90. Sehnsucht

[163] 1790.


Flügel! wer giebt mir Flügel! daß ich Ruhe

Finde? Flügel mir her! Des Liedes Fittich

Schweift in Banden, trunken, nicht frei, vergißt der

Dichter die Kette,


Aber sie klirret selbst im Schwung geteilter

Lüfte; freiere Schwünge heisch' ich! Ahndung

Hebt und Sehnsucht über den Wolkenkranz des

Schneeichten Pindus;


Aber auch da noch lechz' ich! Flügel! Flügel

Wie die Liebe sie heischt! wer giebt mir Flügel,

Daß ich Ruhe find', in der Ruhe Wonne,

Wonne der Liebe!


Täuschender Sinnentand, du bunter Kerker,

Wo ich Schemen umarme, selbst ein Schemen,

Einst zerfällst du! Nichtiger Zauber schwindet

Dann vor der Liebe


Mächtigen Stabe, dem in Tanz die Geister

Folgen, Schemen nicht mehr! im Tanz des Fluges

Hin zum Urquell ewiger Ruh' und Wonne,

Ewiger Liebe!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 163.
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