Erstes Buch

Wer meine Eltern gewesen sind, vermag ich nicht zu sagen; denn ich habe sie nie kennen gelernt. In einer gewissen Periode meines Lebens lag mir sehr viel daran, hinter das Geheimniß meiner Geburt zu kommen; allein so viel Mühe ich mir auch zu diesem Endzweck gegeben habe, so hab' ich mit aller angewandten Sorgfalt doch nur zu der Vermuthung aufsteigen können: Meine Existenz sey die Wirkung eines Mißbündnisses, welches entweder durch meine Geburt, oder bald nach derselben aufgehoben wurde.

Meine Erinnerungen reichen bis zu meinem sechsten Lebensjahre herab. – Wo ich auch vorher existirt haben mag, in diesem Alter brachte man mich, nach einer Reise, welche wenigstens drei Tage[11] dauerte, in die Wohnung eines französischen Geistlichen, der mit seiner Schwester auf dem Lande lebte. Ich wunderte mich darüber, daß man mich auch hier Mirabella nannte, sobald ich aus dem Reisewagen gestiegen war; denn ich konnte nicht begreifen, wie ganz fremde Personen mich kennen könnten. Wesen und Namen war für mich noch einerlei.

Welche Richtungen mein Inneres auch bis dahin erhalten haben mochte, so lag es in der Natur der Sache, daß sie durch die neue Lage verdrängt wurden; denn so lange der Mensch noch der Entwickelung fähig ist, bestimmt er sich nach seiner Umgebung, die um so kräftiger auf ihn einzuwirken pflegt, je abhängiger er in jedem Betracht von ihr ist. Eigenen Charakter darf man nur solchen Personen zuschreiben, die sich zu Meistern ihrer Umgebung gemacht haben.

Meine Erzieher waren, nach den Bildern,[12] die mir von ihnen übrig geblieben sind, sehr achtungswerthe Personen. Der Geistliche war nämlich ein Mann von mannigfaltigen Talenten, und in jeder Hinsicht so gesetzt und verständig, daß man hätte in die Versuchung gerathen können, ihn für einen Deutschen zu halten; ja, ich muß bemerken, daß er mir von allen französischen Geistlichen, die mir jemals vorgekommen sind, immer als der einzige erschienen ist, der ein lebendiges Gefühl von der Würde seines Berufs hatte. Seine Schwester war seiner würdig. Höchst reinlich in ihrem ganzen Wesen, geschickt in allem, was zu den Verrichtungen einer guten Hausmutter gehört, sanft und nachgiebig, weil sie in ihrem Verstande immer die nöthigen Hülfsmittel fand, war sie das baare Gegentheil von dem, was Französinnen zu seyn pflegen. Dieselbe Deutschheit, welche ihren Bruder zu einem Mann machte, gab ihr[13] die ächte Weiblichkeit, die man bei so wenigen Französinnen antrifft, weil sie immer erst dann einen Werth errungen zu haben glauben, wenn sie aus ihrem Geschlecht getreten sind. Gleichwohl sprachen diese beiden Personen unter sich immer französisch. Hätte die Sprache ihr Wesen bestimmen können, so würden sie Franzosen gewesen seyn; aber dies vermag keine Sprache in der Welt. Nur der Umgang, oder die Totalität gleichartiger Eindrücke, bestimmt die Individualität.

In dem Hauswesen herrschte die größte Ordnung. Der Bruder bewegte sich in seinem Kreise, die Schwester in dem ihrigen. Beide Kreise berührten sich; aber sie griffen nie in einander, weil dies der Freiheit der Bewegung geschadet haben würde. Es war in der That eine Freude, zu sehen, wie diese Geschwister sich gegenseitig achteten. Großmüthig durch[14] sein ganzes Wesen, fand der Bruder nie den Widerspruch der Schwester, wenn seine Liberalität ihrer Sparsamkeit in den Weg trat. Nicht minder entging der ökonomische Geist der Schwester der Kritik des Bruders. Beide schienen, ohne förmliche Verabredung, darin überein gekommen zu seyn, daß sie sich als vernünftige Wesen in ihrem Thun und Treiben respektiren wollten, da es in der Natur der Sache lag, daß sie sich gegenseitig ergänzen mußten, wenn sie den Charakter der Menschlichkeit in der Staatsbürgerei retten wollten, von welcher sich Niemand ganz losreissen kann. Des Bruders einzige Liebhaberei war eine Baumschule; allein auch in dieser Liebhaberei folgte er nur seinem Hange zur Großmuth und zum Wohlthun. Da er von seinen Einkünften nichts verschenken konnte, ohne sich zu schaden; so wollte er wenigstens die Produkte seines Fleisses verschenken. Die[15] ganze Nachbarschaft versorgte er mit jungen Baumstämmen von der edelsten Gattung, ohne jemals eine Entschädigung in baarem Gelde dafür anzunehmen.

Je mehr der ganze Gang des Hauswesens den Bedürfnissen meines Alters entsprach, desto leichter gewöhnte ich mich daran; und da meine Pflegeeltern unter sich selbst so einig waren, daß alles, was Leidenschaft genannt werden mag, aus ihrem Bezirk verbannt war, so konnte es nicht fehlen, daß ich in diese ihre Stimmung hineingezogen wurde. In so fern Liebe ein bestimmtes Gefühl ist, das zur Aufopferung treibt, war dies Gefühl nicht in mir; aber ich theilte die Harmonie des Hauses, und theilte sie um so mehr, weil ich von allen Hausgenossen gleichmäßig behandelt wurde, und die Entstehung dessen, was man Eigensinn zu nennen pflegt, in mir ganz unmöglich war. Was mir immer vorgehalten werden mochte, ich[16] nahm es als Beschäftigung des Thätigkeitstriebes, und fand daher meine Rechnung eben so sehr im Lehrzimmer, als in der Küche und im Garten. Nur in Hinsicht der Autorität unterschied ich meine Umgebung. Die meines Pflegevaters gab den Ausschlag über jede andere. Ihn betrachtete ich im eigentlichen Sinne des Worts als das Haupt, und wo sein Ausspruch einmal erfolgt war, da galt mir kein anderer. Hätte man mir damals gesagt: Es ist ein Unterschied zwischen Wahrheit und Meinung, so würde ich, vorausgesetzt, daß zwei so abstrakte Dinge nicht ganz für mich verloren gewesen wären, auf der Stelle geantwortet haben: Das weiß ich recht gut; denn die Wahrheit ist bei meinem Vater und die Meinung bei den Andern. Das Geschlecht, zu welchem ich gehörte, gab mir diese Deferenz. Wär ich ein Knabe gewesen,[17] so würde die Autorität meiner Pflegemutter entschieden haben.

Ich habe oft gedacht, daß die Erziehung jedes menschlichen Wesens, das nur einigermaßen gerathen soll, höchst einfach seyn müsse. Es kommt zuletzt doch nur darauf an, daß man eine achtunggebietende Individualität gewinne. Wie will man aber zu einer solchen gelangen, wenn es durchaus nicht gestattet ist, bleibende Falten zu schlagen, die, sie mögen nun in Gefühlen oder in Ideen zum Vorschein treten, allein den Charakter ausmachen? In Städten, vorzüglich aber in Hauptstädten, besteht die Erziehung eigentlich darin, daß der eine Eindruck sogleich durch den andern vernichtet werde, so daß der Zögling am Ende in einem leeren Nichts dasteht; dies ist eine nothwendige Folge der allzuweit getriebenen Zusammengesetztheit der Richtungen, welche der Zögling (ob mit oder ohne Absicht, gilt hier[18] gleich viel) in den Städten erhält. Auf dem Lande kann so etwas durchaus nicht statt finden; da der Richtungen an und für sich wenigere sind, so ist die ganze Erziehung einfacher, und die natürliche Folge davon ist, daß das Innere des Zöglings eine bestimmte Form annimmt, die sich zuletzt von selbst gegen alle Unform vertheidigt, und im Kampfe mit derselben zu einer höheren Entwickelung führt.

Ganz unstreitig verdanke ich nicht nur den größten, sondern auch den besten Theil meines Wesens der Erziehung, die ich in dem Hause meines Pflegevaters erhielt. Die Gewöhnung zur Reinlichkeit mußte mir die Reinlichkeit zum Bedürfniß machen; und indem der materielle Schmutz ein Gegenstand des innigsten Abscheues für mich wurde, konnte der immaterielle, vermöge des Zusammenhanges, worin das Physische mit dem Geistigen im Menschen[19] steht, keinen Eingang bei mir finden. Mit der Liebe zur Reinlichkeit aber stand die Schamhaftigkeit in der vollkommensten Harmonie. Da das Wohnhaus geräumig genug war, so hatte jedes Mitglied der Familie sein eigenes Schlafzimmer; dabei erforderte eine hergebrachte Sitte, nicht anders als vollkommen angekleidet aus demselben zu treten. Jene Einrichtung und diese Sitte brachten die Wirkung hervor, daß, wie ungezwungen der Umgang im Übrigen auch seyn mochte, doch Keiner von uns begriff, wie es möglich sey, sich in Gegenwart eines Andern aus- oder anzukleiden. Ich mochte ein Alter von zehn Jahren erreicht haben, als der Anblick eines achtjährigen Knaben, der sich in meiner Gegenwart die Strümpfe aufband, mich in eine solche Verlegenheit setzte, daß ich nicht im Zimmer bleiben konnte; und der bloße Umstand, daß ich diese Scene niemals[20] habe vergessen können, beweiset mehr, als alles, was ich darüber zu sagen vermag, wie sehr die Schamhaftigkeit in mein Wesen übergegangen war. Dies verhinderte indessen nicht, daß ich den Umgang mit Knaben, so oft dazu Gelegenheit war, nicht unendlich interessanter gefunden hätte, als den mit jungen Mädchen. Ein geheimer Zug that hier alles; allein wie unwiderstehlich er immer seyn mochte, so folgte ich ihm doch, ich will nicht sagen, mit Vorsichtigkeit – denn diese war für mich gar nicht vorhanden – sondern mit Beibehaltung alles dessen, was mir einmal zur Gewohnheit geworden war, und worüber ich nicht weiter Herr werden konnte. Und so geschah es, daß ich selbst in einem Alter, dem die Herrschsucht ganz fremd ist, die widerstrebende Natur meiner Gespielen männlichen Geschlechts in den Strudel meiner Individualität zog, und diese rettete, ohne für sie zu kämpfen.[21] Fremde Personen nannten mich nicht selten die gesetzte Mirabella; meinen Pflegeeltern hingegen war eine solche Benennung eben so fremd, als mir; unstreitig weil sie einsahen, daß mit dieser Gesetztheit keine Art des Zwanges oder des Calculs verbunden war. Ich bewegte mich minder lebhaft, weil die Freiheit mir habituell war, und ich folglich keine Aufforderung hatte, mich zu übernehmen.

Mein Pflegevater lehrte mich Zeichnen, Rechnen, Lesen, Schreiben; und nachdem ich ein Alter von zwölf Jahren erreicht hatte, kam der Unterricht in der Naturgeschichte und Geographie hinzu. Wie sehr er auch Geistlicher war, so befaßte er sich doch nicht mit der Unterweisung in der Religion; unstreitig aus keinem anderen Grunde, als weil er noch kein bestimmtes Dogma in mich niederlegen wollte. Auch trug er mir nie eine förmliche Moral vor; und deute ich sein Wesen[22] recht, so hatte er dazu den sehr vernünftigen Grund, daß die Liebe keiner Regulative bedarf, und daß der Haß sie verachtet. Seine Urtheile über Menschen und menschliche Verhältnisse waren die eines gebildeten Mannes, der zwar an Unverstand, aber nicht an Bosheit glaubt, und sich daher immer zur Nachsicht und Schonung berufen fühlt. Nie hab' ich ihn in Leidenschaft gesehen; und wenn der Charakter eines Weisen in der Apathie enthalten ist, so war er mehr als tausend Andere ein Weiser.

Von meiner Pflegemutter lernte ich Stricken, Nähen, Brodiren; alles dieses in einem hohen Grade von Vollkommenheit. Wie sehr auch meine Lehrerin in ihren Wirthschaftsangelegenheiten versenkt schien, so fehlte es ihr doch durchaus nicht an Kunstsinn. Die Gewalt des Wahren war für sie eben so wenig vorhanden, als für irgend ein Weib; aber die Gewalt[23] des Schönen offenbarte sich in allen ihren Schöpfungen, in so fern sie alles verabscheuete, was den ewigen Gesetzen der Harmonie widersprach. Zwar sagt man: »Nur das Wahre sey schön«; allein, so weit meine Beobachtung reicht, gilt dieser Ausspruch nur in Beziehung auf Männer; für Weiber ist nur das Schöne wahr, das heißt, sie wollen immer und ewig nur das Schöne, unbekümmert um das Wahre. Vielleicht rührt dieser Unterschied der Geschlechter daher, daß bei den Männern sich die Phantasie dem Verstande, bei den Weibern hingegen der Verstand der Phantasie unterordnet. Wie dem aber auch seyn mag, noch immer soll das Weib geboren werden, bei welchem die Schönheit des Euclideischen Systems Sache der Empfindung oder Anschauung ist.

