Lied der Sehnsucht

[174] Warum die Blume das Köpfchen senkt,

Warum die Rosen so blaß?

Ach! die Thräne am Blatt der Lilie hängt,

Vergangen das schön frische Gras.

Die Blumen erbleichen,

Die Farben entweichen,

Denn sie, denn sie ist weit

Die allerholdseeligste Maid.


Keine Anmuth auf dem Feld,

Keine süße Blüthe am Baume mehr,

Die Farben, die Töne durchstreifen die Welt

Und suchen die Schönste weit umher.

Unser Thal ist leer

Bis zur Wiederkehr,

Ach! bringt sie gefesselt in Schöne

Zurücke ihr Farben, ihr Töne.
[175]

Regenbogen leuchtet voran

Und Blumen folgen ihm nach,

Nacht'gall singt auf der Bahn,

Rieselt der silberne Bach:

Thun als wäre der Frühling vergangen,

Doch bringen sie sie nur gefangen,

Wird Frühling aus dem Herbst alsbald,

Herrscht über uns kein Winter kalt.


Ach! ihr findet sie nicht, ihr findet sie nicht,

Habt kein Auge, die Schönste zu suchen,

Euch mangelt der Liebe Augenlicht,

Ihr ermüdet über dem Suchen.

Treibt wie Blumen die Sache als fröhlichen Scherz,

Ach! nehmet mein Herz,

Damit nach dem holden Engelskinde

Der Frühling den Weg gewißlich finde.
[176]

Und habt ihr Kinder entdeckt die Spur,

O, so hört, o, so hört mein ängstlich Flehn,

Müßt nicht zu tief in die Augen ihr sehn,

Ihre Blicke bezaubern, verblenden euch nur.

Kein Wesen vor ihr besteht,

All's in Liebe vergeht,

Mag nichts anders mehr sein

Als ihre Lieb' allein.


Bedenkt, daß Frühling und Blumenglanz

Wo ihr Fuß wandelt, immer schon ist,

Kommt zu mir zurück mit leichtem Tanz,

Daß Frühling und Nacht'gall doch um mich ist;

Muß dann spät und früh

Mich behelfen ohne sie,

Mit bittersüßen Liebesthränen

Mich einsam nach der Schönsten sehnen.
[177]

Aber bleibt, aber bleibt nur wo ihr seid,

Mag euch auch ohne sie nicht wiedersehn,

Blumen und Frühlingston wird Herzeleid,

Will indeß hier im bittersten Tode vergehn.

Mich selber zu strafen,

Im Grabe tief schlafen,

Fern von Lied, fern von Sonnenschein

Lieber gar ein Todter sein.


Ach! es bricht in der Sehnsucht schon

Heimlich mein Herz in der treusten Brust,

Hat die Treu' so schwer bittern Lohn?

Bin keiner Sünde mir innen bewußt.

Muß die Liebste alles erfreun,

Mir nur die quälendste Pein?

Treulose Hoffnung, du lächelst mich an:

Nein, ich bin ein verlorner Mann.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 2, Heidelberg 1967, S. 174-178.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Romanzen Und Balladen Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert: Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Gedichte Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert, Volume 2 (Paperback)(German) - Common
Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Romanzen Und Balladen Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert: Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Gedichte Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert, Volume 1 (Paperback)(German) - Common
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Schriften in zwölf Bänden: Band 7: Gedichte
Schriften in zwölf Bänden: Band 7: Gedichte

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon