und wo ihr Wagen wartete. Es ist begreiflich, daß sie während des Essens und noch nachher über die Dinge redeten, die sie gesehen, und über die Zukunft, wie sie einzurichten ist. Als es schon gegen die Kühle des Abends ging, saßen sie ein und fuhren den Rückweg gegen Priglitz zu. Öfter, wenn es die Berge zuließen, sahen sie noch auf die alte Burg zurück, und ganz spät, als schon längst die Sonne untergegangen und sie eben um einen Winkel in das Haupttal der Pernitz einbogen, rissen noch einmal die grünen Hügel auseinander und ließen den verlassenen Zauberberg durchblicken, wie er fahl, gleich einem Luftbilde, in der Dämmerung draußen hing – sie dachten sich noch einmal die Bewohner auf ihm, den blöden Greis, das Kind, das alte Mütterchen und den Hund; sie dachten sich die ragenden Bauwerke desselben, und die Reihe der starren[406] schweigenden Bilder – dann schob sich ein schwarzer Wald vor, sie flogen um die Ecke, und das weitere Pernitztal nahm sie auf. Fröhlich rollten sie nun in der Nacht dem bekannten rauschenden Wasser entgegen, in die Enge des Tales zurückdringend, um Heinrich an der grünen Fichtau abzusetzen. Es rückten die alten, wohlbekannten Berghäupter immer finsterer und immer größer an dem Wagen vorbei, und die Freunde kamen erst an der Häusergruppe an, da wieder der Mond, aber nun ein abnehmender, über derselben stand und den fahlgrauen Schimmer auf die Dächer legte, da der Staubbach wieder Diamanten warf und die Gräser Perlen hielten. Auch in der Pernitz rührte sich das zerflossene Silber, und auf dem Waldlaube stand der ruhige, feste Glanz; aber alle Fenster des ganzen Hauses waren schwarz, die Ruhe der Bewohner zeigend. Zwei davon, die allein in einem matten Glimmer des Mondes schillerten, deckten das Gemach, in welchem der schlummernde Atem Annas ging. Heinrich stieg ab und pochte leise mit dem hölzernen Hammer an das Tor, Robert aber ließ seinen Wagen umwenden, um noch in der Nacht seine Heimat zu gewinnen und die harrende Thrine zu beruhigen.

Der Wagen war an der Steinwand des Julius verschwunden; auch vernahm man sein fernes Rollen nicht mehr. Der Knecht der grünen Fichtau, der das leise Pochen gehört und auf Befragen die Stimme Heinrichs erkannt hatte, hatte ihn eingelassen, – und so war wieder alles, was der heutige Tag gesehen, die lustigen Sonntagsgäste der grünen Fichtau, der närrische Erasmus, die zwei Wanderer, die Bewohner jenes Berges, und das in seiner Liebe befangene Herz, in denselben weiten, lichtdämmernden, schlummerbringenden Mantel der Nacht gehüllt und seinen Träumen überliefert.