Unbemerkt wuchs ich unter so wohlthätigen Einflüssen, als meine Pflegeeltern waren, heran. Meine Entwickelung ging[24] um so glücklicher von statten, da nichts vorhanden war, was sie hätte stören oder verhindern können. In einem Alter von funfzehn Jahren war mein Wuchs vollendet, und meinem Umriß nach hätte man mich für ein junges Mädchen von achtzehn bis zwanzig Jahren halten können. Über das Mittelmaaß hinaus groß und von einer anziehenden Fülle, vereinigte ich Brünettheit mit einer blendenden Weiße, und keiner von meinen Gesichtszügen widersprach der Weiblichkeit. Wer mich sah, verweilte mit Wohlgefallen bei meinem Anblick; was man aber ganz laut bewunderte, war die Üppigkeit meines kastanienbraunen Haarwuchses; ich hätte ihn als Schleier gebrauchen können, so lang und dicht war er. Die Aufmerksamkeit, welche mir alle Fremden bewiesen, führte mich vor den Spiegel, der mir bisher durchaus gleichgültig gewesen war; ich suchte den Grund dieser Aufmerksamkeit,[25] und wer will es mir verargen, daß ich ihn in dem Abstich fand, den meine Gestalt von denen meiner Umgebung machte? Mit Wahrheit aber kann ich versichern, daß mich das öftere Hintreten vor den Spiegel nicht eitel machte; diese Beschauung gewährte mir nur ein Bild von mir selber, und mit dem Bilde die Überzeugung, daß ich, wo nicht schön, doch wenigstens hübsch sey; zu Ansprüchen und zur Coketterie verleitete sie nicht, und konnte sie nicht verleiten, weil meine Vorzüge mir von Niemand bestritten wurden. Man könnte glauben, ich sey in meiner Jugend sehr eitel gewesen, da mir ein so bestimmtes Bild von mir selbst geblieben ist; allein das ist das Eigenthümliche der weiblichen Einbildungskraft, daß sie im Stande ist, die Bilder fest zu halten, welche derselbe Gegenstand in seinen verschiedenen Entwickelungsperioden gegeben hat. Schwerlich wird irgend ein Mann die Gestalt, welche[26] er als Jüngling hatte, in späteren Jahren bei sich selbst zur Anschauung bringen können; ein Weib aber kann dies ohne alle Mühe, und wenn sie sich auf Malerei versteht, so muß an der Wahrheit des Bildes, das sie von ihrem früheren Wesen entwirft, auch nicht das Geringste abgehen, vorausgesetzt nur, daß ihre Einbildungskraft nicht durch Eitelkeit verdorben worden ist.

Es war um diese Zeit öfters davon die Rede, daß meine Erziehung nur in der Hauptstadt vollendet werden könnte; und da mir die Nothwendigkeit einer höheren Ausbildung nicht einleuchtete, so rief der Gedanke an eine nahe Trennung von meinen Pflegeeltern die ersten traurigen Gefühle auf, die ich bis jetzt gehabt hatte. Ob ich diese meine Pflegeeltern liebte oder nicht, war mir bisher eben so unbekannt geblieben, als dem wirklich Gesunden das Gefühl der Gesundheit. Jetzt, wo ich der[27] süßen Gewohnheit mit ihnen zu leben, entsagen sollte, wurde mir zuerst klar, wie innig ich mit allen meinen Neigungen an ihnen hing. Meine Traurigkeit war um so tiefer, je größer meine Unerfahrenheit war, und je weniger ich folglich der Lockung folgen konnte, welche mit der Aussicht auf neue Verhältnisse in der Regel verbunden ist. Dieselbe Stimmung waltete bei meinen Pflegeeltern ob; es lag nur allzusehr am Tage, daß auch sie sich seit neun Jahren verwöhnt hatten, und daß es ihnen Mühe machte, dem natürlichen Bedürfniß des Menschen, zu lieben und geliebt zu werden, schnell zu entsagen. Selbst mein Pflegevater verlor einen guten Theil seiner gewöhnlichen Heiterkeit, während seine Schwester, den edleren Theil ihres Wesens hinter dem unedleren verbergend, nicht aufhörte zu bedauern, daß ihr für ihre Wirthschaft eine so zuverlässige Stütze entrissen würde, als sie seit drei Jahren an mir gehabt.[28]

Das Schicksal nahm sich der ganzen Familie dadurch an, daß mein Pflegevater als Prediger in die Hauptstadt berufen wurde. Ich sage: »das Schicksal,« weil ich mich nicht anders ausdrücken kann. Unstreitig ging auch dies sehr natürlich zu, und allen meinen späteren Vermuthungen nach, hatte mein Pflegevater seine Berufung bei weitem mehr dem Verhältniß zu verdanken, in welchem er zu mir stand, als seinen persönlichen Eigenschaften, wie achtungswerth diese auch seyn mochten. Dem sey indeß wie ihm wolle, es war uns allen herzlich lieb, daß wir zusammen bleiben konnten.

Das einzige Problem, das noch zu lösen war, bestand in der Trennung von dem Grund und Boden, auf welchem wir bisher gelebt hatten, die Nachbarschaft mit inbegriffen. Vorzüglich fiel es meinem Pflegevater schwer, sich von seiner Baumschule zu trennen, die ihm um so[29] theurer seyn mußte, weil die Entwickelung in ihr nach solchen Gesetzen erfolgte, deren sich die Willkühr vollkommen bemächtigen kann. Er pflegte öfters zu sagen: Er habe nie heirathen mögen, weil er nichts so sehr verabscheut habe, als den Gedanken an ein ungerathenes Kind; aber er freue sich darüber, daß er ein Gärtner geworden sey, weil die Gärtnerei ihm jede Schadloshaltung gewähre, die der Kinderlose wünschen könne. Dem ungeachtet gab das Menschliche in ihm den Ausschlag über das Räsonnement, so oft beide in Opposition geriethen; und dies zeigte sich auch gegenwärtig, da die großmüthige Zuneigung, die er für mich gefaßt hatte, ihn den Kummer überwinden ließ, der mit einer ewigen Trennung von seiner geliebten Baumschule unauflöslich verbunden war. Wie sehr sie ihm am Herzen lag, zeigte sich in der Folge sehr häufig, indem sein Gemüth ihn in den[30] Abendstunden regelmäßig den Gedanken an seine Baumschule zurückrief, bis er nach einigen Jahren die Nachricht erhielt, daß sie durch die gänzliche Vernachlässigung seines Nachfolgers eingegangen sey. Der Seufzer, der ihm bei dieser Gelegenheit entfuhr, sagte sehr deutlich, wie viel er mir aufgeopfert hatte; in der That um so mehr, je uneigennütziger und anspruchsloser er in jeder Hinsicht war.

Nach unserer Ankunft in der Hauptstadt sollte ich vor allen Dingen Musik und Tanz lernen. Beides würde ich mit großer Leichtigkeit gelernt haben, hätte ich solche Lehrer gefunden, als mein Pflegevater war. Es fehlte mir weder an Lust, noch an Fähigkeit; aber die Eigenthümlichkeit meiner Lehrer verhinderte alle Fortschritte, die ich hätte machen können, und wurde auf diese Weise die Ursache, warum zwei Talente, die ich erwerben konnte, mir immer fremd geblieben sind.[31]

Mein Lehrer in der Musik galt für einen Meister in seiner Kunst. Wäre er blos Künstler gewesen, so würde von seinem Wesen so viel auf mich übergegangen seyn, als sich mit meiner Natur vertrug; allein da er zugleich ein galanter Mann seyn wollte, so mußte das, was er seine Artigkeit nannte, ihm einen so lächerlichen Anstrich bei mir geben, daß wesentliche Fortschritte in der Musik unter seiner Leitung für mich unmöglich wurden. Alles ging vortrefflich, so lange er mich für eine junge Person seines Standes hielt; sobald er aber gehört hatte, daß man mich Fräulein Mirabella nannte, veränderte er seine Methode auf Kosten seiner Kunst. Bis dahin hatte er ganz treuherzig gesagt: So und so muß es seyn. Jetzt bat er, daß es mir belieben möchte, es so und so zu machen. Griff ich f statt fis, so bat er sich ein gnädiges fis aus. Überhaupt war seine Deferenz gegen das Vorurtheil[32] des Geburtsadels so groß, daß er es nicht offenbaren konnte, ohne mich aus allen meinen Angeln zu heben. Unbeschreiblich weh that mir diese Wegwerfung; und um den unangenehmen Gefühlen zu entgehen, welche so wie der Mann nun einmal war, von dem Unterricht nicht getrennt werden konnten, gebrauchte ich den Ausweg, ihn allein ans Clavier zu setzen, und das zu singen, was er spielte. Auf diese Weise bildete ich meinen Sinn für Musik aus, ohne jemals die gewöhnliche Fertigkeit zu erwerben, welche sich durch die Fingerspitzen offenbaret; und ich weiß nicht, ob diese Ausbildung nicht die vorzüglichere war, da sie hinreichte, um zur Kenntniß dessen zu gelangen, was wahre Musik ist, und mich im Übrigen von jener Virtuosität, welche die Weiblichkeit vernichtet, entfernt hielt. Im Grunde hab' ich nie bedauert, daß ich keine größeren Fortschritte gemacht habe.[33]

Mein Tanzmeister war das vollkommenste Gegentheil von meinem Lehrer in der Musik. Ein geborner Franzose, lebte und webte er in seiner Kunst, welche in seinem Urtheil das Complement aller menschlichen Vollkommenheiten war. Ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß er auf das allervollkommenste in ihr untergegangen war; denn nichts verdiente seine Schonung, was der vollendeten Ausübung der Tanzkunst in den Weg trat. Wie wurde mir gleich in der ersten Lection zu Muthe, als er, nach den ersten Vorzeigungen, mich unsanft bei der Schulter faßte, um meinen Füßen durch die seinigen die kunstmäßige Stellung zu geben! Alles, was Gemüth genannt werden kann, wurde in mir aufgeregt, und hätte ich nicht die Idee eines Lehrers festgehalten, so würde ich auf der Stelle die verletzte Schamhaftigkeit gerächt haben. Mit glühenden Wangen kehrte ich auf mein Zimmer[34] zurück, als die Lection geendigt war; und als meine Pflegemutter mich fragte, was mich in einen solchen Aufruhr gesetzt habe, war ich schlechterdings nicht im Stande, ihr irgend eine Antwort zu geben; so groß war meine Verworrenheit. Zagend ging ich in die zweite Lection. Daß meine Geschicklichkeit dadurch nicht gewann, versteht sich ganz von selbst. Mein Lehrer sprach mir den Muth ein, der die große Mehrheit aufrichtet, mir aber gar nicht fehlte. Die Übung wurde fortgesetzt, wiewohl ich schon halb betäubt war. Anstatt zu rechter Zeit abzubrechen, gerieth der Meister in den gemeinen Kunsteifer; und indem er sagte, daß eine so edle Figur, wie die meinige, sich auch edel bewegen müsse, stürzte er auf mich zu, und bog, weil ich die Füße nicht auswärts genug setzte, meine Knie mit den seinigen aus einander. Dies war aber mehr, als ich ertragen konnte. Eine[35] Beleidigung meiner Schamhaftigkeit hatte ich verschmerzt; einen Angriff auf dieselbe glaubte ich ahnden zu müssen. Ich sprang also unmittelbar nach geschehener That auf den Meister zu, gab ihm eine Ohrfeige und lief athemlos auf mein Schlafzimmer. Jetzt mußte die Sache zur Sprache kommen. Der Meister, der nicht wußte, wie er zu der Ohrfeige gekommen war, beklagte sich darüber bei meinem Pflegevater, und als mich dieser zur Rechenschaft forderte, kam mit meiner Unschuld die seinige freilich an den Tag, die Lectionen aber waren einmal für allemal abgebrochen, weil ich erklärte, daß ich lieber gar nicht tanzen lernen, als allein unterrichtet werden wollte. Diese Erklärung hatte die Folge, daß man noch einige andere junge Mädchen in die Lectionen zog; aber wie sehr mein Gefühl dadurch auch erleichtert werden mochte, so konnte ich mich doch nie gewöhnen, das[36] Tanzen als eine freie Kunst zu nehmen. Mit brennenden Wangen ging ich in den Tanzsaal; mit brennenden Wangen verließ ich ihn. Es war mehr ein Abäschern gegen den Willen des Gemüths, als eine Bewegung auf Geheiß desselben, was ich Tanzen nennen mußte; und daher ist es unstreitig gekommen, daß ich mein ganzes Leben hindurch so gleichgültig gegen dies Vergnügen geblieben bin, dem Andere so bereitwillig Gesundheit und Leben aufopfern. Auch bin ich in dieser Hinsicht immer eine Stümperin gewesen.

Obgleich die Lektüre damals noch nicht zu den Dingen gehörte, welche die Elemente einer weiblichen Erziehung ausmachen; so war ich doch durch meinen Pflegevater von meinem funfzehnten Jahre an mit drei französischen Dichtern bekannt geworden, die ich unablässig las und beinahe auswendig lernte. Es waren de la Fontaine, Peter Corneille und Racine.[37] Die Fabeln des erstern zogen mich unendlich an, weil in ihnen eine Welt enthalten ist, worein ein jugendlicher Geist sich nur mit Entzücken verlieren kann. Corneille und Racine beschäftigten mich gleich sehr; und ob man gleich glauben sollte, daß ich, als Frauenzimmer, meine Rechnung nur bei dem letzteren gefunden haben könne, so gestehe ich doch ohne Bedenken, daß die Stärke Corneille's mir wenigstens eben so zusagte, als die Sentimentalität Racine's; ja daß ich dem ersteren um des kräftigen Gemüthes willen, das aus ihm spricht, im Ganzen den Vorzug gab, wie eifrig auch die Männer darauf bestehen mochten, daß ich nur den letzteren lieben könnte und dürfte. Ich müßte mich sehr irren, oder ein Schriftsteller interessirt immer nur in so fern, als seine Gedanken Abgründe enthalten, in welche man nur schwindelnd blickt. Mit der natürlichen Vorliebe, welche der Mensch[38] für das Große und Starke hat, hab' ich in der Folge versucht, mir auch Shakspears Geist anzueignen; allein dies hat mir nie gelingen wollen, und hab' ich mich anders gehörig beobachtet, so ist es der Mangel an Züchtigkeit in den Werken des Engländers, was mich beständig von ihm zurückgeschreckt hat. Shakspear hat nur für Männer geschrieben, und Weiber, welche seine Trauerspiele und Lustspiele mit Vergnügen lesen, verderben nichts mehr an sich selbst, wenn sie Pferde zureiten, Armeen kommandiren, und jedes andere Geschäft verrichten, das die Natur dem Manne zugetheilt hat. Sie haben ihren Lohn dahin, indem sie der Weiblichkeit entsagt haben.

So lange ich auf dem Lande gelebt hatte, waren mir gewisse Empfindungen ganz unbekannt geblieben. Dahin gehörten die des Mitleids und Erbarmens, für welche es auf dem Dorfe, das ich in der[39] Gesellschaft meiner Pflegeeltern bewohnte, keine Gegenstände gab, weil der Überfluß an Naturgütern wohl zur Gefälligkeit, aber nicht zur Großmuth führen kann. In die Hauptstadt versetzt, fand ich nur allzubald Gelegenheit, aus mir selbst heraus zu treten, um mich mit der zahllosen Menge derjenigen zu identifiziren, welche, ausgeschlossen von den Vortheilen der gesellschaftlichen Arbeit, ihre Zuflucht zu der menschlichen Milde nehmen müssen. Je weniger ich auf den Anblick des Kummers und der Ohnmacht vorbereitet war, desto heftiger wirkte er auf mich ein. Ich gab, was ich nur einigermaßen entbehren konnte, und that mir nicht eher genug, als bis ich die Entdeckung gemacht hatte, daß man für Hülfsbedürftige nichts thut, so lange man ihnen nicht gerade das giebt, was ihnen nothwendig ist. Von jetzt an gewann mein Mitgefühl den Charakter der Thätigkeit; und ob es gleich[40] dadurch an innerer Stärke verlor, so war doch jeder Akt der Milde mit desto mehr Vergnügen für mich verbunden, je bestimmter ich mir sagen konnte, wodurch ich ihn zu Stande gebracht hatte. Jenes müssige Wohlthun, wodurch man sich zuletzt entweder von einem unangenehmen Gefühl loskauft, oder sich die eigene Unbedürftigkeit klar macht, ist mir seitdem immer fremd geblieben; und was die Vertheidiger der Selbstheit auch immer zur Rechtfertigung ihres Systemes sagen mögen, so hab' ich immer an mir selbst zu bemerken geglaubt, daß außer der Selbstheit noch etwas anderes im Menschen ist, das, mag man es doch nennen wie man wolle, allein zu Aufopferungen und Anstrengungen für die Gesellschaft führen kann. Es war, wenn ich nicht irre, eine Französin, welche über ihre Thüre schrieb: Sparsamkeit ist die beste Quelle der Großmuth; aber diese Frau empfand bei[41] weitem richtiger, als Helvetius dachte, der in seinen Werken etwas Bewundernswürdiges geleistet haben würde, wenn er das Problem seiner eigenen herrlichen Natur gelöset hätte.

Der Zeitpunkt war gekommen, wo ich in die Gemeinschaft der Christen durch einen förmlichen Akt aufgenommen werden mußte. Mein Pflegevater selbst wollte diesen Akt verrichten, und bereitete mich daher auf das sorgfältigste dazu vor. So viel ich mich seines Unterrichts noch jetzt erinnern kann, unterschied er Christenthum von christlicher Religion. Das erstere setzte er in eine gewissenhafte Anwendung des Moralprincips auf alle die gesellschaftlichen Verhältnisse, in welchen sich das Individuum befindet; in der letzteren erblickte er eine Sammlung von Anschauungen des Inneren der menschlichen Natur, welche die Dumpfheit des Mittelalters in Mysterien verwandelt hatte. Nach ihm[42] war z.B. die Lehre von der Dreieinigkeit mit einer Art von Nothwendigkeit aus dem Innern des Menschen hervorgegangen. »Von jeher,« sagte er, »war das Bestreben des menschlichen Geistes darauf gerichtet, das Unbegreifliche zu begreifen. Hierbei konnte es nicht fehlen, daß der Mensch sich zuletzt selbst an die Stelle der ersten Ursache aller Erscheinungen setzte. Da eine Kraft in ihm vorhanden war, aus welcher alle seine Schöpfungen hervorgingen, so stellte er diese Kraft (den Geist) symbolisch als den Vater dar. Eine andere Kraft in ihm (das Gemüth) enthielt die ewigen Aufforderungen zu neuen Schöpfungen; und wie hätte diese Kraft schicklicher personifizirt werden können, als unter dem Bilde des Sohnes, der den Vater liebt und von ihm geliebt wird? Die dritte Kraft ging aus dem Verhältnisse der beiden ersteren hervor, und war in sich selbst das[43] Bewußtseyn der größeren oder geringeren Harmonie der beiden ersteren Kräfte (Gewissen); daher die symbolische Bezeichnung derselben durch den heiligen Geist, der von Vater und Sohn ausgeht. Die Lehre von der Dreieinigkeit lag also wesentlich im Menschen, und ist im Grunde genommen die umfassendste Reflection, die der Mensch jemals über sich selbst gemacht hat. Ein Gegenstand des blinden Glaubens und des spottenden Zweifels, so lange das Innere noch nicht erwacht ist, wird sie ein Gegenstand der unmittelbaren Anschauung und der innigsten Überzeugung, so bald man anfängt, sein eigenes Wesen zu zergliedern. Wie viele Spötter unserer Zeit würden plötzlich verstummen, wenn es möglich wäre, ihnen den wahren Sinn des neuen Testaments und der ersten Kirchenväter einzuimpfen! Man findet es gegenwärtig ehrenvoll ein Atheist zu seyn; aber nur weil[44] man nicht weiß, was ein Atheist ist. Sey man es immerhin in Beziehung auf den Gott der Priester, und so bald von einer furchtbaren Weltursache die Rede ist; aber ist die Weltursache von beiden nicht wesentlich verschieden? In Beziehung auf diese ist es an und für sich unmöglich ein Atheist zu seyn, und versteht man das neue Testament auch nur einigermaßen, so entdeckt man eine auffallende Harmonie zwischen Schrift und Vernunft. Was kann das Christenthum besser charakterisiren, als der Ausspruch: Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die Liebe treibet die Furcht aus? Und was ist zugleich erhabener und umfassender, als der Satz: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm? Wir müssen nur nicht außer uns suchen, was nur in uns seyn kann; und wir sind alles, was wir werden können, wenn unser Geist[45] mit unserem Gemüthe in einer solchen Harmonie stehet, daß die Verletzung desselben uns als eine Vernichtung unsers ganzen Wesens erscheinen muß.«

Auf diese Weise erklärte mir mein Pflegevater jedes andere Dogma der christlichen Religion, mir das Geheimniß meines Inneren entschleiernd und mir Achtung vor mir selbst einflößend. Ein Ausspruch, der für ihn einen tiefen Sinn enthielt, und den er mir oft wiederholte, um ein bleibendes Ideal in mich niederzulegen, war der Ausspruch, wodurch der Stifter des Christenthums seine Schüler aufforderte: Klug zu seyn, wie die Schlangen, und ohne Falsch, wie die Tauben. Auch ist mir dieser immer gegenwärtig geblieben.

Der Sitte jener Zeiten gemäß, durfte ein junges Mädchen nicht eher öffentlich erscheinen, als bis sie durch die Confirmation dazu berechtigt war; durch diese[46] erhielt man gleichsam ein Beglaubigungsschreiben der Zulässigkeit und Würdigkeit, und ich gestehe, daß ich diese Einrichtung ungern habe zu Grunde gehen gesehen, weil doch einmal eine gewisse Reife erfordert wird, um das sociale Interesse zu theilen. Mein erster Eintritt in die gesellschaftlichen Kreise der Hauptstadt war ohne allen Eclat. Nach den Vorbereitungen, die ich erhalten hatte, war ich nichts weniger, als verlegen; aber von allen den gesellschaftlichen Eigenschaften, wodurch man in die allgemeine Stimmung eingreift, war auch keine einzige in mir. Mein Äußeres schien in dieser Hinsicht bei weitem mehr zu versprechen, als mein Inneres zu halten im Stande war. Man brachte mich auf allerlei Witz- und Kitzelproben; ich bestand keine einzige derselben, weil mein Geist dazu durchaus nicht abgerichtet war. Dagegen trat mein Inneres bei jeder[47] Gelegenheit so ungeschminkt, gesund und kräftig hervor, daß ich denjenigen, die mich durchaus nach sich modeln wollten, alle Lust benahm, ein hartes Urtheil über mich zu fällen. Ich hatte sehr bald das Vergnügen, zu bemerken, daß man sich in allen ernsthaften Dingen vorzugsweise an mich wandte, und mir also den Mangel an Witz um der höheren Verständigkeit willen verzieh, die mir beiwohnte. Wie viel meine gute Miene dazu beitrug, die Gemüther mit meiner Eigenthümlichkeit zu versöhnen, will ich nicht berechnen; so ausgemacht es auch ist, daß die Anspruchslosigkeit eines sonst klaren und regelmäßig gebildeten Gesichtes immer damit endigen muß, die Herzen zu gewinnen. Mehr als alles Übrige pronirte mich der Beifall bejahrter Frauen in der Meinung des Publikums. Es konnte nicht fehlen, daß ich mit den soliden Eigenschaften, die ich von meiner ersten Jugend[48] an zu erwerben Gelegenheit gehabt hatte, ihnen unendlich mehr Berührungspunkte darbot, als andere junge Mädchen oder Frauen; und indem sie die schwer erworbene Solidität des Alters in mir wiederfanden, und sich also in mir verjüngt erblickten, blieb ihnen schwerlich etwas anderes übrig, als mir das Wort zu reden, wofern sie sich nicht selbst herabsetzen wollten.

Es kam auf diesem Wege nur allzubald dahin, daß ich von Allen gesucht wurde. Man möchte nun glauben, daß ich ein Gegenstand des Neides für andere Mädchen meines Alters geworden sey; dies war aber durchaus nicht der Fall. Da ich keiner in den Weg trat, so wurde ich mit meiner Gutmüthigkeit ein Stützpunkt für alle, so daß selbst diejenigen von ihnen, welche die meisten Ansprüche auf Werthschätzung machten, mir gegenüber diese Ansprüche fahren ließen, und[49] sich, wenn sie uneins mit sich selbst geworden waren, auf mein Urtheil und meine Entscheidung bezogen. In Wahrheit, es mochte keine alltägliche Erscheinung seyn, ein junges Mädchen von siebzehn bis achtzehn Jahren, das, wo nicht schön, doch wenigstens nichts weniger als häßlich war, in physischer und moralischer Kraft den Ausschlag über ihres gleichen geben, und sich doch niemals überheben zu sehen. Das Räthselhafte dieser Erscheinung wurde durch meine Erziehung gelöset; allein diese Erziehung wurde wiederum dadurch zum Räthsel, daß die wenigsten Menschen – weil es einmal das Eigenthümliche der menschlichen Natur mit sich bringt, sich vor allen Dingen mit sich selbst zu beschäftigen – die Fähigkeit haben, solche Charaktere, als meine Pflegeeltern, zur Anschauung zu bringen. Ich blieb also immerdar ein Räthsel, das man nicht anders lösen zu können glaubte, als[50] durch Voraussetzung einer höheren Natur, welche die Morgengabe meiner Geburt gewesen.

