20. Kain am Ufer des Meers

[52] 1774.


Wehe, wehe mir! Wohin

Treibt mich mein geschlagner Sinn?

Gottes Ströme brausen her!

Abels Blut! es ist das Meer!


Bis zur Erde letztem Rand

Hat die Rache mich gebannt!

Wo kein Jammer noch geklagt,

Hat mich Abels Blut gejagt!
[52]

Wehe mir! des Bruders Blut

Donnert in der wilden Flut!

In des Felsenufers Schall!

In der Grotten Wiederhall!


Wie den Stein das Meer umfleußt,

So umströmen meinen Geist

Seelenangst und Qual und Wut,

Gottes Schrecken! Abels Blut!


Öffnet, Wogen, euren Schlund,

Ach! der Muttererde Mund

Trank sein Blut, da ich ihn schlug,

Und vernahm des Rächers Fluch!


Öffnet, Wogen, euren Schlund,

Und enthüllet euren Grund!

Ach umsonst! Die Rache wacht

Auch im Schoß der alten Nacht!


In der tiefsten Tiefe Graun

Würd' ich Abels Schatten schaun!

Würd' ihn schauen, ob ich flöh'

Auf des höchsten Berges Höh!


Würde dieses Leibes Staub

Aller Wirbelstürme Raub,

O so schaute Kain doch

Gottes Feuereifer noch!


Ohne Maß und ohne Zahl

Wütet meiner Seele Qual,

Ohne Grenzen ferner Zeit,

Währt in alle Ewigkeit!


Denn mich traf des Rächers Fluch,

Da ich meinen Bruder schlug!

Wehe! wehe! wehe mir!

Abels Schatten folget mir!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 52-53.
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