Elftes Kapitel

Die Jubelhalle

[180] Die Jubelhalle, die bürgerlich »Jubiläumshalle« hieß. Viele Treppenstufen hinunter in einen riesigen Gasthaussaal und rechts vom Eingang wieder zwei Stufen hoch in einen kleineren Seitenraum – schmal, lang und im rechten Winkel geknickt.

Das war sie. Das war die Kneipe der Landsmannschaft »Littuania«, zu der von Traditions wegen an Grünzeug alles gehörte, was aus dem nordöstlichen Winkel der Provinz nach Königsberg studieren kam.

Vorausgesetzt, daß es überhaupt »einspringen« wollte.

Und dazu gehörte ich nicht. Wie konnte ich auch? Für die drei Monate des Sommersemesters hatte nach langem Bitten und Drängen mein Vater mir Unterhalt versprochen. Was dann aus mir werden würde, wußten die Götter.

Ich hatte mich auch nur so mitschleppen lassen. Aus Schwäche, aus Dünkel, aus Neugier – was weiß ich? Sich den Scherz mal anzusehen, verpflichtete zu nichts.

Aber die zeremonielle Hochachtung, mit der ich schon an der Tür empfangen wurde, gab mir sofort das Gefühl der inneren Hergehörigkeit.

Sodann erhielt ich an der Kneiptafel einen bevorzugten Platz, nicht weit von dem Hochsitz des ersten Chargierten.

Ein bildschöner junger Mann mit schmachtenden Italieneraugen bat um die Ehre, neben mir Platz nehmen zu dürfen. Er hieß Neiß I und war Mediziner in den letzten Semestern. Und bald fand ich mich in ein tiefgründiges Gespräch über Menschheitswerte, über die Geschichte des Erlösungsgedankens, über den Widerstreit werdender Weltanschauungen,[181] kurz, in Themata verwickelt, wie große Geister sie lieben, wenn sie bei einem Symposion den angeflogenen Staub der Mittelmäßigkeit sich von der Seele spülen.

Trinksprüche wurden ausgebracht, Lieder wurden gesungen, die Wogen allgemeiner Glückseligkeit brandeten an mir hoch und rissen mich mit sich.

Das Herrlichste von allem aber war: Ich hatte wieder einen Freund, der mich verstand, wie ich ihn zu verstehen bestrebt war, einen Freund, der trotz des Unterschiedes der Jahre sich in edler Seelenharmonie zu mir bekannte und der willens war, mich an sanfter Hand durch die Irrgänge der Studienzeit zu geleiten.

So groß war dieses Glück, daß alle Bedenken dahinter verschwanden, und als ich gegen zwei Uhr morgens von ihm Abschied nahm, bat ich ihn, meinen Wunsch, den Litauern anzugehören, alsbald zur Anmeldung zu bringen.

»Übereilen Sie nichts, lieber Freund«, erwiderte er, »kommen Sie wieder, einmal – zweimal – und dann entscheiden Sie sich.«

Ich dankte ihm heiß für die zarte Rücksicht, mit der er mein Freiheitsgefühl behandelte, und erst später erfuhr ich ihren eigentlichen Grund, nämlich daß ein dreimaliger Besuch der Kneipe nötig war, um aufgenommen zu werden.

Die Stunden des nächsten Vormittags wandte ich an, um meine Geldmittel zu überschlagen. Wohnungsmiete, Kollegiengelder, Fechtstunden, Couleurbeitrag; – für Essen und Trinken blieb sehr, sehr wenig zurück.

Aber als ich mittags wieder zur Jubelhalle kam – mit den gleichen respektvollen Verbeugungen empfangen – und für dreißig Pfennige eine Bouillonsuppe vorgesetzt erhielt, in der ein durchaus achtungswertes Stück Rindfleisch beruhigend umherschwamm, während auf den ringsstehenden Brottellern die Semmelberge nur darauf warteten, gratis als Zukost verwertet zu werden, da ging mir leuchtend die Erkenntnis auf,[182] daß ich noch Ersparnisse machen würde, wenn ich mich in diesem Lande der Seligen als Insassen eintragen ließ.

Und diese Rechnung vervollständigte sich, als ich um die Abendbrotszeit den Ruf »Radies! Radies! Radies!« unter meinem Fenster erschallen hörte.

Für zehn Pfennige Radieschen, für zehn Pfennige Weißbrot dazu – Salz und Butter, die man von zu Hause bezog, gar nicht gerechnet – so blieben immer noch etliche Groschen, die man für Bier nutzbringend auf der Abendkneipe anlegen konnte.

Kein Zweifel mehr: es würde sich machen lassen.

Vierundzwanzig Stunden später trug ich das grün-weiß-rote Band.

Aber kaum hatte ich es mir um die Brust geschlungen, als sich das Bild meiner Umgebung seltsam veränderte.

Von der rücksichtsvollen Hochachtung, die mich bisher so wohltuend berührt hatte, war keine Spur mehr vorhanden. Im Gegenteil: Wo ich mich sehen ließ, wurde ich angeschnauzt und umhergestoßen, wurde ich 'rumkommandiert und geschurigelt.

»Fuchs, tu mal dies! Fuchs, tu mal jenes! Fuchs, steig in die Kanne! Fuchs, halt's Maul! Fuchs, trink deinen Ganzen pro poena.« Und so immerzu.

Ratlos schaute ich mich nach einem Helfer um, aber da war keiner, der nicht gegen mich verschworen gewesen wäre. Daß es den anderen Füchsen nicht besser erging, tröstete mich wenig. Ich sah nur mein Leid und sah nur mich en canaille behandelt.

Meine einzige Rettung war der neue Freund, dem meine Seele sich verbrüdert fühlte. Aber wie sehnsuchtsvoll ich auch nach ihm ausschaute, er ließ sich nicht mehr blicken.

Zwar gab es auch einen Neiß II, aber der war eine aufgequollene Biertonne und schien für vertrauliche Ansprachen wenig geschaffen.[183]

Trotzdem trat ich eines Abends, mir ein Herz fassend, an ihn heran und fragte: »Wo ist dein Bruder, Neiß?«

»Was geht dich mein Bruder an, Fuchs?« fragte er zurück.

Da wußte ich nichts zu sagen und zog mich bescheiden zurück.

Aber bei der nächsten »Offiziellen« war er plötzlich da.

Mit ausgestreckten Händen stürzte ich auf ihn zu.

»Neiß, Neiß, Neiß!«

Er maß mich mit einem Blicke, der gar nichts Schmachtendes mehr an sich hatte, von oben bis unten und fragte verweisend: »Was is los?«

Da war mir klar, daß ich auch ihn verloren – oder vielmehr, daß ich ihn nie besessen hatte.

Und während ich daranging, diesen neuen und tiefsten Schmerz tapfer hinunterzuschlucken, hörte ich, wie er, auf mich zurückweisend, zu seinem Nachbar sagte: »Es war ein hartes Stück Arbeit mit dem Schafskopf.«


Die Fron, in die ich mich begeben hatte, nahm ihren Fortgang, und so schwer lastete sie auf mir, daß für den eigentlichen Zweck meines Daseins nur wenig Kraft und innere Anteilnahme übrigblieb.

Zwar versäumte ich meine Pflichten nicht. Ich besuchte die Kollegien, die ich belegt hatte, und noch einige darüber, aber viel Segen ruhte nicht darauf. Verkatert, mit dumpfem Schädel saß ich da und schrieb stumpfsinnig nach, was ich auffing. Angelsächsische Grammatik und altfranzösische Dialekte und Gotisch, und was weiß ich? Fleißig zu sein, war notwendig, denn das Semestralexamen, von dessen Ausgang die heißersehnten Stipendien abhingen, wartete meiner.

Auf der Kneipe war der Kollegienbesuch nicht gerade verboten – im Gegenteil, man sagte uns sogar, er sei erwünscht – aber als Streber und Musterknabe angeulkt zu werden, mußte ängstlich vermieden werden. Und schließlich machte man's,[184] wie man's die anderen machen sah: man schlief sich morgens erst einmal aus, dann ging man auf die Kneipe, sich ein Paar warme Würstchen samt einem Kümmel zu vergönnen, und hierauf strebte man dem Fechtboden zu, um den steifen Gliedern das nötige Gelenkschmalz zu erarbeiten.

Nachmittags drosch man in der Steinerschen Konditorei bei Kaffee und Likören einen Viermännerskat oder begab sich zu einem Bummel nach den »Hufen«, wo man »naturkneipte« und Bier dazu trank, und abends tat man dasselbe, wobei es der Natur überlassen blieb, sich mittels geöffneter Fenster durch Bierdunst und Tabaksqualm hindurch bemerkbar zu machen.

Als die erste Frühsommerzeit kam, wurde die Kneiptafel zwar in den Garten verlegt, wo wir die Genugtuung hatten, uns von den ringssitzenden Spießern bewundert und beneidet zu sehen, aber schließlich war es immer dasselbe »Spinnen« und »in die Kanne steigen«, dasselbe Zutrinken und »sich löffeln«, dasselbe Gröhlen und Herbeten von Trinksprüchen – ein fades, freches Spiel mit Jugendkraft und Gesundheit, mit Nachtschlaf und Gedankenfreiheit.

Gedankenfreiheit – jawohl.

Wenn es in meinem Leben jemals eine Knechtschaft gegeben hat – noch eine weiß ich, und die hieß »Literatur«, aber die kam erst viel später –, wenn es jemals eine Knechtschaft für mich gegeben hat, sage ich, dann war es der übermächtige Zwang, der damals mein geistiges Leben in Bahnen drängte, auf denen es nichts, aber auch gar nichts zu suchen hatte.

Diese Bahnen führten zum Paukboden. Ihr Ziel hieß Mensur.

Wer niemals einer schlagenden Verbindung angehörte, hat keine Ahnung von der Bedeutung, die dem Paukwesen im Leben des deutschen Couleurstudenten zukommt.

Man denke sich: Ein junges, wissensdurstiges, höchsten Zielen zugewandtes Menschenkind wird ahnungslos in die Welt[185] hinausgelassen, mit einer Gedankenfabrik im Hirn, die ohne Mühe alles aufnehmen und verarbeiten kann, was die Großen im Reiche des Geistes jemals geschaffen haben, mit jenem Assoziationswunder versehen, das nur die Zwanziger kennen und auf das wir Älteren und Alten wehmütig zurückschauen als auf das verlorene Paradies – und vier Wochen später sitzt dieses selbige Menschenkind eingepfercht in einem geistigen Stalle, in dem sonst nur die Gladiatoren und die Faustkämpfer hausen, von Blut und Karbolgeruch durchdünstet, gefüllt mit den Ruhmeskränzen von so und so viel kunstgerechten »Abfuhren«, durchtönt von dem Geschrei »Tiefquart«, »Hackenterz«, »P.P.-Suite« und dergleichen.

Ein neuer Ehrgeiz, ein neues Daseinsziel ist plötzlich auferstanden und hat alles ausgelöscht oder mindestens zur Nebensächlichkeit gestempelt, was bis dahin Hausblick, Hoffnung, Waffenfreude und Siegeslorbeer war.