Ich selbst fing an, mir unbegreiflich zu werden, so wie ich in der Meinung Anderer höher emporstieg. Dem Abstich, den ich durch meine Individualität bildete, die Deferenz, welche man mir von allen Seiten her bewies, zuzuschreiben, dazu war ich mit aller Verständigkeit doch noch zu unschuldig. Da ich nun in Zeiten lebte, wo man noch gar keine Ahnung davon hatte, daß eine vornehme Geburt nichts geben, wohl aber sehr viel nehmen kann, wenn nicht von staatsbürgerlichem, sondern von rein-menschlichem Werth die Rede ist; so gerieth ich auf die natürlichste Weise von der Welt auf den Gedanken, daß ich über mich selbst unfehlbar ins Reine gekommen seyn würde, so bald ich mir die nöthigen Aufschlüsse über meine Abkunft verschafft hätte.[51] Ich wunderte mich, daß ich einen so gesunden Gedanken nicht längst gehabt hätte. »Man nennt dich,« sagte ich zu mir selbst, »allenthalben Fräulein Mirabella; dies setzt voraus, daß deine Eltern von Adel gewesen sind. Warum ist aber nie von deinen Eltern die Rede? Du kannst doch kein isolirter Strahl seyn. Die ganze Welt um dich her giebt zu, daß du es nicht bist, und doch wirst du wiederum durch die ganze Welt gezwungen, dich dafür zu halten.« Mit solchen Ideen wandte ich mich an meinen Pflegevater, zum voraus überzeugt, daß er mir kein Geheimniß aus meiner Geburt machen würde, wofern er nur selbst davon unterrichtet wäre. »Sie wissen, mein theuerster Vater,« redete ich ihn an, »wie grenzenlos meine Liebe und Achtung für Sie ist. Hatte je ein menschliches Geschöpf Ursach, mit seinem Geschick zufrieden zu seyn, so hab' ich alle möglichen Bewegungsgründe,[52] das meinige zu segnen; der Zufall, der mich Ihrer Pflege übergab, war in jedem Betracht ein beglückender. Allein, da ich nur Ihre geistliche Tochter bin, und von der ganzen Welt, Sie selbst nicht ausgenommen, als solche behandelt werde: so sagen Sie mir doch endlich, wer die eigentlichen Urheber meines Daseyns sind. Ich weiß nicht, ob ich irgend etwas für sie werde empfinden können; denn alles, was von Dankbarkeit und Liebe in mir ist, haben Sie und meine theure Pflegemutter unstreitig für immer in Beschlag genommen. Aber mich drückt das Geheimnißvolle meiner Geburt; und der Wunsch, den Schleier, der auf ihr ruht, gelüpft zu sehen, wird um so lebhafter, je öfter ich bemerke, welchen hohen Werth man auf die Abkunft legt, und wie man auch mich, um meiner vorausgesetzten guten Abkunft willen, auszeichnet. Es ist mir, als wenn mein Inneres[53] gewinnen würde, so bald die Ungewißheit, worin ich über diesen Punkt bisher gelebt habe, beendigt seyn wird.«

Mein Pflegevater hörte mich, seinem Charakter gemäß, sehr ruhig an, und nachdem er mich auf einen Sessel hingezogen hatte, der neben seinem Lehnstuhl stand, antwortete er mir folgendes: »Dein Ursprung, meine geliebte Tochter, ist mir selbst immer ein Geheimniß geblieben. Es war der geheime Rath von K..., der mir deine Erziehung antrug. Von ihm hab' ich sehr regelmäßig die Gelder erhalten, welche bei der ersten schriftlichen Verhandlung stipulirt wurden. Ob er aber im Stande ist, Auskunft über deine Geburt zu geben, weiß ich nicht; ich habe es aber immer vermuthet, weil er dich in seinen Schreiben immer Fräulein Mirabella nannte. Wenn du von mir verlangst, daß ich ihn um Erörterungen bitten soll, so kann ich nicht umhin, dir eine[54] abschlägige Antwort zu geben. Meiner Einsicht nach, wirst du wohl thun, wenn du die ganze Sache fürs erste auf sich beruhen läßt. Ich gebe zu, daß diese Ungewißheit dich drückt; ich gebe sogar zu, daß es gut seyn würde, wenn diese Ungewißheit gehoben werden könnte. Allein so lange deine Eltern nicht von selbst zum Vorschein treten, wirst du dich vergeblich bemühen, sie kennen zu lernen und dich nur unglücklich machen. Zu deiner Beruhigung kann ich dir noch das sagen, daß (der Schleier, der auf deiner Geburt ruht, mag gelüpft werden, oder nicht) dein Schicksal wenigstens in sofern gesichert ist, als du Vermögen genug hast, mit Freiheit in der Gesellschaft dazustehen. Diese Notiz verdanke ich den Erklärungen des geheimen Raths. Ich füge nur noch hinzu: daß die Welt dich immer nach deinem Werthe nehmen wird, und daß es also nur von dir abhängt, das Allerhöchste zu seyn[55]

Die Bemerkung, womit mein Pflegevater seine Antwort beschloß, sprach mich ungemein wohlthätig an; sie machte auf mich ungefähr eben den Eindruck, den ein kühlendes Lüftchen auf den erhitzten Wanderer macht. Ich faßte ihre Wahrheit sogleich, wiewohl ich in keine geringe Verlegenheit gerathen seyn würde, wenn ich sie auf der Stelle hätte zergliedern sollen. Da mein Pflegevater mir unmittelbar vorhergesagt hatte, daß mein Schicksal vollkommen gesichert wäre; so würde ich mich, seinem Wunsch gemäß, beruhigt haben, hätte er mir nicht zu verstehen gegeben, daß der geheime Rath von K... allein im Stande sey, das Dunkel aufzuhellen, das auf meiner Geburt ruhete. Auf eine sehr natürliche Weise erhielt meine Neugierde eine Bundesgenossin an der Eitelkeit. Was meinem Pflegevater nicht gelungen war, das könnte, dachte ich, mir gelingen; und da mir die besondere[56] Aufmerksamkeit, womit der geheime Rath mich beehrte, so oft wir an irgend einem dritten Orte zusammentrafen, nicht entgangen war, so nahm ich mir vor, ihn, der mir, unter anderen Umständen, ewig gleichgültig bleiben mußte, so für mich zu interessiren, daß er von selbst mit dem Geheimniß hervorträte. Mir schlug das Herz, indem ich diesen Vorsatz faßte; allein wie bestimmt ich auch fühlen mochte, daß er meiner unwürdig sey, so hatte ich doch nicht den Muth, ihm zu entsagen, oder ihn nicht in Ausübung zu bringen. Wie wenig kannte ich die Welt! Derselbe Mann, der mir vorher in allen Dingen zuvorgekommen war, und, um mich liebkosen zu können, seinen Ernst beseitigt hatte, nahm die allerabschreckendste Amtsmiene an, so bald er bemerkt hatte, daß ich ihm näher trat. Was blieb mir nun noch anderes übrig, als dem Rathe meines Pflegevaters zu folgen? Die Lektion,[57] die mir für meine Eitelkeit geworden war, tief empfindend, faßte ich den Entschluß, gar nicht weiter an meine Geburt zu denken. Dies gelang mir auch so gut, daß ich nur durch den Tod des geheimen Raths (der ungefähr ein halbes Jahr darauf erfolgte) an die Neugierde zurück erinnert wurde, die mich einen Monat hindurch so eigenthümlich gequält hatte. Als ich die Nachricht von diesem Tode erhielt, war mir zu Muthe, wie einem, der nicht in den Besitz des versprochenen Schatzes gelangt ist, weil seine Wünschelruthe nichts taugte.

Ich war um so gelassener, weil um diese Zeit mein Kopf in eben den Wirbel gezogen wurde, worin sich die Köpfe aller jungen Mädchen von meiner Bekanntschaft dreheten. Nichts ergreift eine weibliche Einbildungskraft so heftig und sicher, als die lebendige Vorstellung des schönen Zukünftigen. Die ganze Gegenwart versinkt,[58] wenn von etwas Schönen die Rede ist, das mit Gewißheit erwartet werden kann; ist dies Schöne aber vollends ein Mann, so dürfte in der Zusammensetzung des Weibes schwerlich etwas enthalten seyn, das verlorne Gleichgewicht sogleich wieder herzustellen. Wie fest ich auch war, und wie noch weit fester ich mich auch glaubte, so verlor ich doch die Tramontane, so bald ich nicht umhin konnte, die Freude zu theilen, welche das Fräulein Z... über die Zurückkunft ihres Bruders aus Italien empfand. Dies hing auf folgende Weise zusammen:

Ungefähr um eben die Zeit, wo meine Pflegeeltern mit mir in die Hauptstadt gezogen waren, hatte sich die Frau von Z... mit ihrer Tochter daselbst niedergelassen. Das Fräulein war von meinem Alter, und ihre nächste Bestimmung fiel mit der meinigen zusammen, in sofern wir unsere letzte Ausbildung in der Nähe eines[59] Hofes erhalten sollten, der in dem Rufe stand, der allergesittetste in Deutschland zu seyn. Unsere Bekanntschaft war bald gemacht, und die Verschiedenheit unserer Charaktere brachte es mit sich, daß wir Freundinnen wurden. Unruhig, heftig, witzig, in ihrem Witze nicht selten beleidigend, und aus allen diesen Gründen zusammengenommen eben so oft von sich selbst, als von der Welt verlassen, bedurfte Adelaide (so hieß meine junge Freundin) einer Stütze, die sie nur in einem so sanften, stetigen und verständigen Wesen finden konnte, als ich nun einmal war. Ich meiner Seits bedurfte eines starken Reizes, um mir, bei dem gänzlichen Mangel glänzender Eigenschaften, der inneren Güte meiner Natur bewußt zu werden; und da ich diesen Reiz vorzüglich in Adelaiden fand, so suchte ich sie wenigstens eben so sehr, als ich von ihr gesucht wurde. Unsere Freundschaft[60] war weit davon entfernt, eine leidenschaftliche zu seyn; aber gerade weil ihr dieser Charakter fehlte, war sie nur um so zuverlässiger und traulicher. Bisweilen mußte es das Ansehn gewinnen, als ob ich für Adelaiden alles dasjenige wäre, was der Mann, als Intelligenz und moralische Kraft genommen, dem Weibe ist; allein da das Weib, seinem geistigen Wesen nach, nie ein Mann werden kann, so geschah es nicht selten, daß sich unser Verhältniß umkehrte. Es waren zwei Talente in Adelaiden, welche dies bewirkten: nämlich das musikalische und das poetische. Ich fühle, daß ich mich hier sehr unvollkommen ausdrücke; aber ich will versuchen, die Sache selbst ohne Kunstausdrücke zu fixiren.

Adelaide hatte eine ungemeine Fertigkeit auf dem Claviere, und liebte es, Proben ihrer Geschicklichkeit abzulegen. In dieser Hinsicht paßten wir vortreflich zusammen;[61] denn da ein solches Talent nicht in mir war, und meine Liebe für Musik darunter gar nicht litt, so halfen wir uns vortreflich aus, Adelaide mir, indem sie mir etwas vorspielte, ich Adelaiden, indem ich mich ihrer Kunst hingab, und diese von Zeit zu Zeit durch meine Stimme verschönerte. Außerdem fand meine Freundin sehr viel Vergnügen am Versemachen. Dies war, genau genommen, ihre schwache Seite; allein da das, was unsere schwache Seite ausmacht, uns immer am meisten am Herzen liegt, so suchte Adelaide für diesen Theil ihrer Beschäftigung – soll ich sagen Bewunderung und Lob, oder Entschuldigung und Nachsicht? und ein sehr richtiger Instinkt sagte ihr, daß sie eins wie das andere nie erhalten könnte, wenn sie einen Mann zu ihrem Vertrauten machte. Es mochten Verse seyn, was sie meiner Beurtheilung vorlegte; Poesie aber war es gewiß nicht.[62] Adelaidens ganze Zusammensetzung verhinderte sie, eine Dichterin zu werden; es fehlte ihr vor allen Dingen an dem Phlegma, das dazu, wie zur Ausübung jeder anderen schönen Kunst, erforderlich ist; mit allen poetischen Ideen, die ihr beiwohnten, konnte sie nie dahin gelangen, auch nur ein erträgliches lyrisches Ganze zu schaffen. Indessen paßten wir auch in dieser Hinsicht herrlich zusammen. War in ihr die Erhebung, welche zu freien Schöpfungen führt, so war in mir die Ruhe, welche diese Schöpfungen vollendet; und nachdem ich das Mechanische des Versbaues weg hatte, fehlte es mir nicht an Kraft, meiner Freundin da nachzuhelfen, wo sie von ihrer Unvollkommenheit in Stich gelassen wurde. Auf diese Weise lebten wir ohne alle Eifersucht, mehr als Schwestern, denn als Freundinnen, bis die Ankunft ihres Bruders unseren gegenseitigen Gefühlen eine andere Wendung zu geben versprach.[63]

Von diesem Bruder war dann und wann die Rede gewesen; aber ohne bemerkbare Wärme und ohne Enthusiasmus, ungefähr so, wie man von Personen spricht, die man zwar liebt, mit denen man aber zufälligerweise in solchen Verhältnissen lebt, daß es eine Thorheit seyn würde, den Empfindungen nachzugeben, welche man für sie unterhält. Gegenwärtig, wo Moritz (so hieß dieser Bruder) seine baldige Zurückkunft angemeldet hatte, veränderte sich die Sprache. Seine Mutter, deren Liebling er immer gewesen war, brannte vor Ungeduld, ihn wieder zu sehen; allein sie sprach nicht davon, unstreitig weil die jungen Mädchen, welche ihre Tochter besuchten, sehr wenig geeignet waren, ihre Gefühle zu theilen. Adelaide hingegen, wie wenig sie auch in Beziehung auf ihren Bruder empfinden mochte, sprach unaufhörlich von ihm; und hätte ich damals die Erfahrungen haben können,[64] welche mir ein fortgesetztes Studium der menschlichen Natur gegeben hat, so hätte mir einleuchten müssen, daß meine Freundin jenes Ideal, das jedes junge Mädchen in seinem Kopfe trägt, treuherzig auf ihren Bruder anwandte; voll von der Voraussetzung, daß ein dreijähriger Aufenthalt in Italien ihm alle die Eigenschaften werde gegeben haben, welche den Mann vollenden. Da ich diese Erfahrungen nicht hatte, so konnte es schwerlich fehlen, daß Adelaide, zum erstenmale seit unserer Bekanntschaft, mit mir durchging. Wie alle übrigen jungen Mädchen, welche in das Familieninteresse eingeweiht waren, glaubte ich an die Wirklichkeit dessen, was Adelaide von ihrem Bruder sagte, und unter uns allen war gewiß keine Einzige, die nicht mit klopfendem Herzen den Augenblick herbeigewünscht hätte, in welchem entschieden werden mußte, welcher der schönste und liebenswürdigste der Männer[65] – denn in diesem Lichte erschien uns der Herr von Z... – den Vorzug geben würde. Für einen ruhigen Zuschauer würde es unstreitig ein großes Vergnügen gewesen seyn, zu sehen, wie Adelaide durch die Art und Weise, wie sie über ihren Bruder sprach, zur Königin des ganzen Mädchenkreises erhoben wurde. Da war auch keine ihrer Launen, der man nicht nachgegeben hätte; ja, selbst ihre Sarkasmen verloren die scharfe Spitze, wodurch sie sonst verletzt hatten; und hätte sie den Vortheil des Augenblicks benutzen wollen, mit Tyranney über uns alle zu walten, so würde sie es ungestraft gekonnt haben. Ich selbst, obgleich von allen am wenigsten von Schwärmerei ergriffen, war in dieser Periode die Nachgiebigkeit selbst, und würde eine ganze Nacht durchwacht haben, um in einen ihrer poetischen Versuche einen erträglichen Sinn zu bringen.[66]

