40. Aus Harmannsdorf und aus Chikago

[280] Nun existierte also in der deutschen Hauptstadt eine Friedensgesellschaft, um welche Zentrale sich voraussichtlich in allen übrigen größeren deutschen Städten Gesellschaften gruppieren würden. Die vorgesetzte Aufgabe, Bildung einer weitverbreiteten öffentlichen Meinung, war also im besten Zuge, ausgeführt zu werden. Ich sah mit Freuden eine geradlinige Entwicklung der Bewegung vor mir. Daß der Anfang noch ein winziger war, sah ich wohl ein. Was waren unsere paar tausend organisierten Mitglieder zu den tausendfünfhundert Millionen, die die Erde bevölkern – und wie gering, nicht nur an Zahl, sondern an Macht und Ansehen gegen die Repräsentanten und Hüter des alten Systems ... Aber was bedeutet das erste, mit Veilchen bedeckte Grasplätzchen gegen die meilenweit mit Märzschnee bedeckten Felder? Es bedeutet, daß das Frühjahr kommt. Was bedeutet der erste Dämmerschein in die rings die Gegend verhüllende Nacht? Er bedeutet, daß die Sonne aufgeht. So faßte ich die bescheidenen Resultate auf, die bis dahin der Friedensgedanke erzielt hatte, und gab keinem Zweifel Raum, daß das Lenzhafte, das Lichthafte, das ihm innewohnt, in allmählicher, aber ununterbrochener und immer schnellerer Progression zur Entfaltung kommen müsse.

Daran zweifle ich übrigens auch heute nicht. Nur das hat mir die Erfahrung gelehrt, daß solche Bewegungen nicht in so gerader Linie und in so regelmäßigem Tempo verlaufen, wie ich damals wähnte. Eine Zickzacklinie ist's, die mitunter hoch hinaufschnellt, dann wieder hinabsinkt, scheinbar verschwindet und mit neuem Elan wieder an ganz unerwarteten Punkten ansetzt. Und alle direkte, »zielbewußte« (um das vereinsmeierliche, abgehetzte Wort zu gebrauchen) Arbeit wird von unvorhergesehenen, anonymen Nebeneinflüssen teils gehemmt, teils unterstützt. Mehr unterstützt als gehemmt: denn wo etwas Neues werden will, konvergieren die Kräfte in allen Richtungen dahin.

Unser Leben war jetzt reich gefüllt. Wir genossen zwei Güter, die man sich vereint schwer denken kann: das stürmische Streben ins Weite hinaus und die Ruhe im stillen Winkel. Voll von Hoffnungen, Erwartungen, Kämpfen, in heller Begeisterung oder in bebendem Zorn steuerten wir in die Zukunft; und ein geschütztes, sicheres, von Liebe und Heiterkeit schön ausgepolstertes Nestchen war uns die Gegenwart.

Daß wir kinderlos geblieben, – über dieses Los haben uns[280] wohl manche bemitleidet; denn Kindersegen gilt doch als das höchste Glück ... aber so wie ich in diesen Erinnerungen kein einziges Mal über diesen Mangel eine Klage ausgesprochen, so haben wir beide auch niemals eine solche Klage erhoben. Vielleicht wenn wir das Glück gekannt hätten, so würden wir gar nicht begriffen haben, daß man dessen Entbehrung nicht schmerzlich empfindet – aber Tatsache ist – uns hat die Kinderlosigkeit nicht einen Seufzer gekostet. Ich erkläre mir das so: nicht nur, daß wir an einander volles Genügen fanden – sondern jenes Bedürfnis, in die Zukunft hinauszuleben, das ja dem Wunsche, Nachkommen zu haben und für diese zu wirken und zu schaffen zugrunde liegt, dieses Bedürfnis war uns durch unsere Arbeit befriedigt, die ja auch in die Zukunft hinausstrebte, die sich an etwas noch Kleinem, aber Wachsendem, Aufblühendem erfreute. Daneben das literarische Schaffen – man weiß ja und es wird auch vom Sprachgebrauch bestätigt – daß Autorschaft eine Art Vaterschaft ist.

Wie hatte sich mein Leben jetzt doch so ganz anders gestaltet, als es in meiner Kindheit und Jugend vorgeahnt war! An diese Jugend und Kindheit zurückzudenken, mir ihre Erinnerungen aufzufrischen, hatte ich nun oft Gelegenheit. Meine alte Tante Lotti, Elvirens Mutter, die jetzt ganz einsam war und auf der Welt nichts mehr liebte als mich, hatte sich in meine Nähe gezogen. Sie wohnte eine Stunde weit von Harmannsdorf, und ich fuhr wöchentlich wenigstens einmal zu ihr, um mit ihr ein paar Stunden zu verplaudern. Alte Reminiszenzen zumeist. An meinem gegenwärtigen häuslichen Glück und an meinen Arbeiten nahm sie auch lebhaften Anteil; aber am liebsten sprachen wir doch von vergangenen Zeiten miteinander, von den Tagen, da Elvira und ich miteinander »Puff« spielten. – Tante Lotti war eigentlich das einzige Band, das mich mit meiner Vergangenheit verknüpfte. Zwar lebte ja mein Bruder, aber bis auf ein paar selten getauschte Briefe waren wir in keinem Kontakt miteinander geblieben. Daher habe ich in diesen Aufzeichnungen auch nicht mehr von ihm erzählt. Er war ein Sonderling. Lebte ganz menschenscheu und zurückgezogen in einer kleinen dalmatinischen Stadt; beschäftigte sich mit Blumenzucht und Schachspiel. Seine Gesellschaft bestand aus einer Anzahl Katzen. Spazierengehen am Strand des Meeres, Lektüre botanischer und mineralogischer Werke waren seine einzigen Passionen. Ich hatte ihn seit 1872 nicht gesehen und bin auch bis zu seinem vor einigen Jahren eingetroffenen Tode nicht wieder mit ihm zusammengekommen.