Dieser oder jener mußte lernen. Nun gut, er lernte. Aber nicht fünf Minuten länger, nicht mit einem Bruchteil innerer Anteilnahme mehr, als unbedingt notwendig war. Dann kehrten seine Gedanken sofort zu der Heimstätte seiner Sehnsucht, seiner Begeisterung, seines eigentlichen Lebenswertes zurück, und die war nichts anderes als – die Mensur. Jede Unterhaltung drehte sich um die Mensur. Jedes etwa sonst noch vorhandene Interesse wurde erwürgt durch das für die Mensur. Die Universität mit ihren Lehrern war gar nicht vorhanden. Es wäre beschämend gewesen, an der Kneiptafel ihrer Erwähnung zu tun. Allenfalls, wenn es gegen Schluß des Semsters ans »Abtestieren« ging, wurden die Mittel und Wege erwogen, wie die Unterschrift des Professors, den viele nur dem Namen nach kannten, sich am besten erschwindeln ließ.

Die Mediziner waren durch das Physikum und die praktischen Kurse am ehesten gehalten, sich den Forderungen ihres Studienganges zu fügen. Wurde es ernst, dann gingen sie ins[186] »Reich« oder sie ließen sich inaktiv schreiben und wurden dann nur selten noch gesehen, die Juristen aber leisteten an Zeitvergeudung Ungeheuerliches. Was sie, um den Referendar zu »schmeißen«, schlechterdings gelernt haben mußten, wurde dem »Einpauker« überlassen, dessen Kunst sie schließlich durchs Examen schleifte, nachdem sie fünf bis sechs Semester lang das Universitätsgebäude nur gesehen hatten, wenn ein Couleurbummel sie über Königsgarten führte.

Wir Philologen hielten die Mitte. Mit Ach und Krach kamen die meisten ans Ziel, und wer gegen das achte Semester hin einsah, daß das späte Büffeln nichts mehr nutzen konnte, der stürzte sich in die Hauslehrerei, um sich derweilen auf das Mittelschulexamen vorzubereiten, das ihm dann schließlich gelang.

Auf diese Weise wurden mindestens vier Semester gewonnen, die fast uneingeschränkt dem Suff und den Klopffechtereien zugute kamen.

Ich darf nicht unerwähnt lassen, daß die studentischen Mensuren durch die Gesetze aufs strengste verboten waren. Aber ich brauche nicht erst zu schildern, mit welchem Hohn wir hierüber die Achsel zuckten. Die Pedelle stellten sich blind, und die Polizeisergeanten kriegten Zigarren.

Wie konnte es anders sein in einem Staate, in dem man S.C.-Student gewesen sein mußte, um in der Beamtenhierarchie zu etlicher Geltung zu gelangen?

Auch in Königsberg gab es einen S.C., der uns Litauern mancherlei Kopfschmerzen machte. Heute sind sie Korps geworden und gehören selber dazu. Damals aber, standen wir nicht einmal mit ihm im Kartell und durften darum die Waffen nicht kreuzen.

Dieses Kartell war uns Sehnsucht und Abscheu zugleich, denn einerseits brauchten wir es, um den brachliegenden Kräften von fünfzig grobschlächtigen jungen Kerlen die gewünschte[187] Betätigung zu geben – die Goten, die einzige Verbindung, mit denen wir fochten, konnten unseren Blutdurst nicht befriedigen – andererseits hätten wir durch das kaudinische Joch der Bedingungen kriechen müssen, die man uns stellte.

Ein Beispiel: wir schlagen mit »Schilfklingen«, die Korps verlangen »Blutrinnenklingen«. Ich bitte: welche ehrliebende Verbindung wird Waffen, die sie als richtig erkannt hat, zum alten Eisen werfen, weil der Übermut der Gegner sich darin gefällt, ihr andere aufzuhalsen?

Nimmermehr, nimmermehr!

Und so tobte der Kampf: »Hie Schilfklingen« – »hie Blutrinnenklingen«, als hätten alle Streitfragen der Menschheit sich in ihm verkörpert.

Doch schließe man aus diesen kritischen Erörterungen nicht etwa, daß ich ein »Kneifer« war! Im Gegenteil: ich stand leidenschaftlich gern auf Mensur und berechtigte sogar zu wohlbegründeten Hoffnungen. Hätte ich ein paar Semester länger ausgehalten, weiß Gott, welch ein Matador noch aus mir geworden wäre! Mit den Tiefquarten freilich war nicht viel bei mir los. Sie kamen meistens flach und taten darum keinen Schaden. Aber eine Terz hatte ich am Leibe, die saß – über die Parade weg – dem Gegner am Hinterkopf, kurz über dem Genick, und wäre mit der Zeit unwiderstehlich geworden. Jawohl, es sind herrliche Talente in mir zugrunde gegangen.

Aber, meine Verehrtesten, so stark ist der Seelen zwang, den jene Welt auszüben vermag, daß trotz meines Spottes heute, nach mehr als fünfundvierzig Jahren, beim Niederschreiben dieser Zeilen die Brust sich mir schwellt vor Stolz, daß ich ein tüchtiger Fechter gewesen bin. Und als ein Semester später, nachdem ich im Zorne ausgesprungen war, ein ehemaliger Couleurbruder mich auf der Straße traf und zu mir sagte: »Jetzt, Sudermann, wo wir mit dem S.C. Kartell haben« –[188] man war nämlich doch durch das »Joch« gekrochen – »jetzt könnten wir deine Klinge gebrauchen!« – da war mir das ein Lob, von dem ich freudestrahlend lange Zeit über gezehrt habe.

Wie ich mein ganzes Leben hindurch vor jedem wirklichen Könner einen unbegrenzten, durch keine Feindschaft je zu beirrenden Respekt in mir gehegt habe, so war ich auch damals unseren Gewaltigen in heißer Bewunderung zugetan: vertraten sie doch die Ehre der Couleur, hing doch von ihnen auch mein Stolz und meine Würde ab.