Die Täuschung, worein uns Adelaidens Phantasie gesetzt hatte, hörte nicht auf, als der von Z... wirklich angelangt war. Zwar sagte uns der Augenschein, daß er dem Bilde nicht entsprach, welches wir uns von seinen körperlichen Vorzügen entworfen hatten; allein körperliche Vorzüge sind etwas, das in der Phantasie des Weibes unter allen Umständen der Liebenswürdigkeit weichen muß, und diese blieb unbestritten, so lange keine Beweise vom Gegentheil vorhanden waren. Aus dem Adonis, der Adelaidens Bruder seyn sollte, war ein Mann von mittler Größe, festem Baue und einem Gesicht geworden, das, obgleich nicht ohne interessante Züge, sehr wesentlich von den Blattern verunstaltet war, und sich zuletzt nur durch eine sehr feine Nase und ein Paar großer schwarzer Augen auszeichnete. Auch seine Liebenswürdigkeit war ganz anderer Art, als wir sie uns gedacht hatten. Artig[67] gegen alle, schien er keine einzige zu bemerken; und wiewohl wir alle Ursache hatten, mit einem so klugen Benehmen zufrieden zu seyn, so war doch jede gleich sehr davon empört, weil jede sich einbildete, daß er, ohne ungerecht zu seyn, ihr den Vorzug nicht versagen könnte. Indessen wurden wir alle in Athem erhalten; und diejenigen von uns, bei welchen das Temperament den Ausschlag über den Verstand gab, legten es recht augenscheinlich darauf an, Entscheidung herbei zu führen. Einen solchen Wettstreit zu theilen, hielt ich nicht für rathsam, nicht weil ich mein persönliches Verdienst in einen allzu geringen Anschlag gebracht hätte, sondern weil ich das Unweibliche einer Bewerbung fühlte. Mich zurückziehend, überließ ich den sämmtlichen Freundinnen Adelaidens das Vergnügen, sich um einen Mann zu zanken, von welchem ich aufs bestimmteste ahnete, daß[68] etwas in ihm seyn müsse, wodurch er gegen die Aufmerksamkeit, die ihm von dem schönsten Theile meiner Bekanntschaft bewiesen wurde, gleichgültiger war, als seine Jahre es mit sich brachten.

Wenn Alles um uns her Politik treibt, so giebt es unstreitig kein sicherers Mittel, unseren Concurrenten den Rang abzulaufen, als stilles Zurückbleiben und ruhiges Abwarten des vortheilhaften Augenblicks, wo die Übrigen verzweifeln. Ich sage damit nicht, daß ich dieser Maxime gemäß handelte, als ich mich aus dem Kreise zurückzog, der Adelaiden umgab; ich folgte dabei keiner Idee, sondern nur einem Gefühl. Allein die Idee hätte mich nicht sicherer leiten können, als das Gefühl mich leitete. Kaum war Herr von Z... der Bewerbungen überdrüßig geworden, deren Gegenstand er war, so zog er sich in die Einsamkeit zurück; und kaum war er den Augen seiner Bewerberinnen[69] entschwunden, so stürzte der Thron zusammen, auf welchem Adelaide bis dahin die Huldigung aller ihrer Gespielen erhalten hatte. Verlassen und auf sich selbst zurückgebracht, konnte diese meiner nicht länger entbehren; und als sie zu mir zurückkehrte, fand sie alles, was sie ehemals an mir besessen hatte, um so eher wieder, weil kein förmlicher Bruch uns getrennt hatte. Ich wollte, als sie mich aufforderte, ihren Besuch recht bald zu erwiedern, meine Entschuldigung von dem Aufenthalte ihres Bruders in dem Hause ihrer Mutter hernehmen; allein sie kam meinen Ausflüchten dadurch zuvor, daß sie eingestand: Sie habe sich bei der Beurtheilung des wahren Charakters ihres Bruders nicht wenig geirrt. »Ich kenne ihn gar nicht wieder,« sagte sie. »Ehemals lauter Feuer, ist er jetzt lauter Eis. Wer sollte glauben, daß man sich auf einer Reise durch Italien in die Mathematik[70] verlieben könnte! Und doch ist dies sein Fall. Tag und Nacht brütet er über seinen Folard, und alle Exaltationen, deren er noch fähig ist, beziehen sich auf das verwünschte Kriegeshandwerk. Ich würde ihn hassen müssen, wenn er nicht mein Bruder wäre. Dir, liebe Freundin, aber kann ich mit vollkommner Wahrheit sagen, daß weder deine Jugend noch dein guter Name die mindeste Gefahr läuft, wenn du zu uns zurückkehrst; alle Leute kennen ihn nach gerade als einen harmlosen Sonderling, der Keinem etwas zu Liebe noch zu Leide thut; außerdem ist die Frage: Wie lange er noch bei uns verweilen wird. Denn es ist ihm hier viel zu enge, und ich stehe gar nicht dafür, daß er nicht über kurz oder lang Soldat wird.«

Adelaiden so reden zu hören, kam mir freilich unerwartet; allein da ich mich auf die Wahrheit ihrer Aussage verlassen[71] konnte, so trug ich auch nicht weiter Bedenken, mich in ein Haus zurück zu wagen, das von einem so harmlosen jungen Manne bewohnt wurde. Die erstenmale war ich mit Adelaiden allein, und ich gestehe, daß mich dies ein wenig beleidigte. Das drittemal fand sich indessen der junge Herr von Z... bei uns ein; und da wir gerade von Racine's Phädra sprachen, so nahm er Gelegenheit, uns über das Eigenthümliche der französischen Poesie zu belehren. Er gab zu, daß dies eines der interessantesten Stücke wäre, die jemals aus der Feder eines korrekten Dichters geflossen; »allein,« fuhr er fort, »was ist Korrektheit gegen das Wesen der Poesie gehalten! Wie stolz auch die Franzosen auf ihre Dichter seyn mögen, und wie selbstgenügsam auch einer ihrer Didaktiker die italiänische Poesie Schellengeklingel nennen mag, dennoch bin ich sehr geneigt, die wahre Poesie nur bei[72] den Italiänern zu suchen. Ich will, wenn die Wirklichkeit mir nicht länger behagt, eine von ihr durchaus verschiedene Welt, und diese finde ich durchaus nicht in den Werken französischer Dichter, wohl aber in denen der italiänischen. Welche Schöpfung ist in dem befreieten Jerusalem enthalten; und wo ist der Franzose, welcher behaupten dürfte, eine ähnliche sey von ihm ausgegangen? Der rasende Roland – welches Meisterstück für denjenigen, dessen Geist nicht in den Convenienzen des Lebens untergegangen ist! So hundert andere Dichterwerke der Italiäner, welche hier aufzuzählen am unrechten Orte seyn würde. Was will ich denn, wenn ich einen Dichter in die Hand nehme? Nicht Wahrheit will ich, sondern Schönheit, Übereinstimmung mit sich selbst, Harmonie in der höchsten Bedeutung des Worts. Wahrheit ist die Sache des Verstandes, und kann gelernt werden; Schönheit hingegen[73] ist Sache des Gefühls und der Anschauung, und eben deshalb über das Lernen hinaus. Ich gebe zu, daß Wahrheit zuletzt auch schön ist; aber deswegen ist Schönheit nicht wahr, und so lange es noch einen Dichter auf der Welt giebt, d.h. so lange der letzte Funke der Phantasie noch nicht im menschlichen Geschlecht erloschen ist, verlange ich von dem, der sich mir als Dichter darstellt, daß er mir Vergnügen mache, ohne daß jemals in seinem Werke von Wahrheit die Rede sey. Gerade darin liegt die Schwäche der französischen Poesie verborgen, daß die Franzosen das Wahre vom Schönen nicht zu trennen wissen, und das eine nicht ohne das andere geben wollen. Boileau's rien n'est beau que le vrai ist das Siegel des poetischen Unvermögens der Franzosen, die, wenn sie jemals Dichter werden wollen, von neuem geboren werden müssen. Es ist zuletzt nur die höhere Kraft[74] des Menschen, die ihn zum Dichter macht, und in Hinsicht dieser Kraft stehen die Franzosen bei weitem den Italiänern nach, die, so lange sie eine große Einheit bildeten, die ganze Welt eroberten, und als sich diese Einheit in Trennung auflösete, das Gefühl ihrer vorigen Größe so lange in sich konzentrirten, bis es endlich losbrach und idealische Welten schuf. Ich möchte nicht gern übertreiben; allein soll ich meiner Überzeugung gemäß reden, so waren die Italiäner zur Zeit ihrer Horaze und Virgile, welche die Welt einzig bewundert, noch Barbaren; zur Zeit ihrer Ariosto's, Tasso's und Guarini's hingegen ein hoch kultivirtes Volk.«

Adelaide war, so wie ich, nicht wenig über diese Erklärung erstaunt. Wir kämpften für unsern Corneille und Racine und Voltaire, so viel wir konnten; allein über diesen Punkt fand für den Herrn von Z... kein Capituliren statt. Als wir zuletzt,[75] nicht ohne uns zu schämen, eingestanden, daß wir nicht berechtigt wären, Dinge zu bestreiten, die uns nie berührt hätten, und zugleich zu erkennen gaben, wie sehr wir in die Geheimnisse der italiänischen Poesie eingeweihet zu werden wünschten: so war unser Antagonist sogleich erbötig, unser Mystagog zu seyn. Wirklich nahm der Unterricht im Italiänischen gleich am folgenden Tage den Anfang, und unsere Fortschritte waren, wie unser Lehrer sie nur immer wünschen konnte. Ob Adelaide mich, oder ich Adelaiden fortriß, konnte nicht in Betrachtung kommen, da wir unter den verschiedensten Antrieben standen; sie, indem sie sich in ihrem Lieblingselement, der Poesie, bewegte; ich, indem ich die Autorität eines Mannes ehrte, der mir durch die Eigenthümlichkeit seiner Urtheile täglich bedeutender wurde. Übrigens hatten wir uns kaum acht Wochen ausschließend mit dem Italiänischen beschäftigt,[76] als uns die ganze poetische Literatur der Franzosen ein Greuel war. Wie viel von diesem Abscheu auf Rechnung unseres Lehrers kam, war etwas, das wir nicht weiter untersuchten; aber schwerlich würden wir durch uns selbst, oder unter der Leitung irgend eines anderen Lehrers, zu unserer entschiedenen Vorliebe für die italiänische Poesie gelangt seyn, und Adelaide namentlich ihre ganze französische Bibliothek für eine gute Ausgabe des Aminta von Tasso feilgeboten haben. Solche Keckheit, wenn man sie in Weibern findet, ist immer das Produkt männlichen Einflusses, und beruhet, so weit meine Beobachtung reicht, zuletzt nur auf Autorität, nicht auf Gefühl und Anschauung.

Wenn ich in meinen Urtheilen vorsichtiger war, so hatte diese Vorsichtigkeit ihren Grund nicht in einem schwächeren Gefühl, sondern in dem Verhältniß, worin[77] das Göttliche der italiänischen Poesie mit Adelaidens Bruder für mich stand. Auf eine ganz eigenthümliche Weise waren beide für mich eins; denn indem ich die erstere nur durch den letzteren in mich aufnehmen konnte, mußte es mir vorkommen, als wäre jene nur in diesem vorhanden. Dasselbe würde Adelaiden begegnet seyn, wäre Moritz nicht ihr Bruder gewesen. Sie konnte von der italiänischen Poesie an und für sich sprechen; ich hingegen mußte immer den Herrn von Z... ins Spiel ziehen, und weil ich dadurch mein Geheimniß verrathen haben würde, so schwieg ich lieber. Mein Geheimniß aber bestand darin, daß ich den Herrn von Z... über alle Männer setzte, die mir jemals vorgekommen waren. Außer meinem Pflegevater, dessen moralische Heiligkeit – wenn ich mich so ausdrücken darf – ungefähr eben so auf mich einwirkte, als das Licht, und den ich aus[78] Gewohnheit hochachtete, hatten mich bisher alle Männer so gleichgültig gelassen, daß ich mit Wahrheit von mir sagen konnte: das ganze männliche Geschlecht sey gar nicht für mich vorhanden. Wodurch sich Herr von Z... von meinem Pflegevater unterschied, war mir nicht auf der Stelle klar; aber irgend eine Ahnung sagte mir, daß bei ihm außer dem Lichte auch Wärme sey. Es war, mit einem Worte, die Phantasie, wodurch er mich so unwiderstehlich an sich zog. Was ich damals nicht begriff, was mir aber seitdem sehr deutlich geworden ist, war: daß ein Weib an einem Manne zuletzt nie etwas anderes lieben kann, als jene schaffende Kraft, wodurch er, das Geschöpf, wiederum zum Schöpfer wird. Was Platon die irdische Liebe nennt, ist immer nur ein Abglanz der himmlischen, und ohne diese würde jene gar nicht vorhanden seyn, wenigstens nicht in einer weiblichen[79] Brust. Ich habe viele Weiber gekannt, die man ausschweifende nannte und als solche verabscheute. Die Unglücklichen fanden nur nie, was sie suchten. Sie wollten nicht den physischen Genuß; sie wollten jene Wärme, die das Weib empfindet, wenn es, befreit von den Banden des Egoismus, ganz in Anderen lebt, und dadurch seine Bestimmung vollendet. Wie ganz anders würden sie gerathen seyn, hätte der Zufall sich ihrer erbarmt! Von diesem verlassen, und ohne jemals einen entwickelten Begriff von dem Gegenstande ihres rastlosen Strebens gehabt zu haben, konnten sie freilich nicht anders endigen, als so, daß sie zuletzt als Abschaum der Gesellschaft dastanden; aber was sie zuerst in Bewegung setzte, war dieselbe göttliche Flamme, durch welche allein Veredelung zu hoffen ist. Ein Weib, das einmal einen Mann in der wahren Bedeutung des Wortes fand, ist[80] der Untreue eben so unfähig, als ein Weib, das an einen Lotterbuben gerieth, mit den allerbesten Vorsätzen von der Welt sich nicht in den Schranken der Treue erhalten kann, so bald ein Mann ihr unter die Augen tritt. Dies beruht auf einem Naturgesetz, dem alle gesellschaftliche Institutionen weichen müssen; und wer sich jemals in der Welt umgesehen hat, kann sich hieraus erklären, wie die schönsten Weiber an die (physisch) häßlichsten Männer gerathen, und woher das Übergewicht rührt, das alle ächte Künstler über das weibliche Geschlecht ausüben.