Wir aber lassen sie schlummern und träumen, und schwingen uns indessen in die glänzende Luft hinauf, um aus[407] ihr auf das ganze Bauwerk der Gebirge niederzuschauen. Tot liegt es unten weit hinaus und zeigt die schwarzen Spitzen gegen den Glanz hinauf, an denen sich nicht ein einziges Atom rührt, nur daß an den Wänden glitzernde Fäden niederrinnen und auf den nassen Bergen hie und da ein blitzender Mondfunke harrt. Der Orion ist schon tief geneigt und löscht bereits seine ersten Sterne an dem schwarzen Gebirgsrande aus – ein anderer Stern, ehe er völlig untergeht, blitzt noch so lebhaft, als sollte man in der Stille sein Knistern hören können – der halbe Mond aber steht noch hoch am Himmel und übergießt ihn mit dem Flore seines milchigen Lichtes, jedes Sternlein in seiner Nähe vertilgend. Alles, was unser Blick überschauen kann, von der Kette angefangen, die unter dem blitzenden Sterne ihren Schattenriß gegen den Himmel legt, über alle Höhen und Hügel herüber, auf denen jetzt die mattfärbigen Felsen ragen oder die feuchten Wälder stehen, alles dieses bis zu den schweigenden Zacken draußen, die die letzten das Licht des Mondes auffangen, alles, was wir so übersehen, steht unter den Fittigen jenes Schlosses, das wir heute mit den zwei Freunden besucht haben, und alle Wesen, die jetzt da unten schlummern und träumen, erwarten von ihm ihr Wohl oder Wehe. Wir aber wünschen von Herzen, daß sie sämtlich unter die Obhut des sanften, freundlichen Mannes gelangen mögen, der heute in jenem Mauerwerke gewesen und schon so lange mit Bewunderung zwischen diesen grünen Bergen herumgegangen ist. Er ist einfach und milde, und wird eine leichte und hülfreiche Hand über ihre Häupter strecken. Wir aber verlassen nun auch unsere Höhe und lassen den Rest der Nacht ungesehen und unempfunden über die stummen Berge hinweggehen, bis ihr letzter Silberschein weit draußen im Westen erblasset und die goldene Flamme des Morgens über ihre Häupter hereinschlägt, alle Stimmen, die jetzt schweigen, zu neuen[408] Freudenrufen erweckend, und alle Leben, die jetzt tot sind, zu neuem Wogen und Wallen geleitend.

Als nun dieser Morgen angebrochen war, finden wir Heinrich in seinem Zimmer bereits aufgestanden und angezogen. – Er beschäftigte sich, indessen draußen die feurigen Goldströme um alle Hütten spielten, damit, daß er Pflanzen und Mineralien in flache Kisten packte, und wie eine fertig war, den Deckel anschraubte und ihn mit einer Aufschrift versah. So tat er fast den ganzen Tag. Und wie oft er indessen an das Fenster gegangen, ja selbst den Garten durchstreift hatte, so hatte er doch Anna nicht zu sehen bekommen; es war fast, als wiche ihm das Mädchen aus. Nur gegen Abend, als man ihn über den Steg und dann die Grahnswiese emporgehen sah, lauschte ihr Angesicht zwischen den weißen Vorhängen ihres Fensters heraus und sah ihm nach, so lange er zu erblicken war. In der Dämmerung kam er wieder zurück, und der große Wirtshund ging mit ihm, weil er ihn oben am Hage gefunden hatte und ihm überhaupt sehr zugetan war. Die Tiere kennen gute Menschen und gesellen sich zu denen, die ihnen wohlwollen.

So verging auch der andere Tag und der nächste wieder. Mittwochs aber, da er eben über seine Gassenstiege herabgegangen war, um später sein Mittagsmahl zu nehmen, lief Anna hochrot aus dem Gassengärtchen herbei und sagte zu ihm: »Seit Morgen liegt schon ein Brief an Euch in des Vaters Stabe; Thrinens Syndikus hat ihn mit einem eigenen Boten gesendet.«

Heinrich entfärbte sich bei dieser Nachricht, und beide, ohne sonst ein einzig Wort zu sagen, gingen wieder auseinander.