Mein höchstes Ideal aber hatte ich nicht in der eigenen Verbindung, sondern drüben bei unseren Gegnern, den Goten, gefunden.

Es war Robert Hessen, derselbe Robert Hessen, der sich später, seiner ärztlichen Praxis untreu, der ästhetischen Schriftstellerei in die Arme warf und den manche meiner Leser persönlich gekannt haben werden, denn er lebte ja – wenn auch in den letzten Jahren vereinsamt und verbittert – in Berlin unter uns und ist vor zwei Jahren gestorben.

Ein junges Menschengewächs, herrlicher als ihn, habe ich niemals mit Augen geschaut. Gegen sechs Fuß hoch, breitschultrig und schmal in den Hüften, mit einem Gürtel, in dem der Oberkörper wie in einem Kugelgelenk gleitend und federnd sich hin und her wiegte, die Nase geradsattlig, wie aus Erz gegossen, und ein Paar Augen, die mit dem Feuer eines geschliffenen Kiesels hart, grau und blitzend die Welt zu umfassen, doch leider nicht zu meistern verstanden, denn seine Seele war weich und wundem Ehrgefühl unterworfen.

Ihr Frauen und Mädchen, die ihr dies lest, ich wünschte euch wohl, ihr wäret ihm in jenen Jahren begegnet. Viel, viel später, als er schon einen weißen Kopf hatte, sagte eine junge und noch ganz keusche Dienstmagd, die ich den weiten Weg bis nach der Großbeerenstraße zu ihm schickte, mit leuchtenden Augen: »Ach, zu einem so schönen Herrn läuft man gern bis[189] ans Ende der Welt.« Und manche edelblütige Frau hat wohl dasselbe gedacht.

In diesem Robert Hessen hatte ich den Inbegriff all meiner Wunschträume gefunden. Ohne daß er es ahnte, bin ich ihm oft auf der Straße nachgelaufen, nur, um ihn ausgiebiger bewundern zu können.

Er galt als der beste Schläger der Albertina und war es wohl auch, obwohl die Kartellverhältnisse ihm nicht vergönnt hatten, sich mit allen den Großen zu messen. Er trat auch damals nicht mehr auf Mensur, denn er war schon in den letzten Semestern.

Aber einmal habe ich ihn doch noch fechten gesehen.

Wir hatten in unseren Reihen einen besonders gefürchteten Schläger mit Namen Sinnecker, der »Linkser« war und als solcher eine Hackenquart schlug, der sich keine Parade auf Erden gewachsen zeigte. Diese Hackenquart, die nur dem »Linkser« und dem mit ihm Kämpfenden erlaubt ist, wird von unten auf ins Gesicht geschnellt, gleichsam »gespickt«, und darum war sein Spitznahme »Spicker«.

Unser »Spicker«, der alles abgestochen hatte, was ihm je in die Quere gekommen war, hegte den Ehrgeiz, mit Hessen loszugehen.

Es gab lange Verhandlungen, den Hessen hatte Examensorgen und wollte nicht mehr. Aber als man ihn beim Ehrenpunkt faßte – er hätte nicht Hessen sein müssen, wenn nicht alle Examina der Welt ihn nun noch den Teufel geschert hätten.

Ich sage euch: Es war ein Gigantenkampf.

Von beider Gesichtern war bald nichts mehr zu erkennen, so ganz und gar hatten sie sich zu Klopsfleisch gehackt. Ein jeder stand in einem kleinen Landsee von Blut, der ab und zu mit Sägespänen voll gefüllt wurde und im nächsten Augenblick wieder Wellen schlug.

Zehnmal schon hätten beide »abtreten« müssen, aber sowohl[190] die Ehre der Couleur als auch die Ehre des einzelnen verlangte, daß sie weiterschlugen.

Und so zerfleischten sie sich immer los, bis – ja, bis – ich weiß es wirklich nicht. Wäre ich Hessen später nicht häufig begegnet und wüßte ich nicht, daß er tot ist, so würde ich glauben, sie kämpften noch heute.

Von den eigenen Heldentaten will ich – und nicht bloß aus Bescheidenheit – geziemend schweigen. Abgestochen habe ich nur einmal. Dafür bin ich auch niemals als Unterlegener vom Kampfplatz getreten, und dies ist das einzige Lob, das ich mir spenden darf.

Daß ich das Mensurwesen nicht heilig, ja, nicht einmal sehr wichtig nahm, war die erste Veranlassung, die mich bei den älteren Semestern in Ungnade fallen ließ.

Ein Fuchs, der vom »Losgehen« als von einer hübschen Waffenübung, von einer an sich bedeutungslosen Geschicklichkeitsprüfung sprach, war ein Religionsschänder, der dem guten Geist der nachfolgenden Generationen nur verderblich sein konnte. Er mußte also »geduckt« werden.

Und alsbald fand ich mich, wo ich ging und stand, von übelwollenden und anzüglichen Bemerkungen behelligt, die vielleicht nur den Zweck verfolgten, mich zu »erziehen«, mich aber im tiefsten Innern scheu und trotzig machten.

Und dann ereignete es sich, daß man meinen geheimen Freveltaten auf die Spur kam. Wie und von wem sie entdeckt worden sind, ist mir ein Rätsel geblieben. Vielleicht habe ich mich im Suffe jemandem anvertraut, vielleicht hat einer in meinen Papieren gestöbert, kurz, als wir eines Abends in der Jubelhalle bei der »Offiziellen« saßen, rief mein Nachbar die Kneiptafel entlang: »Ich werde euch ein Weltwunder zeigen.«

Männiglich reckte den Kopf, ich nicht zum mindesten.