Ich ging, ich bekenne es, nach und nach in Adelaidens Bruder so vollkommen unter, daß ich nur in ihm lebte und webte. War aber jemals ein Mann unfähig, diese vollendete Hingebung auf eine unedle Weise zu benutzen, so war es Moritz. Wie theuer ich ihm war, leuchtete aus seinem ganzen Betragen gegen mich hervor, das[81] schwerlich liebevoller und zärtlicher seyn konnte; allein er schien mir dadurch nur beweisen zu wollen, daß, wenn irgend ein weibliches Wesen ihn fesseln könnte, ich dies weibliche Wesen seyn würde. Frei von aller Leidenschaft, hatte seine Hinneigung zu mir mehr den Charakter des Wohlwollens, als den der Liebe; wenigstens fehlte ihr diejenige Stärke, welche zwei Wesen so verschmilzt, daß sie nur in gegenseitiger Anschauung leben. Ich fühlte dies; und es schmerzte mich, die Wahrheit zu gestehen, um so tiefer, je unendlicher meine Liebe für Moritz war. Allein was konnte, was mußte geschehen, wenn es anders werden sollte? Ich grübelte in den Augenblicken, wo ich mir selbst wieder gegeben war, recht emsig darüber nach; aber ich sagte mir zuletzt immer, daß alle diese Grübeleien vergeblich seyn würden, so lange ich die unbekannte Gewalt, welche Moritzen von mir zurückzog,[82] nicht genauer kennen gelernt hätte. Wie sehr fürchtete ich, daß sie in mir selbst seyn könnte! Wie gewissenhaft erwog ich alle meine Äußerungen und in ihnen mein ganzes Wesen! Vergeblich für meinen Endzweck; ich mochte mich betrachten von welcher Seite ich wollte, alles führte mich zu dem Resultat, daß ich gut und edel sey; und in dieser Überzeugung wurde ich nicht wenig bestärkt, als Adelaide, der mein innerer Zustand nicht entgangen war, mir gelegentlich sagte, daß ihr Bruder nicht ohne Wärme und Enthusiasmus von mir spreche. War aber jene unbekannte Gewalt außer mir – worin bestand sie? Ich schloß auf eine frühere Verbindung, auf ein gegebenes Wort und dergleichen zurück.

Um hierüber ins Reine zu kommen, erkundigte ich mich bei Adelaiden mit aller nur möglichen Schonung nach den Verhältnissen, worin ihr Bruder stehe;[83] aber ihre Antwort war so beschaffen, daß mein Zustand dadurch nur verschlimmert wurde. »Glaube mir,« sagte sie, »über diesen sonderbaren Menschen kommen wir nur dadurch ins Reine, daß wir annehmen, er sey mit allen seinen herrlichen Eigenschaften doch nur ein kalter Egoist, den nichts berührt, was nicht ganz unmittelbar in seine Ideen und Entwürfe eingreift. Ich wenigstens werde sonst nicht klug aus ihm. Dafür kann ich dir einstehen, daß er in keinen Verbindungen lebt, welche der Freiheit Abbruch thun. Sollte man nicht glauben, er habe die eine oder die andere Bekanntschaft auf seinen Reisen gemacht, welche einer thätigen Zurückerinnerung werth wäre? Allein, wie erwiesen es auch ist, daß er mit den allerinteressantesten Personen gelebt hat, so hat er doch seit seiner Zurückkunft, d.h. seit mehr als vier Monaten, bis jetzt an keine lebendige Seele geschrieben.[84] Was in ihm vorgeht, mag Gott wissen. Jeder Augenblick, den er dem Umgange entziehen kann, ist noch immer dem Studium der militairischen Wissenschaften gewidmet. Die sonderbarste Liebhaberei von der Welt, wofern er nicht damit umgeht, sich auf seinen Gütern zu verschanzen! Ich möchte nur wissen, wie alle diese Zahlen und Linien – denn mit etwas anderem beschäftigt er sich gar nicht – ihn wach erhalten können. So etwas muß ja den Geist abstumpfen und tödten; aber weit gefehlt, daß er dies zugeben sollte, besteht er, so oft ich hierüber mit ihm anbinde, darauf, daß dies nur eine andere Art der Poesie sey, die ihre Grundlage in der Wirklichkeit habe, und den Vorzug besitze, für das gesellschaftliche Leben, das durch meine Poesie zu Grunde gerichtet werde, neues Interesse einzuflößen. Mehr bring' ich nicht aus ihm heraus; und wenn seine Behauptungen nicht Unsinn seyn sollen,[85] so muß er sie vor denjenigen vertheidigen, die etwas mehr davon verstehen, als ich.«

Nach diesen Aufschlüssen mußte ich annehmen, daß die Mathematik meine Nebenbuhlerin sey; allein wie hätte ich dazu kommen sollen, dieser Voraussetzung Wahrheit zuzuschreiben, da Moritz höchstens 25 Jahre zählte? Der Reiz der Wissenschaft sey noch so groß, so ist er doch nicht früher vorhanden, als der Besitz. Was uns aber zur Erwerbung treibt, ist nie die Wissenschaft, sondern irgend etwas Menschliches, dem sie als Mittel dienen soll. Was trieb nun meinen Moritz?

Ich war der Katastrophe, welche das Geschick meines Lebens entscheiden sollte, bei weitem näher, als ich glaubte; ehe ich aber der Aufschlüsse erwähne, welche mir Moritz über sein Inneres gab, muß ich von den Zeiten reden, in welchen dies vorfiel.[86]

Der siebenjährige Krieg war seit anderthalb Jahren begonnen, und nicht blos Deutschlands, sondern auch des ganzen Europa Augen waren auf den verwegenen Friedrich gerichtet, der lieber einen Kampf mit den größten Mächten des festen Landes eingehen, als nur einen Fingerbreit von dem einmal Erworbenen zurückgeben wollte. Die Urtheile über seinen Charakter waren verschieden, je nachdem sie von der Schwäche oder der Stärke ausgesprochen wurden. Die große Mehrheit, welcher innere Größe ein unauflösliches Räthsel ist, verdammte ihn bis in den tiefsten Abgrund, als einen Räuber und als einen Tyrannen seiner eigenen Völker; indessen fehlte es nicht an Einzelnen, welche auf die Nothwendigkeit eingingen, worin sich der Monarch befand, und, seinen Muth bewundernd, zugleich seine Einsicht priesen. Wenn jene ihn nicht schnell genug zerschmettert sehen konnte,[87] weil er sich gleich bei Eröffnung des Feldzuges Sachsens bemächtigt hatte; so wünschten diese seinen Unternehmungen jeden glücklichen Erfolg, überzeugt, daß das Genie nur dann zerstört, wenn es aufbauen will, und fest versichert, es werde doch noch einmal eine schöne Welt durch ihn ins Daseyn gerufen werden. Der Ausgang des wunderbaren Kampfes, in welchem der Verstand gegen die Masse zu Felde zog, beschäftigte alle Köpfe; und nicht selten geschah es, daß man sich in einer und derselben Familie über eine von Friedrich gewonnene oder verlorne Schlacht freute und härmte, je nachdem die Mitglieder derselben ihm wohl oder übel wollten. So sehr war seine Angelegenheit die des ganzen Deutschlands, daß seine Thaten selbst in die entferntesten Kreise drangen, und wenigstens die muntere Jugend für den Helden ihrer Zeit begeisterten.[88]

Der Hof, in dessen Nähe ich lebte, war nicht blos durch die Bande der Verwandtschaft an das preußische Haus gefesselt, sondern auch durch Charakterschwung und Genie dem großen Friedrich besonders zugethan. In unserer Hauptstadt galt also nur das preußische Interesse. Wer sich von demselben losgesagt hätte, würde nicht sowohl für einen schlechten Bürger, als vielmehr für einen Einfältigen gegolten haben, der das Edlere und Bessere nicht zu fassen vermögte. So lebendig war die Theilnahme an Friedrichs Siegen, daß sie von Privatpersonen in Familien-Zirkeln gefeiert wurden. Die Neugierde war unersättlich, wenn einmal von dem preußischen König die Rede war. Alles, was zu seiner Umgebung gehörte, wurde als Bestandtheil seines Wesens betrachtet; und so erhielten die Namen seiner vorzüglichsten Generale eine Illustration, welche sie schwerlich auf irgend[89] einem anderen Wege erworben haben würden.

Kein Jahr war reicher an Glückswechseln, als das Jahr 1757. Im Anfang desselben Sieger, so daß Maria Theresia sich in Wien selbst nicht sicher glaubte, wurde Friedrich bald darauf aus Böhmen vertrieben. Von seinen Bundesgenossen verlassen, von allen Seiten mit Feinden umringt, dem Verderben blosgestellt, ermannte er sich zu neuen Triumphen. Die Schlachten bei Rosbach und Leuthen setzten ganz Europa in Erstaunen; vorzüglich die letztere, in welcher eine selbstgeschaffene Taktik dem dreimal stärkeren Feinde den Sieg entriß. Die Wiedereroberung Schlesiens folgte diesem Siege. Gern hätte Friedrich auf seinen Lorbeern ausgeruht; denn der Krieg war gegen alle seine Wünsche erfolgt, und die Fortsetzung desselben störte ihn in edleren Entwürfen. Allein wie tief auch seine[90] Feinde das Übergewicht seines Genies empfunden haben mochten, so fühlten sie sich noch nicht erschöpft, und ihre Kampflust gebot seinen Neigungen.

Ich befand mich bald nach der Schlacht bei Leuthen eines Nachmittags in dem Hause der Frau von Z... Es war die Rede von dem neuen herrlichen Siege, den die preußische Tapferkeit erfochten hatte, und mit tiefgefühlter Theilnahme sprach man von Friedrichs mißlicher Lage bei seiner Ankunft in Schlesien, und von der Art und Weise, wie er, wenige Tage vor der Schlacht, seinen Generalen in einem Kriegsrath den Zustand seines Gemüthes offenbaret. Plötzlich sprang Moritz, der während dieser Unterhaltung stumm und in sich selbst vertieft da gesessen hatte, von seinem Lehnstuhl auf, und, in die Mitte des Zimmers tretend, sprach er, starren Blickes und festen Tones, uns allen unerwartet, folgenden Monolog:[91]

»Könnt' ich etwas an diesem Friedrich tadeln, so würde es die Vorliebe seyn, die er für französischen Geist und französische Sitte zeigt. Wie wenig kennt er sich selbst, wenn er Formen ehrt, die keine andere Grundlage haben, als die Flachheit selbst! Doch er gebehrde sich, wie er wolle, nie wird er das Gemüth eines Deutschen ganz verleugnen können. Durch dies kräftige, reiche Gemüth gebietet er selbst den Franzosen, deren Schöngeisterei vor seinem Genie verstummt, und deren Hinterhaltigkeit vor seiner Ehrlichkeit erbebt. Ja, er ist das Größte, was das Schicksal diesen Zeiten verleihen konnte; der einzige Mann seines Jahrhunderts, bestimmt, ein neues Geschlecht zu gründen, und in der Weltgeschichte mit unverwelklichem Lorbeer zu prangen. Wer seine Rechtlichkeit anklagt, vergisset, daß das Genie die unversiegliche Quelle neuen Rechtes ist, und jeglichen Beruf aus sich[92] selber nimmt. Alle kräftigen Naturen, so viel ihrer in Deutschland übrig geblieben sind, sollten Kreis um ihn schließen und seine Sache zu der ihrigen machen. Was ist das Leben ohne Liebe, und wie kann man das Leben höher ausbringen, als wenn man große Entwürfe befördern hilft! Ich weiß, daß diese Ziethen und Seidlitz und Keith nur Maschinen sind; allein war jemals der Mensch etwas anderes, als Werkzeug in den Händen des Schicksals, und was ist das Schicksal selbst, wenn es seinen letzten Grund nicht in der Idee eines vielumfassenden Kopfes hat? Friedrichs Planen dienen, ist die höchste Bestimmung, die man sich geben kann. Je größer er der Nachwelt erscheint, desto mehr Verdienst hat man sich um die Mitwelt erworben; denn nur dadurch kann er wahrhaft groß werden, daß man kein Bedenken trägt, sich ihm aufzuopfern. Magnetisch fühl' ich mich an ihn angezogen,[93] und verdorben ist meine ganze Existenz, wenn ich nicht dahin gelange, mich in seinem Geiste zu spiegeln. Mich seiner würdiger zu machen, hab' ich es nicht an Anstrengungen fehlen lassen. Jetzt hat die Stunde der Vollbringung geschlagen. Keinen Augenblick will ich verlieren.«