Im Jahre 1893 hatten wir keinem Friedenskongresse beigewohnt.[281] Seit ich von dieser Bewegung mitgerissen wurde, zähle ich die Etappen meiner Lebenserinnerungen zumeist nach Kongreßreisen. Denn diese brachten immer wieder sichtbare Zeichen von dem Fortgang der mir so sehr am Herzen liegenden Sache und die Möglichkeit, tätig daran mitzuhelfen; sie brachten die Berührung mit den alten Freunden und Anknüpfung neuer Freundschaften; schließlich brachten sie uns an neue Orte in noch ungekannte Milieus und verschafften uns jenen Genuß, den der Meine über alles schlürfte – das Reisen an sich. Miteinander in einen Wagen zu steigen und – hinaus! – das war uns ein unbeschreibliches Festgefühl.

Der diesjährige Kongreß wurde in Chikago abgehalten, anläßlich der dort stattfindenden Weltausstellung, »the world's fair« betitelt. Unsere Mittel reichten zu der weiten Reise nicht, und wir verzichteten. Mit dem Amt, mich beim Kongreß zu vertreten, betraute ich meine Freundin Malaria – Frau Olga Wisinger, die berühmte Malerin. Sie war auch in der österreichischen Abordnung mit uns in Rom gewesen und eine begeisterte Anhängerin unserer Sache; also war die Mission in guten Händen. Der Name »Malaria« ist nur ein Spitzname und bezieht sich nicht etwa auf fiebertreibende Eigenschaften der großen Künstlerin; sein Ursprung war dieser: In Rom mußten alle Teilnehmer Namen und Charakter eintragen, damit eine Präsenzliste gedruckt und verteilt werde. Da stand nun unter der österreichischen Gruppe zu lesen: Signora Olga Wisinger, Malaria; so hatten die Italiener das Wort »Malerin« entziffert.

Während »the world's fair« wurden in Chikago unzählige Kongresse abgehalten, darunter auch der Kongreß der Religionen. Alle großen Kirchengemeinschaften der Erde hatte einen geistlichen Würdenträger dahin entsendet. Wohl auch zum erstenmal, daß die Verkünder verschiedener Glaubensbekenntnisse zusammentraten – nicht um einander zu bekehren oder zu bekämpfen, sondern um die Grundsätze hervorzukehren, die ihnen allen gemeinsam sind. Und christliche Bischöfe, mosaische Rabbiner, buddhistische und mohammedanische Priester fanden sich in dem Grundsatz geeinigt: Gott ist der Vater aller – also seien alle Brüder. Es war somit auch ein Friedensgrundsatz, der sich aus diesem Kongreß der Religionen ergeben hat.

Der eigentliche Friedenskongreß, der vom 14. bis 19. August in »The Memorial Washington Hall, Art Palace« (Regierungsdepartement der Columbischen Ausstellung) tagte, wurde von Josiah Quincy, »Assistent Secretary of State«, präsidiert. Unter den Teilnehmern und Rednern befand sich Thomas Bryan, derselbe, der im Jahre 1904 als Gegenkandidat Roosevelts um die Präsidentschaft der Vereinigten[282] Staaten auftrat und vielleicht bei einer nächsten Präsidentenwahl den Sieg erringen wird.

An diesem Kongresse nahmen auch Abgesandte aus Afrika und aus China teil. Die Europäer waren nur schwach vertreten. Die Fahrt über den großen Teich, der für Amerikaner »a trip« heißt, schreckt die Bewohner unseres Erdteils doch noch sehr zurück. Von Deutschland war Dr. Adolf Richter gekommen, Dr. Darby aus England; Moneta aus Italien und aus Oesterreich – Malaria. Die Amerikaner waren natürlich zahlreich und durch hervorragende Männer – Gelehrte, Richter, Staatsmänner – vertreten. Auch ein Soldat, General Charles Howard, hielt einen Vortrag über das internationale Tribunal. Eine kirchliche Spezialkonferenz schloß sich an mit Bezug auf die geplante Petition der verschiedenen christlichen Körperschaften der Welt an die Regierungen zugunsten des Schiedsgerichts. Dieser Plan wurde ausgeführt und die Petition, die von etwa hundert kirchlichen Würdenträgern aller Länder gezeichnet war, wurde in der Folge sämtlichen Staatsoberhäuptern unterbreitet. Mit der Aufgabe, das für den Kaiser von Oesterreich bestimmte Exemplar zu überreichen, bin ich betraut worden.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 280-283.
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