Und dann hieß es: »Sudermann, steh mal auf!«

Verwirrt und im voraus voller Beschämung erhob ich mich.[191]

Und wie man auf Jahrmärkten der staunenden Menge ein zweiköpfiges Kalb präsentiert, so schrie die Stimme des Ausrufers: »Hier ist ein Fuchs, ein krummer Fuchs, ein taugenichtsiger Fuchs, der, statt allabendlich auf die Kneipe zu kommen, auf seiner Bude huckt – und was tut ...?

Ihr ratet es nicht. Auf seiner Bude huckt und – Dramen schreibt!«

Ein unendliches Gelächter begrüßte den Mann, der mich so dem Spott und der Verachtung der Mit- und Nachwelt überlieferte.

Der »dramenschreibende Fuchs« wurde fortan durchreisenden Philistern als eine Sehenswürdigkeit gezeigt und mit einem milden Klaps zu den Gezeichneten geworfen, die man, da ihr Irrsinn verhältnismäßig harmlos ist, achselzuckend neben sich her laufen läßt.

Einige zwar, die vor geistigen Taten Achtung hatten, meinten: »Laßt ihn in Ruh! Wenn der sich richtig weiterentwickelt, kann er uns noch einmal ganz tüchtige Bierzeitungen liefern.« Der Mehrzahl aber blieb ich die Zielscheibe wohlfeilen Ulkes, der immer traf und allgemeinen Beifalls sicher war.

Man darf nicht glauben, daß dieses junge, unbändige Volk so bildungsfeindlich geartet war, daß es die Tatsache des Dramenschreibens an sich als etwas Verächtliches betrachtete. Es war die Unfaßbarkeit der Annahme, daß aus einem so vermessenen Beginnen etwas Ernsthaftes, sich in der Welt Behauptendes entspringen könne, was die komische Kontrastwirkung auslöste. Man wurde Richter, man wurde Arzt; wenn man sich als hervorragende Begabung erwies oder »Konnexionen« hatte, so kam man vielleicht sogar nach Berlin in die Verwaltung; aber Dichter werden, Erfolg haben und Ruhm ernten wollen – das durften nur andere dort irgendwo im Reich, Leute, denen man nie begegnete und die den Stempel des Genies weithin sichtbar auf ihrer Stirne trugen. Nicht aber ein armer Litauerfuchs, der schon dadurch allein, daß er[192] Litauer war, die Pflicht hatte, nicht anders zu sein als die Mittelmäßigen alle.

Und doch gab es einen, der sich von der Litauerkneipe aus durch sein Dichtertum die deutsche Welt erobert hatte. Dieser eine, dieser Große, von dem man nur mit ehrfürchtigem Staunen sprach, war der Nibelungendichter, war Wilhelm Jordan.

Auf seinen Fahrten als Rhapsode ist er auch einmal nach Königsberg gekommen und hat uns als Zeichen der Anhänglichkeit ein Dutzend Freikarten auf die Kneipe geschickt, sich selbst aber unter uns sehen zu lassen, hat er verschmäht. Wir erwarteten es auch nicht anders. Es wäre zu viel der Herablassung gewesen.

Dafür war sein Bruder da, ein versoffenes altes Haus, der Pielke-Jordan genannt, der aus dem Neste, wo er, wie ich glaube, als Amtsrichter waltete, zweimal im Jahre zum Sumpfen nach Königsberg kam. Und als ich den Schwerbetrunkenen einmal mit zwei anderen frühmorgens nach Hause brachte, da wagte ich ihn kaum unter den Arm zu fassen, so erfüllt war ich von zitternder Ehrfurcht, weil ich den Bruder des Mannes berühren sollte, der den »Demiurgos« gedichtet hatte.

Bei jener Nibelungenvorlesung hatte auch ich mir eine Karte erkämpft, und noch heute liegt mir der Singsang im Ohr, mit dem der damals Vergötterte seine stabreimenden Verse in die Welt hinausschleuderte.

»Hier ist ein Wunder, glaubet nur«, heißt es im »Faust«. Mit diesem Wort ist jede künstlerische Wirkung umschlossen.

Und ich glaubte.

Hernach bin ich viele Stunden lang durch die verschneiten Straßen gerannt und habe mir mit fieberndem Kopfe ausgemalt, wie auch ich einst von Stadt zu Stadt pilgern würde, um meinen Werken ein Prophet zu sein. Heute schreibe ich höchst gewundene Absagebriefe – es gibt wenige literarische[193] Vereine, die nicht ein solches Schriftstück besitzen – nur, um mir am Schreibtisch mein bißchen Morgenruhe zu erobern.


Ein Gutes brachte der Verrat meiner dichterischen Neigung mir doch: Er verschaffte mir einen Freund. Den ersten wahrhaften Freund, den das Schicksal mir bescherte, seitdem Blechschmidt zu den Schatten entglitten war.

Er hieß Reubekeul, war Naturwissenschaftler und ein Semester älter als ich. Ein goldener Junge, aber schon total verbummelt. Ein Sumpfhuhn von solchen Leichtsinnsqualitäten war mir noch nie in die Quere gekommen.

Es saß eine fröhliche Voraussichtslosigkeit in ihm, wie sie die Kinder und die Wilden haben, für die der kommende Tag nicht da ist und der vergangene nur dann, wenn es der Mühe verlohnt, sich daran zu erinnern. Ein hübscher, schlanker Bursch mit frischzerhauener Backe und einem Paar grauer Flunkeraugen im Kopf, die kein Mädel in Ruhe ließen, das unversehens in ihren Bereich geriet.