Es war uns sonderbar zu Muthe bei diesem Monolog; denn so rücksichtslos wurde er gesprochen, daß unsere erste Ahnung keine andere seyn konnte, als die, daß Moritz von Sinnen gekommen sey. Adelaide, welche neben mir saß, umschlang mich mit ihrer Linken und starrte auf ihren Bruder hin. Ob auch ich auf ihn hinstarrte, oder die Augen niederschlug, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß ich nun mit einemmale gefunden hatte, was ich bisher vergebens suchte. Es war also Friedrich der Große, der sich zwischen mich und meinen Moritz in die Mitte stellte und unsere Vereinigung verhinderte.[94] Einen solchen Nebenbuhler hatte ich nicht erwartet. Sollte ich ihm zürnen? Ich konnte es nicht. Er stand ja nur als Idol da; und war er wohl das meinige minder, als Moritzens? Ich begriff den inneren Zustand des jungen Mannes auf der Stelle; und wie sehr ich ihn anbeten mochte, so fühlte ich doch, nach einem solchen Aufschluß, nicht das kleinste Verlangen, ihn an der Ausführung seines Entwurfes zu verhindern. Wie Liebe ohne Eigennutz bestehen könne, begreifen wenige; aber noch weit wenigere haben die Kraft, sich eine leidenschaftslose Liebe zu denken. Ich möchte in diesen Bekenntnissen um keinen Preis zu viel oder zu wenig von mir sagen; aber das wag' ich zu behaupten, daß, wenn der Eigennutz meiner Liebe für Moritz immer fremd geblieben war, die Leidenschaft von Stund an daraus verschwand. Ich kannte das Schöne, ehe ich seine Bekanntschaft gemacht[95] hatte; er versinnlichte es mir und wurde mir dadurch unendlich theuer. Jetzt, wo ich ihn in Regionen aufsteigen sah, die ich nie geahnet hatte, jetzt wurde er für mich eben so das Symbol des Herrlichen, wie das Crucifix in den Händen eines gläubigen Catholiken das Symbol jeder Tugend ist. Was ich hier sage, können nicht Alle zur Anschauung bringen; aber wie soll ich es sagen, um mich deutlich zu machen? Genug, ich verließ das Haus der Frau von Z... mit ganz anderen Empfindungen, als diejenigen waren, mit welchen ich gekommen war; und ich behaupte, daß es unmöglich ist, zugleich ruhiger zu seyn, und einen gegebenen Mann bestimmter anzubeten, als beides bei mir der Fall war. Gelassen zog ich mich aus, nachdem ich zu meinen Pflegeeltern zurückgekommen war; eben so gelassen ging ich zu Bette; und als ich am folgenden Morgen nach einem sanften[96] Schlaf erwachte, war mein erster Gedanke: Moritz ist der erste aller Männer. Ich wollte mir die Gefahren vergegenwärtigen, denen er entgegenging; aber damit wollte es mir durchaus nicht gelingen; die Stimmung, in welcher ich mich einmal befand, brachte es mit sich, an keine Gefahr in Beziehung auf Moritz zu glauben, und diese Idee, wie sonderbar sie auch erscheinen mag, war gewiß eine sehr richtige.

Es wird nach allem, was ich bisher gesagt habe, schwerlich auffallen, wenn ich hinzufüge, daß ich nicht unterließ, meine Freundin, wie bisher, zu besuchen, und mich dadurch dem Herrn von Z... zu nähern; ich konnte dies jetzt um so eher thun, da das Verhältniß, worin ich mit ihm stand, durch die Bestimmtheit, welche seine letzte Erklärung ihm gegeben hatte, eine Unschuld gewann, die es zu einem kindlichen machte. Von dem Auftritte[97] des vorhergehenden Tages war nicht weiter die Rede, nachdem Moritz über das Pathos, womit er seinen inneren Zustand verrathen, gelächelt hatte. Über andere Gegenstände wurde gescherzt; ja irgend eine Freude, die ich nicht beschreiben kann, die aber das unmittelbare Resultat der aufgehobenen Spannung war, herrschte in allen Gesichtern und sprach aus allen Gedanken, als Moritz, ich weiß nicht ob am dritten oder vierten Tage nach der oben beschriebenen Scene, die augenblickliche Abwesenheit seiner Mutter und Schwester benutzend, meine Hand ergriff und folgende Rede an mich richtete:

»Ich gestehe Ihnen, meine Theure, daß ich vor ungefähr einer Woche an den König von Preußen geschrieben habe, um ihm meine Dienste anzutragen. Schon lange war dies mein geheimer Entschluß; allein ehe ich ihn zur Ausführung bringen konnte, bedurfte es mehrerer Vorbereitungen,[98] mit welchen ich erst jetzt zu Stande gekommen bin. Viele werden diesen Schritt tadeln; allein ich bleibe ruhig, wenn ich weiß, daß Sie, meine Theure, nicht zu meinen Tadlern gehören. Sagen Sie selbst, ob mir etwas anderes übrig blieb? Fünf und zwanzig Jahre alt, befinde ich mich in dem Wechselfall, entweder Civildienste zu nehmen, oder auf meine Güter zu gehen, wenn ich durchaus nicht Soldat werden soll. Civildienste – wohin können sie fuhren? Meiner Berechnung nach nur zur Erbärmlichkeit. Jedes einzelne Geschäft, das man als Civilbeamter betreibt, vorausgesetzt, daß man nicht an der Spitze eines Departements steht, ist zuletzt nichts weiter, als eine anständigere Art von Besenbinderei, die, wie gut sie auch remunerirt werden mag, den inneren Menschen tödtet, indem sie den Staatsbürger belebt. Soll ich Prozesse instruiren, oder Landesverordnungen[99] entwerfen, oder Kammerherrendienste thun? Meine Kraft würde mich von jedem Subalternposten, den man mir geben könnte, verdrängen. Ich habe nicht Athem genug, die lange Dienstcarriere zu ertragen. Mich interessirt das in einander greifende staatsbürgerliche Leben, aber nur im Großen, nicht im Kleinen; um das Detail lieb zu gewinnen, müßt' ich vor allen Dingen meinem ganzen Wesen entsagen, d.h. aufhören, ein Edelmann zu seyn. Wahr ist, ich könnte mich auf meine Güter begeben und Herrscher in meinen eignen Staaten seyn. Aber zu welchem Zweck? Meine Vorfahren haben genug erworben, um mich zufrieden zu stellen. Ich will erhalten, was auf mich vererbt worden ist; aber ich will es weder vermehren, noch ängstlich darauf bedacht seyn, Schätze zu sammeln. Kommt Zeit, kommt Rath. Fürs Erste will ich mich zum Bewußtseyn meiner[100] Existenz erheben; und da dies nur im Felde möglich ist, so will ich in den Krieg ziehen. Mich lockt dazu vor allen Dingen die Größe des Helden, der unbezwungen gegen ganz Europa ankämpft. Je kritischer seine ganze Lage ist, desto stärker ist mein Beruf, ihn mit meinen Kräften zu unterstützen. Ich werde keinen materiellen Vortheil davon haben, das weiß ich vorher; aber es wird mich in Athem setzen, und das ist mir genug. Werd' ich meinen Wünschen gemäß angestellt, so komme ich in seine Nähe und finde Gelegenheit, den größten Charakter unseres Jahrhunderts zu studiren. Und was will ich mehr? Der Rückzug auf meine Güter steht mir immer offen. Trete ich ihn nach einigen Jahren an, so habe ich, bis dahin wenigstens, mein Leben hoch ausgebracht und mich mit seltenen Erfahrungen bereichert. Diese Gründe, meine Theure, haben mich bestimmt.[101] Sollten Sie etwas dagegen einzuwenden haben?«

Meine Antwort auf diese Frage war: »Sie haben sich, mein edler Freund, durch diese Analyse vor sich selbst zu rechtfertigen gesucht; aber ich glaube nicht, daß es einer solchen Rechtfertigung bedarf. Es war genug, daß Ihr Gemüth so entschieden hatte. Friedrichs Wesen umschließt alles, was Sie groß und edel nennen; darum drängen Sie sich in seine Nähe, wie ich mich in die Ihrige gedrängt habe. Ich verstehe Sie vollkommen; und weil ich Sie verstehe, muß ich Ihre Schritte billigen. Wie konnten Sie erwarten, daß wir hierin verschiedener Meinung seyn würden? Dies sind wir nie gewesen, dies können wir niemals werden. Der Streit ist nur für diejenigen vorhanden, die sich einander nicht begreifen; wir aber können, dünkt mich, nur zusammen sprechen, nicht mit einander[102] disputiren. Ich, die Ihnen so viel verdankt, ich sollte dieselben Ideen, die Sie in mich niedergelegt haben, gegen Sie wenden? Wie wäre dies nur möglich! Ich habe nicht das Allermindeste gegen Ihren Entschluß vorzubringen; erlauben Sie nur, Ihnen zu sagen, daß Sie im Schlachtgetümmel mir eben so gegenwärtig seyn werden, als Sie es in diesem Augenblicke sind.«

Um keinen Preis hätte ich eine andere Antwort geben können, und ihre Wahrheit ergriff den Herrn von Z... so sehr, daß er in ein tiefes Nachdenken versank. Mutter und Schwester kehrten zu uns zurück, und nun war von anderen Dingen die Rede. Schwerlich ist jemals eine Liebeserklärung in dieser Form gemacht worden; und schwerlich meinten es gleichwohl zwei Liebende ernstlicher und redlicher mir einander. Mit welchem Feuer würden wir uns umfaßt haben, hätte es keinen[103] Friedrich den Zweiten gegeben! Wir fühlten auf das deutlichste, daß wir für einander da waren, aber wir fühlten zugleich, daß der Augenblick unserer Verbindung noch nicht gekommen sey.

Ein Eilbote überbrachte in einem königlichen Handschreiben die Nachricht von Moritzens Anstellung im Gefolge des Monarchen nach einem monatlichen Garnisondienst. Die Anstalten zur Abreise wurden unverzüglich gemacht. Mein Herz klopfte bei dem Anblick derselben, und eine schwarze Ahnung bemächtigte sich meines Gemüths; aber ich half beim Einpacken, indem ich Pflicht nannte, was ich zu meiner Zerstreuung that. Moritz war wechselsweise exaltirt und niedergeschlagen, und ich sah nur allzudeutlich, wie er sich zugleich an mich angezogen und von mir zurückgehalten fühlte. Einmal sagte er mir: »Es bleibt eine ewige Wahrheit, daß die Ruhe nur in dem Gemüthe der Weiber[104] ist.« Ich hatte nicht das Herz darauf zu antworten, wiewohl ich für den Augenblick sehr viel gegen diese ewige Wahrheit einzuwenden hatte.

Die Stunde der Trennung rückte immer näher. Ich wollte einem förmlichen Lebewohl ausweichen, weil ich mich nicht stark genug dazu glaubte; allein Moritz hatte meine Absicht allzugut errathen, um sie nicht zu vereiteln. Überraschend erschien er in meiner Wohnung, und mit einer Miene, welche mir seinen inneren Zustand als sehr aufgeregt darstellte, überreichte er mir, außer einem Ringe, sein Bildniß im Kleinen an einer leichten goldenen Kette mit der Bitte, beides zu seinem Andenken zu tragen. Ich nahm Ring und Bildniß mit dem Versprechen an, daß ich sie tragen wollte, und fragte den Geber: Ob er gleiches Unterpfand von mir zu besitzen wünschte? Auf seine bejahende Antwort verabredeten wir den Ort, wohin[105] ich beides schicken sollte. Moritz zauderte noch. Ich legte ihm die Frage vor: Ob er noch etwas wünsche? »Einen Kuß, Mirabella!« war seine Antwort. »Wiewohl es der erste ist,« entgegnete ich, »den ein Mann von mir erhält; so bin ich doch nicht berechtigt, dieses Zeichen weiblichen Wohlwollens dem vorzuenthalten, den ich für den ersten der Männer halte.« Mit diesen Worten reichte ich ihm meine Lippen. Meine Thränen ergossen sich; die seinigen nicht minder. Und so schieden wir aus einander, hoffend, daß wir uns wiedersehen würden.

Moritz hörte nicht auf, mir gegenwärtig zu seyn, weil er abwesend war. Ring und Bildniß hatten nur eine untergeordnete Kraft, die sich bisweilen ganz verlor. Eine höhere lag in der italiänischen Poesie; denn noch immer dauerte die Täuschung fort, vermöge welcher diese für mich mit Moritz einerlei war. So oft ich das befreiete[106] Jerusalem in die Hand nahm, unterhielt ich mich nicht mit Tasso – dieser war gar nicht für mich vorhanden – sondern mit dem Geliebten, durch welchen sich in mir die Fähigkeit entwickelt hatte, in diesem Gedicht ein Meisterwerk zu schätzen. Vermöge eines besonderen Mechanismus meines Inneren fing ich die Lektüre nie mit der Betrachtung des Bildnisses an, das Moritz mir zurückgelassen hatte; wohl aber endigte ich mit derselben. Und diese Eigenthümlichkeit ist mir mein ganzes Leben hindurch geblieben; ich kann noch immer keinen Vers eines italiänischen Dichters hören oder lesen, ohne sogleich an Moritz zu denken und mir die ganze Periode zu vergegenwärtigen, in welcher ich seine erste Bekanntschaft machte, und durch ihn Richtungen erhielt, die mir eine ganze Ewigkeit hindurch bleiben mußten.

