An meine Schwiegerinn, die Gräfinn Sophie zu Stolberg

1804.


In meine ihr gegebene Uebersetzung des Sophocles eingeschrieben.


In schönen Stunden schwebet' auf Sophocles

Cothurn auch ich einst; Doch es sind schönere,

Wenn uns, von Worten unentweihte,

Stille Begeistrung der Mus' umsäuselt.


Wohl sind die schönen, wohl sind die schöneren

Mir werth. Doch was sind schöne, was schönere,

Gewogen mit der Stunden schönsten? –

Welche? – Du fragst, und wer kennt, wie Du, sie?
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Wenn Lieb' an heil'gem Strahle das Herz entflammt,

Wenn sich auf Ahnungsfittigen schwingt der Geist

Empor – denn, ach! die Seinen flossen

Nieder!1 wenn Sehnsucht das Auge feuchtet.


In solchen Stunden schlag' ich die Bundeshand

Ein in die Rechten meiner Vertrautesten;

Dann drück' ich meine Lippen, ewig

Theure Sophia! auf Deine Wange.

Fußnoten

1 ... »denn, ach! die Seinen flossen Nieder! ...«

Eine Anspielung auf folgende Stelle meines Otanes:

Die Geister sanken, sanken in Wohnungen,

Zwar nicht des Urlichts, doch von der Sonn' erhellt;

Die Schwingen flossen weg, des Leibes

Banden bestrickten die Strahlgestalten.


Die Anmerkung zu dieser Strophe lehrt, daß die morgenländischen Weisen die Beraubung der verlornen Engelgestalt Πτερορυησις nennen: Wegfließung der Schwungfedern.


Quelle:
Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Band 2, Hamburg 1820, S. 199-200,204-205.
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