Vom Kolleg wußte er schon damals nichts mehr. Ich habe ihn auch nie mit einem Heft unter dem Arme gesehen. Dafür war er bei allen Dichtern gelegentlich zu Hause. Mirza Schaffy galt ihm als Held, den ganzen Scheffel konnte er auswendig, und was sich sonst an Anakreontik in unsere Welt hinein verirrte, fand in ihm seinen Propheten.

Eine eigentliche Wohnung hatte er nicht. Er liebte es, auf dem Sofa desjenigen zu kampieren, den er als den schwerst Betrunkenen nach Hause geleitet hatte.

Morgens kaufte er sich in einem nahe gelegenen Weißzeugladen einen frischen Kragen und zeigte sich dann wieder jeder Lage gewachsen.

Als wir vertrauter geworden waren, beredete ich ihn, sich wieder eine Bude zu mieten.

»Wozu?« erwiderte er. »Ich hab' ja schon zwei. Ich kann mich bloß nicht erinnern, wo sie liegen.«[194]

»Wo hast du denn deine Sachen untergebracht?« forschte ich.

»Ja, weiß ich?« antwortete er. »Die treiben sich so 'rum.«

Nach längerem Suchen gelang es mir, einiger Stücke habhaft zu werden, die ich bis auf weiteres in Gewahrsam nahm, und eines Tages überraschte er mich mit der Nachricht, er habe jetzt ein Wohngemach, wie es die Fürsten haben, und werde überhaupt anfangen, solide zu werden.

Das fürstliche Wohngemach entpuppte sich als ein verschmutztes Loch in der Koggenstraße, das wegen Wanzengefahr von allen Wissenden ängstlich gemieden wurde. Und als ich ihn darauf aufmerksam machte, erwiderte er: »Is ja egal, ich werde doch nie drin schlafen.«

Um ihn angesichts dieser üblen Vorsätze wieder ein wenig an Häuslichkeit zu gewöhnen, beschloß ich, ihn abends nicht mehr allein zu lassen und vorläufig die Bude mit ihm zu teilen.

Ich wollte mich auf das Sofa legen – wenn man ein quietschendes, stechendes, aus Bergen und Tälern bestehendes und trotzdem brettartiges Gebilde so nennen darf –, aber er erklärte mir, das gehe nicht an, er sei ans Sofaliegen gewöhnt und würde in einem richtiggehenden Bett kein Auge schließen. So wechselten wir also den Schlafplatz, und alles schien aufs beste geordnet.

Aber alsbald begann um meine langen Beine herum ein unheimliches Leben. Ganze Heereszüge zogen kribbelnd an ihnen entlang, und hie und da zischte ein Schmerz auf, der den Körper wie im Krämpfe zusammenzog.

Die Wanzen!

»O Gott, o Gott, die Wanzen!« jammerte nun auch mein Freund.

Wir standen auf, zündeten die Kerze an und durchkundschafteten das Terrain. Zwar von Bett und Sofa hatten beim ersten Lichtschein die unverzagten Gäste sich eilends zurückgezogen,[195] um so reichlicher dagegen bevölkerten sie nun die Wände, an denen die zerfetzten Tapeten wie Blumenblätter rundbogig herniederhingen. Dort, wo Tapete und Mauerwerk zusammenkamen, hatten sie sich Schlupfwinkel eingerichtet, wo ihnen die mordende Stiefelsohle schwerlich folgen konnte. Darum beschlossen wir, sie dem Feuertode zu überliefern, indem wir die Kerze an den Fetzen entlangführten. Die Tapeten loderten wunschgemäß auf und begruben in ihrem Flammengrabe das bissige Gesindel.

Aber es waren auch noch Bilder da, hinter denen es schwärzlich wimmelte wie in einer Volksversammlung.

Mit ihren pappenen Rückwänden mußte ein besonderes Autodafé veranstaltet werden, und wenn dabei auch die Bilder selber zum Teufel gingen, so blieben doch immer noch die Rahmen zurück, die unversehrt an die Wand zurückgehängt werden konnten.

Auf diese Weise wirtschafteten wir einige Nächte lang, ohne von einem nennenswerten Erfolge sprechen zu können. Dann wandte sich mein Freund von den Freuden eigener Häuslichkeit wieder dem gastlichen Sofa zu, das auf den Buden schwerbezechter Kommilitonen allzeit für ihn bereit stand.

Und so gefürchtet waren wir Herren Studiosen, daß beim Abschiede die Frau Wirtin statt der Rechnung für Bilder und Tapeten – auch eine Tischdecke war mitverbrannt – nur Segenswünsche für uns übrig hatte.

Im nächsten Winter kehrte die Lebensweise meines Freundes wieder zu leidlicher Ordnung zurück. Schade nur, daß das Glück seiner Eltern hierfür die Rechnung zahlte.

Das Gut, das sie viele Jahre lang bewirtschaftet hatten, war zum Zwangsverkauf gekommen. Mit ein paar übriggebliebenen Möbelstücken und sonst nichts retteten sie sich in die Stadt, um durch das Halten von Pensionären ihren Unterhalt zu finden. Dem alten Vater bot sich übrigens ein Ämtchen in[196] einem Milchbüro, das ihm hundert Mark monatlich brachte und ihn zwang, zu Sommer- und zu Winterzeiten um zwei Uhr früh in die Nacht hinauszustapfen.

Wer mein »Sodoms Ende« gesehen hat, der kennt das Hauswesen des alten Janikow und kennt auch die Eltern meines Freundes. Ihn selber aber kennt er nicht. Für die Gestalt jenes Willi hat ein anderer Modell gestanden, der erst acht Jahre später in mein Leben trat.