Der Brief aber war von Heinrichs Mutter. Zitternd entfaltete er ihn und las, wie folgt: ›Lieber Sohn! Du schreibst ohnedem so selten, und dann wieder so kurz, daß wir nicht wissen, wie es Dir geht, oder was Dir fehlt,[409] damit wir es Dir schicken. Und vonwegen Du geschrieben, so läßt Dich der Herr Pfarrer grüßen und Dir sagen, daß es wirklich in der Traumartikel der Kirche zu Grünberg steht, daß Dein Urgroßvater Melchior im Jahre Christi 1719 mit der tugendhaften Jungfrau Angelika Scharnast ehelich kopuliert worden ist, welche die Tochter des Obristen Julius Scharnast gewesen ist. Der Obrist aber war gar ein Graf gewesen, ehe er gekommen ist, aber das steht nicht darinnen, sondern wenn Du es wissen willst, wie sich alles begeben hat, so meint der Herr Pfarrer, dieses werde im Amte zu Grünberg aufgeschrieben sein, und daß Du es Dir sollst aufschlagen lassen. Oder wenn es nicht aufgeschrieben ist, so hat schon der vorvorige Syndikus zu Deinem Vater gesagt, daß verschlossene Schriften von dem Obrist im Amtsgewölbe liegen, aber es ist wieder alles beim alten geblieben. Wenn es zu Deinem Fortkommen dienlich ist, so komme lieber selber und sehe alles an. Deine Schwester ist wieder sehr krank gewesen, nun aber schon besser. Die Kiste mit den Kräutern haben wir an den Boten abgegeben, aber es wäre uns lieber, wenn Du doch etwas anderes tätest und Dich zu etwas anderm wendetest, allein Du wirst es schon selbst am besten verstehen. Ich grüße Dich mit meinem ganzen Mutterherzen, die Schwester grüßt Dich auch, und so behüte Dich Gott, und ich bleibe Deine treue Mutter, Magdalena.‹

Heinrich legte den Brief wieder zusammen, und war er bei dessen Entfaltung blaß gewesen, so wurde er nun nach dessen Lesung flammend rot. Es wären fast Tränen der Rührung über die guten, einfältigen Worte der Mutter hervorgebrochen – aber er hatte jetzt nicht Zeit, sondern mit äußerster Hast lief er wieder in seine Stube, packte noch in Eile alles zusammen, was herum lag, und versah es mit Aufschriften, daß es der Boten-Simon am künftigen Montage mit sich fortnehme; den Koffer mit[410] seinen Kleidern gab er einem Schubkarrenführer aus der Fichtau, daß er ihn sogleich zu Robert nach Priglitz bringe, dann verzehrte er einige Bissen von seinem Mittagsessen, ohne daß sie ihm sonderlich schmecken wollten. Da alles dieses geschehen, ging er zu Erasmus, der mit den Seinigen am Gartentische noch beim Mittagsmahle saß, um seine Rechnung zu berichtigen und Abschied zu nehmen. – Erasmus brachte bald auf einem Täfelchen die Rechnung, strich das erlegte Geld ein und versprach, daß jede Kiste mit dem Boten-Simon pünktlich und am rechten Orte eintreffen solle. Heinrich reichte dem Vater und der Mutter die Hand; zu Anna sagte er bloß die Worte: »Lebt recht wohl, Jungfrau!« – sie sagte auch kein einziges Wort als: »Lebt recht wohl!« – dann wendete er sich um und ging fort.

»Es ist im Grunde doch ein recht kerngutherziger Mensch«, sagte Vater Erasmus, und alle drei aßen sie fast traurig an ihrem Mittagsmahle weiter.

Am andern Tage kam durch einen Holzknecht die Nachricht von Priglitz, daß Heinrich und Robert abgereiset wären, man weiß nicht wohin. Die Sache bestätigte sich auch, indem noch desselben Tages Thrine samt ihrem Kinde zu ihrem Vater, dem Schmiede, in die Fichtau auf Besuch kam und über eine Woche blieb. Auch sie wußte nichts über das Ziel der Reise. Endlich fuhr sie wieder nach Hause.

Ein Tag um den andern verging, ohne daß die Männer zurückkehrten, eine Woche nach der andern verging. Als aber endlich Robert allein zurückkam, so kam mit ihm zugleich eine Nachricht mit, die wie ein Lauffeuer von Land zu Land lief, von einem Berge der Fichtau zum andern, und die in Annas verborgenem Herzen einen ganzen Sturm von Freude und einen fürchterlichen Schreck emporjagte.[411]

Quelle:
Adelbert Stifter: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 1, Wiesbaden 1959, S. 354-412.
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