28. Die Begeisterung

[62] An Voß.


1775.


Sie ist da! die Begeistrung, da!

Heil mir! und reden kann die trunkne Lippe!

Von schneeichten Alpen

Schwebt auf der Abendröte Flügel sie zu mir herab,

Weilet nicht, fleugt auf,

Atmet, ihr blendendes Gewand

Gegürtet mit Regenbogen,

Umwunden ihr Haar mit gestirntem Diadem,

Atmet feinere Lüfte,

Himmelslüfte!

Zieht mich ihr nach,

Tränket mit Tau des näheren Himmels mich!


Heil mir, daß ich kenne

Die Strahlende!

Heil mir, daß sie würdiget

Ihres Fluges mich!

Göttin, so du mich führst,

Flieget, nichtiges Gestäub,

Unter dem Flügelschlag meiner Phantasei,

Sonne dahin und Stern! Milchstraße dahin!

Heil mir, daß ich kenne

Die Flammende!

Daß kühn ihr folget der Flügelschlag meiner Phantasei

Durch die Nacht hindurch und der Erde Bauch!

So die Göttin gebeut,

Öffnet ihr sich der schwarze Schoß

Ewiger Finsternis,

Es umrauschet ihre Glieder das Gewand der Nacht!

Flammenatmend erhellst du Abgründe vor mir her,

Deine wehende Fackel zeigt und gebeut mir Flug![63]

Ha! wie den Fremdling staunet an

Der Unterirdischen schüchternes Geschlecht!

So staunt an der Maulwurf das gezeigte Licht;

So staunt an der Pöbel,

Pöbel in Purpur und gehüllt in Schulstaub,

Den erdehöhnenden Gesang

Der Begeistrung, und des Dichters, den nur sie gebar!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 62-64.
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