Der liebenswürdige Lüderjan, der jetzt darin rumorte, fand in diesem Sturze Halt und Zuflucht. In einer Bude, die freilich nicht ganz sturmfrei war, stand abends ein blütenweißes Bett für ihn bereit, und wenn er gegen Mittag die bierschweren Lider hob, brauchte er nur die Linke nach dem Klingelzuge auszustrecken, damit eine lieblächelnde Schwesterseele ihm ohne Groll und ohne Vorwurf die Kaffeetasse vor die Lippen hielt.

Sein Leben, in dem ein moralischer Aufschwung den anderen ablöste, sollte nun in entscheidender Weise zur Höhe emporgeführt werden. Aber da waren erstens die verfluchten Schulden, zweitens die verfluchten Mädels und drittens der verfluchte Kater, gegen deren Gemeinsamkeit erfolgreich anzukämpfen die Kräfte eines Sterblichen in einleuchtender Weise überstieg. Und darum blieb es fürs erste beim alten.

Daß mir selbst in den Augen der Seinen die Rolle des rettenden Engels zugefallen war, änderte wenig, denn er war wie Öl unter der Schere, und wenn er mich nach irgendeiner Moralpredigt auslachte, lachte ich mit.

Trotz dieser mangelnden Erfolge rauchte der gastliche Samowar allnachmittäglich auch mir. Und ein Willkommenlächeln lag auf aller Lippen, wenn ich zur Tür hereintrat.

So hatte das Schicksal mir wieder eine Art von Heimat beschert, die mir verblieb, selbst als ich den Mauern Königsbergs längst den Rücken gedreht hatte.

Und dann war ja auch Onkel Eduard da. –[197] Von der Familie meiner Mutter habe ich noch niemals gesprochen. Und sie ist es doch eigentlich, die ich mein Lebtag als Verwandtschaft betrachtet habe. Onkel Eduard, ein strenger, stattlicher Mann, Ende der Vierzig, mit Stupsnase, Brille und Kehlkopfkatarrh, war Rektor der Gemeindeschule auf dem »Nassen Garten«, einem Stadtteil draußen vor den Festungswerken, aus einer endlos langen Straße bestehend, in der nur arme Leute wohnten.

Zu Verehrung und Liebe allzeit bereit, war ich auch ihm mit verehrender Liebe entgegengetreten. Zudem wußte ich, daß er in der deutschen Lehrerbewegung eine Rolle spielte und als Abgesandter seines Gaus sich auf den großen Tagungen mit gewichtiger Stimme hören ließ. Um so mehr war ich erstaunt, daß das meiste von dem, was ich aus übervollem Herzen ihm entgegenrief, keinen Widerhall fand oder sich in seinem Urteil zu Kleinlichkeiten auflöste, die ganz, ganz anders aussahen als das, was ich – unklar vielleicht, aber doch mit heiligem Eifer – ihm anvertraut hatte.

Allgemach sah ich ein, daß ein Unterschied der geistigen Vorbedingungen vorhanden war, der wohl seiner anderen Bildungsart entsprang, und daß ich mit allem, was in mir hoch wollte, auch an seiner Seite allein bleiben würde. Und dann war zum Überfluß eine Frau da, eine junge, rundliche Frau, die er sich in zweiter Ehe – die erste war unglücklich verlaufen – soeben genommen hatte. Der alternde Mann als gurrender Liebhaber war mir fatal, und wenn er kosend und schwänzelnd um die verlegen Lächelnde herumstrich, hatte ich stets ein Gefühl, als entwürdige er sich.

Da er mir einmal eine Rüge zuteil werden ließ, die mir über seine Befugnis hinauszugehen schien, blieb ich seinem Hause fern, denn ich war geradeso dickköpfig wie er.

Er ist wenige Jahre später eines qualvollen Todes gestorben und hat mir kurz vor seinem Hinscheiden einen Brief geschrieben, der mein Herz in Jammer aufschreien ließ –[198]

Und nun will ich ein Lied singen von meinem lieben, lieben Onkel David!

Ich hätte so sehr gern eine vornehme Verwandtschaft besessen, ich besaß sie nun aber einmal nicht, und was an ihr vornehm war, habe ich erst später begriffen.

Mein Wunsch war es darum, meinen Onkel David als Lotsenkommandeur zu sehen, und in meinem Ehrgeiz ließ ich ihn auch dauernd zu dieser Würde emporsteigen. Er blieb aber hartnäckig ein armer, kleiner Lotse und ist auch als solcher verabschiedet und gestorben.

In dem nahen Pillau, das jetzt des zerfleischten Deutschlands östlichster Seehafen ist, wohnte er mit der dazugehörigen »Tante Malchen« in einer Straße voller Spielschachtelhäuser, deren jedes zweien seiner Gilde zur Heimstätte diente. Und wenn morgens um drei der Ruf zur Ausfahrt erscholl, dann brauchte die Faust des Weckenden nur im Vorbeigehen gegen die Läden zu donnern, und die Wachmannschaft war alsbald auf den Beinen.

Mein Onkel David litt an zwei Übeln: dem Rum und dem Rheumatismus. Als drittes kam Tante Malchen dazu und der Pantoffel, den sie über ihm schwang. Der Rum war gleichzeitig Arznei, denn mit ihm rieb er die schmerzenden Glieder ein und machte so das Unheil wieder gut, das zu anderen Stunden das dampfende Grogglas ihm antat.

Um dieses Unheils willen soll Tante Malchen an mir keinen strengen Richter finden, denn der alte, krummbeinige Seebär war ihrer Beaufsichtigung in der Tat dringend bedürftig.

Wenn er zu mir sagte: »Du, wir wollen einen heben gehen«, dann blitzte aus seinen kleinen, schläfrigen Augen so viel schlaue Max- und Moritzhaftigkeit, als gelte es zugleich mit Tante Malchen der ganzen Bürgergesittung ein Schnippchen zu schlagen.