Moritz schrieb häufig an mich und die Seinigen. Am liebsten sprach er von dem[107] großen König, der ihn in seinen Strudel gezogen hatte. In einem seiner Briefe drückte er sich folgendermaßen aus: »Über Friedrichs ganzes Wesen ist ein unwiderstehlicher Zauber verbreitet, der eben so sehr aus seinen großen blauen Augen, als von seinen kleinen geschlossenen Lippen spricht. Eine Folge dieses Zaubers ist, daß er in dem Urtheil seiner Umgebung immer Recht hat. Viele hassen ihn, weil sie nicht von ihm geliebt werden; aber sie vollbringen seine Befehle deshalb nicht langsamer, als ob die feurigste Liebe sie beseelte. Um als Diener eines solchen Monarchen in keinem Widerspruche mit sich selbst zu stehen, muß man auf Gegenliebe Verzicht leisten können; denn er hat sie nicht in seiner Gewalt. Das große Ganze mit seinem Gemüthe umspannend, kann er zu Individuen nicht mit Liebe herabsteigen, ohne sein Wesen zu zerstören. Sie gelten ihm etwas, aber nur[108] im Vorbeigehn, nur im Fluge, nur in so weit sie sich deutliche Begriffe von seinem Geschäfte machen und keine Ansprüche an den Menschen bilden, die der Monarch nicht erfüllen kann, ohne seiner Pflicht zu entsagen. Wer dies nicht fassen kann, weil es ihm an Kraft fehlt, aus sich selbst heraus zu gehen und sich gewissermaßen mit dem Könige zu identifiziren, der ist verloren, wenigstens in sofern sein Verhältniß zu dem Könige nie ein angenehmes für ihn werden kann. Wie neu mir auch der Dienst noch ist, so erkenne ich doch schon aufs deutlichste, daß ich, um jedem Widerspruch zu entgehen, in welchen ich mit mir selbst gerathen könnte, von vorn herein allem Egoismus entsagen und nur in der Liebe leben muß; und um mir die Auflösung dieses schweren Problems zu erleichtern, wiederhole ich mir unaufhörlich, daß Friedrich nichts anderes ist, als die allgemeine Intelligenz des Staates,[109] an dessen Spitze er steht, und daß ich für alle Dienste, die ich ihm leisten kann, hinlänglich belohnt bin, wenn ich ihn als allgemeine Intelligenz begriffen habe. In der That, das ist das große Ziel, das ich mir vorgesetzt habe. Erreiche ich es jemals, so hat die Stunde meines Abschiedes in eben dem Augenblick geschlagen, wo ich es erreicht habe. Eben so unbefangen, ehrlich und uneigennützig, als ich in Friedrichs Dienste getreten bin, verlasse ich dieselben, indem ich dem Monarchen melde, daß ich die Reife erhalten habe, die ich beim Eintritt in seine Dienste suchte. Die Urtheile um mich her berühren mich nicht, weil ich die Quelle derselben aufgefunden habe; wenn das Gemüth die Stelle des Verstandes vertritt, so ist Schiefheit und Verwirrung unvermeidlich. Man muß, einem Friedrich gegenüber, nicht als Mensch, sondern nur als Staasdiener gelten wollen; man muß[110] sich mit ihm identifiziren, ohne jemals zu verlangen, daß er sich mit uns identifizire.«

Moritz, welcher, unmittelbar nach der Übergabe von Schweidnitz, in die Nähe des Königs gekommen war, begleitete sein Idol als Adjutant auf dem Zuge nach Mähren. Viele unvorhergesehene Hindernisse hemmten den Lauf der Kriegsoperationen. Als alle endlich überwunden waren und Olmütz belagert werden konnte, fehlte es an den Belagerungsmitteln, weil es den Österreichern gelungen war, einen großen Theil derselben zu zerstören. Die Lage des preußischen Heeres in Mähren war um so kritischer, da Laudon eine solche Stellung genommen hatte, daß der Rückzug nach Schlesien wo nicht unmöglich, doch wenigstens sehr gefährlich geworden war. Nur Friedrichs überlegenes Genie konnte hier Rettung bringen. Ein Marsch, auf den der österreichische[111] General nicht gerechnet hatte, weil er über lauter Gebirge führte, brachte das preußische Heer in verschiedenen Abtheilungen durch Böhmen und die Grafschaft Glatz dennoch nach Schlesien zurück. Gewiß waren die Mühseligkeiten dieses Marsches für jeden unbeschreiblich; aber, wie andere sie mehr oder weniger empfinden mochten, für Moritz waren sie, wenigstens seinen Briefen nach, gar nicht vorhanden. Überhaupt war es auffallend, daß er nie von den Beschwerden seiner Existenz, sondern nur immer von den neuen Ideen sprach, womit sie ihn bereicherte.

Bekanntlich waren die Russen, während Friedrich in Mähren verweilte, aus Preußen, welches sie als Eigenthum verschonten, verheerend nach Pommern und der Mark vorgedrungen. Küstrin, dessen Festung sie allein verhindern konnte, in das Herz des preußischen[112] Staates einzudringen, wurde von ihnen belagert und in einen Aschenhaufen verwandelt. Der Sturm, womit der russische General die Festung bedrohete, sollte anheben, als sich die Nachricht von der Ankunft des Königs verbreitete. Mit vierzehntausend Mann war Friedrich aus Schlesien aufgebrochen, den Barbaren, die nur zerstören konnten, das Handwerk zu legen. In einem verhältnißmäßig kurzen Zeitraum hatte er unter großen Beschwerden sechzig deutsche Meilen zurückgelegt; und so wie er sich dem Kriegesschauplatz genähert hatte, war sein Gemüth von den Brandstätten und Trümmern ergriffen worden, welche den verheerenden Zug der Russen bezeichneten. Die Stimmung, worin er sich befand, ging, wie ein elektrischer Strahl, auf seine Krieger über. In allen entwickelte sich der Gedanke: daß Verschonung eines solchen Feindes ahndungswürdiger Frevel sey,[113] den man an der Menschheit selbst begehe. Racheschnaubend näherten sich die Preußen den Russen, und in dem Heere der letzteren erfuhr man nur allzubald, daß die ersteren keinen Pardon geben würden. Eine mörderische Schlacht lag im Hintergrunde.

Sie wurde bei Zorndorf geliefert. Was Andere vor mir beschrieben haben, mag ich nicht wiederholen. Genug, diese Schlacht war die Verklärung der preußischen Tapferkeit. Der König selbst stürzte sich in jegliche Gefahr. Um ihn her fielen seine Adjutanten, seine Pagen. Gleich einer ehernen Mauer stand der linke Flügel der Russen da, als der rechte bereits geschlagen war. Was diesem geschehen war, mußte auch jenem zu Theil werden, wenn Friedrich seine Staaten mit Erfolg retten wollte. Seidlitz eröffnete das Gemetzel, indem er die russische Reiterei warf. Es wurde vollendet; aber indem Moritz als[114] Adjutant hiehin und dorthin flog, fiel er, von einer Flintenkugel, welche der Zufall leitete, ereilt, eine halbe Stunde vor dem Ausgang einer der merkwürdigsten Schlachten des siebenjährigen Krieges, mit vielen anderen Edlen, welche im Kampfe fürs Vaterland hier ihr Grab fanden. Erst am folgenden Tage fand man ihn unter den Todten. Die Kugel war durchs Herz gefahren. Den Tod hatte er also nicht empfunden.

Seine Briefe blieben aus. Eine schwarze Ahnung trat in unsere Seelen. Die Sache selbst war gewiß, ehe die Bestätigung erfolgte. Endlich erfolgte auch diese. Die Mutter war trostlos; denn es war ihr einziger Sohn, den sie verloren hatte, und dieser einzige Sohn war um so mehr ihr Stolz, je unerreichbarer ihr die Höhe war, auf welcher er als geistiges Wesen stand. Adelaide weinte; allein ihr Kummer war weder tief, noch von[115] Dauer; die Wandelbarkeit ihres Wesens rettete sie von einem langen Schmerze. Ich – – Was soll ich von mir sagen? Daß es keinen Ersatz für mich gebe, fühlte ich tief; aber in der Größe meines Verlustes selbst lag ein Trost, der, wenn ich ihn auch auf niemand übertragen konnte, doch aufs bestimmteste von mir empfunden wurde. Nur das begränzte Etwas kann ein Gegenstand menschlicher Empfindung werden, und das Gemüth in angenehme oder unangenehme Bewegungen setzen; das unendliche Alles ist immer nur ein Gegenstand des Geistes, und kann daher nie auf die Empfindung zurückwirken. Weil ich in Moritz untergegangen war, konnte ich nicht um ihn weinen. Eine zweite Alceste, hätte ich für ihn eben so bereitwillig sterben können, als er für sein eigenes Ideal gestorben war; aber seinen Verlust bejammern konnte ich nicht. Er war ja nicht der Meinige, wie ich die[116] Seinige war. Dem Gemahl hätte ich folgen müssen in den Tod; den Bräutigam konnte ich um so eher überleben, weil es sehr problematisch war, ob das Verhältniß, worin ich mit ihm stand, so modifizirt werden konnte, daß aus dem Bräutigam ein Gemahl wurde. Denn nur seinem Ideale hatte Moritz gelebt. Wollte er sich mit mir verbinden, so mußte er aus seinem Wesen heraustreten. Konnte er das, wenn er es auch wollte? Konnte er es nicht, so mußte zwischen uns eine Kluft befestigt bleiben, welche durch nichts auszufüllen war; und die natürlichste Folge davon war, daß ich mich in einer ewigen Sehnsucht verzehrte. Und hatte ich durch seinen Tod das Mindeste an ihm verloren? In sofern er für mich das Symbol des Schönen und Edlen war, existirte er für mich noch immer. Auf ihn mußte ich zurückkommen, so oft ich einen Maaßstab gebrauchte, das unsichtbare Große[117] nach allen seinen Dimensionen zu erforschen. War er gleich nie der Meinige gewesen, und war es gleich jetzt physisch unmöglich geworden, ihn als Gemahl zu besitzen; so konnte ich doch nie aufhören, die Seinige zu seyn und ihn mit aller der Hingebung zu lieben, die meiner durch ihn veredelten Natur eigen war.

Ich sage nicht, daß ich in jenen Unglückstagen, wo Mutter und Schwester durch die Bestätigung seines schönen Todes zu Boden geworfen wurden, so dachte; aber ich sage, daß ich so empfand, wenn es anders erlaubt ist, diesen Ausdruck da zu gebrauchen, wo Ruhe und Resignation obwalten. So also, und nicht anders, hätte ich mich gegen den Vorwurf der Fühllosigkeit vertheidigen müssen, wäre er mir gemacht worden. Ich würde sehr Wenigen verständlich geworden seyn; aber alle diejenigen, welchen ein über die gewöhnlichen Schranken hinausgehendes[118] Verhältniß nicht ganz unbegreiflich gewesen wäre, würden den Muth verloren haben, mich zu verdammen. Aller Widerspruch, den man an mir entdeckt zu haben wähnen konnte, lag nicht in mir, sondern in den mangelhaften Vorstellungen derer, die davon beleidigt waren. Man hätte mich, man hätte Moritz ganz kennen müssen, um zu begreifen, wie ich bei seinem Tode gelassen seyn konnte. Ich bin versichert, daß Moritz, wäre mir sein Schicksal zu Theil geworden, auch ruhig geblieben seyn würde, wiewohl ich von allen weiblichen Geschöpfen das einzige war, dem er wohlwollen konnte. Nur da, wo eine Identifikation zweier Wesen vorhergegangen ist, kann eine Trennung mit tödtlichen Schmerzen verbunden seyn; nicht da, wo sie noch im Hintergrunde der Zukunft liegt und aus weiter Ferne winkt. Übrigens war es, in Beziehung auf Moritzens[119] Mutter und Schwester, ein Glück für mich, daß ich mich genug für sie interessiren konnte, um mit ihnen zu weinen – nicht um Moritz, sondern aus jener reinen Sympathie, welche sich bei allen besseren, von keiner Art des Egoismus zusammen geschrumpften Menschen wiederfindet, so oft sie Thränen des Kummers oder der Freude vergießen sehen. Was beide beklagten, war für mich noch kein Gegenstand der Klage; aber sie selbst waren Gegenstände des Mitleids, und so vermischten sich unsere Zähren, während der edlere Theil meines Selbst eben so unumwölkt blieb, als, nach dem Ausdruck des ersten aller Sänger, der Wohnsitz der seligen Olympier ist. So wenig war ich in meinem ganzen Wesen gestört, daß kein einziges meiner Geschäfte stockte. Es kam mir zwar vor, als wäre ich in vielen Dingen hurtiger und bestimmter geworden; und in sofern dies wirklich der Fall war, konnte[120] meine größere Hurtigkeit und Bestimmtheit nur daher rühren, daß mich das Problem, Moritz zu dem Meinigen zu machen, weniger beschäftigte. Ich kann aufs Heiligste versichern, das ich bei der Auflösung dieses Problems nie an seiner Rechtlichkeit zweifelte; durch diese mußte er mir zu Theil werden. Das Einzige, was mir immer zweifelhaft blieb, war: Ob seine höhere Natur ihn, seinen Wünschen gemäß, zu mir hinführen würde? Und bei diesem Zweifel mußte ich nothwendig sehr viel von meiner natürlichen Klarheit einbüßen.[121]

Quelle:
Friederike Helene Unger: Bekenntnisse einer schönen Seele. Berlin 1806, S. 9-123.
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