Als mein großer Landsmann, der Rezitator Robert Johannes, seine berühmt gewordene Ode »An Tante Malchen« dichtete,[199] muß er meine Tante Malchen im Auge gehabt haben: so ihrer guten Heimatseele angegossen sitzt jedes Wort. Und da die Natur in solchen Fällen sich nicht lumpen läßt, hatte sie in drei Schwestern statt einer gleich drei Tante Malchen geschaffen, die alle dazu da waren, meinen Onkel David zu betreuen, zu betätscheln und vor den Verführungen dieser Welt in acht zu nehmen.

Und mein armer Onkel David saß warm eingepackt in dieser Liebeswattierung, wenn er ihr nicht gerade glücklich entrann, um auf der Wachtstube einen »heben« zu gehn oder sich im Lotsenboote mit Sturm und Regen herumzuschlagen.

Nachts lag er dann stöhnend da, und Tante Malchens mitleidige Seele weinte über ihm. Sie ist vor ihm gestorben und hat ihn zurückgelassen wie ein hilfloses Kind. Da ist eine der zwei anderen Tante Malchen, die ihrer späten Jungfräulichkeit zugunsten eines jungen, munteren Kürschnermeisters ein Ende gemacht hatte, für die Selige eingetreten und hat ihn zu sich genommen. In ihrem Hause hat er, blind geworden und von seinem Seemannsrheumatismus arg gequält, die letzten Lebensjahre hingebracht; von dort aus ist er still hinausgefahren auf das weite Meer des Nichtgewesenseins.


Noch ein anderes Lied weiß ich, das schönste, das ich singen kann von meiner Sippschaft und meines Blutes Ursprung.

Das führt zu jenem Haus am Schwalbenberg, wo meine Großmuter fünf vaterlose Waisen fürs Leben tüchtig machte und wo meiner Mutter Jugendträume ihre Heimat haben.

Eine Hütte, niedrig und strohgedeckt, mit blitzblanken Fenstern, wenn auch windschief nach allen Richtungen hin. So hat es eines Tages vor mir gestanden, als ich von Elbing aus übers Haff hinfahren durfte, um mich den mütterlichen Verwandten in dem jungen Glanze meines Sekundanertums vor Augen zu führen.

In dem Gärtchen, das es umgab, blühten die Primeln und[200] knospete der Flieder, und Jungmädchenlachen von Kusinen und Halbkusinen ohne Zahl lag mir holdselig im Ohre. Da erwuchsen bei Haschen und Pfänderspiel mit den ersten Blumen um die Wette die ersten Küsse und ließen einen rätselhaft süßen Geschmack auf den Lippen zurück und eine süße Wirrnis im Herzen, für die es keinen Namen gab und geben durfte, weil es doch alles nur ein Spiel war.

Und stieg man ein paar Schritte hoch bis zur Landmark, die auf dem Gipfel des Berges thronte, dann lag die Welt, die man bezwingen wollte, in einladender Demut einem zu Füßen. Das gelbe Haff und das grasgrüne Meer und die leuchtende Nehrung dazwischen. Und Schiffe gingen und kamen, Barken und Schoner und stolze Dreimaster, mit turmhoher Leinwand bekleidet, und schwarze, hohltutende Ungetüme, die hier im Hafen ausladen mußten, weil die Rinne des Pregels für die Weiterfahrt nach Königsberg zu flach und zu schmal war. Die kamen von Portsmouth und Glasgow oder gar von Kingston oder Batavia – und mein Großvater war nun sicher auf keinem mehr und winkte der Heimat entgegen.

Man kann sich wohl vorstellen, daß eine einsame Frau ein Leben lang hier oben gestanden hat, um den Augenblick des Wiedersehens nicht zu verfehlen.

In ihrem Heim und Eigen waltete nun fleißig und zäh und zersorgt die älteste Tochter, die an einen Maurer verheiratet war, der Bruder hieß. Ein stiller Mann mit einem Apostelkopf, der schüchtern und verwundert das Toben der Jugend mitansah.

Und eines späteren Tages erinnere ich mich, da war vornehmer Besuch im Hause. Der Dichter der »Ehre« war eingekehrt mit seiner Mutter von weither – und die noch immer schöne Tante Charlotte, die gar einen rasselnden Adelsnamen trug, und andere edle Gäste noch mehr. Da hatten die Hühnchen des Hauses ihr junges Leben lassen müssen, und die Himbeersoße blutete über Bergen von Reisbrei.[201]

Wir schmausten lachend unter der blühenden Linde, unbekümmert, ob solche Feste dem Tagelohn des armen Maurers entsprachen oder nicht.

Er selbst aber, der Gastgeber, saß bescheiden in einen Winkel gedrückt, offenbar von dem Gefühl beherrscht, daß er in seiner Niedrigkeit gar nicht hierher gehöre. Und als man auch ihm einen Teller voll hinsetzte, da bemerkte ich, wie er sich mit einer Art von freudiger Rührung dafür bedankte, als könne er so viel Beachtung gar nicht verlangen. Und dabei sah er aus, als hätte er gestern mit dem Herrn Jesus zu Tische gesessen.

Damals war es das letzte Mal, daß ich das Haus am Schwalbenberg heimsuchte.

Heute ist es längst in fremden Händen, und zwei der lieben Kusinchen, mit denen ich mich als halbwüchsiger Junge herumgeküßt habe, betreuen mir meine Mutter.

Sie sind mittlerweile auch in die Sechzig gekommen.

Wir geben uns immer noch manchmal einen Kuß, aber wir haben kein Herzklopfen mehr dabei. –

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 180-202.
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