Fünfzehntes Capitel.

[156] Kokhan, zwei Stunden Aufenthalt. Es ist Nacht. Die meisten Reisenden haben sich in den Waggons zum Schlafen zurecht gemacht und verzichten darauf, abzusteigen.

Da bin ich nun auf dem Perron und spaziere rauchend auf und ab. Dieser Bahnhof ist ziemlich bedeutend und seine Ausrüstung gestattet, an Stelle der Maschine, die unsern Zug von Uzun-Ada bis hierher gebracht hat, eine kräftigere Locomotive zu setzen. Jene ersten Maschinen reichten wohl aus, als der Zug über eine fast horizontale Ebene hinrollte. Jetzt befanden wir uns aber schon inmitten der Schluchten des Hochlandes von Pamir; da kommen Strecken mit recht ansehnlicher Steigung vor, die eine größere Zugkraft nöthig machen.

Ich sehe dem Maschinenwechsel zu, und nachdem unsere Locomotive mit dem Tender losgekuppelt worden ist, befindet sich der Packwagen mit Kinko an der Spitze des Zuges.

Da fällt mir ein, daß der junge Rumäne sich vielleicht gar auf den Perron hinauswagen könnte. Das wäre eine Unklugheit, bei der er Gefahr liefe, von den Beamten gesehen zu werden, und diese, eine Art »Gardovoïs«, laufen immer hin und her und halten alles scharf im Auge. Meine Nummer 11 kann gar nichts besseres thun, als ruhig in ihrem Kasten zu bleiben oder[156] wenigstens den Packwagen nicht zu verlassen. Ich werde mich mit einigen festen und flüssigen Nahrungsmitteln versorgen und sie ihm nach der Wiederabfahrt bringen, wenn mir das, ohne Gefahr bemerkt zu werden, irgend möglich ist.

Das Buffet des Bahnhofs ist offen und Popof scheint nicht in der Nähe zu sein. Sähe er mich hier Verschiedenes einkaufen, so würde ihn das mit Recht wundern, denn der Restaurationswagen bietet ja Alles, was wir brauchen.

Etwas kaltes Fleisch, Brot, eine Flasche Wein – das ist es, was das Buffet mir liefert.

Der Bahnhof ist etwas dunkel; seine wenigen Lampen verbreiten nur ein schwaches Licht. Popof ist nebst einem andern Beamten dienstlich beschäftigt. Die neue Locomotive ist noch nicht in Bewegung, um sich vor den Zug zu stellen. Da scheint mir der Augenblick günstig. Es ist unnöthig zu warten, bis wir Kokhan wieder verlassen haben. Nach meinem Besuche bei Kinko könnte ich wenigstens die Nacht hindurch einmal schlafen – und offen gestanden, ich sehne mich stark danach.

Ich besteige also die Plattform, und nachdem ich mich überzeugt, daß mich Niemand sehen kann, dringe ich in den Packwagen ein, doch gleich mit den Worten:

»Ich bin's!«

Es erschien mir gerathen, mich Kinko anzumelden, für den Fall, daß er seinen Kasten verlassen hätte.

Das hatte er jedoch nicht gethan und ich empfahl ihm noch die äußerste Vorsicht. Die Mundvorräthe sind ihm höchst angenehm, sie bringen etwas Abwechslung in seinen magern Speisezettel.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Bombarnae, sagt er.

– Wenn Sie das nicht wissen, Freund Kinko, habe ich geantwortet, so sehen Sie doch ganz davon ab, das ist ja das Einfachste.

– Wie lange Zeit bleiben wir in Kokhan?

– Zwei Stunden.

– Wann werden wir an der Grenze sein?

– Morgen gegen ein Uhr Mittags.

– Und in Kaschgar?

– Fünfzehn Stunden später, also mitten in der Nacht vom 19. zum 20.

– Da wird's gefährlich, Herr Bombarnae ....[157]

– Ja wohl, Kinko. Wenn es schon schwierig ist, in die russischen Besitzungen hineinzukommen, so ist es nicht minder schwierig, dieselben wieder zu verlassen, wenn die Chinesen am Thore stehen. Immerhin beschränkt sich diese Strenge nur auf die Reisenden selbst, dehnt sich aber nicht auf deren Gepäck aus. Da nun dieser Packwagen nur für die Frachtstücke bestimmt ist, die nach Peking durchgehen, so hoffe ich, daß Sie nichts zu fürchten haben. Gute Nacht also. Ich möchte meinen Besuch aus Vorsicht nicht weiter verlängern.

– Gute Nacht, Herr Bombarnae, gute Nacht!«

Ich bin glücklich heraus, habe meine Lagerstätte erreicht, und wahrlich, ich habe nicht einmal das Abfahrtszeichen gehört, als der Zug sich in Bewegung gesetzt hat.

Die einzige, etwas wichtigere Station, die der Zug vor Sonnenaufgang berührt hat, ist Marghelan, wo nur ein kurzer Aufenthalt gewesen ist.

Marghelan, eine volkreiche Stadt mit sechzigtausend Einwohnern, ist in Wirklichkeit die Hauptstadt von Ferganäh. Das kommt daher, daß Kokhan bezüglich seiner Gesundheitsverhältnisse nicht im besten Rufe steht. Die Stadt ist selbstverständlich doppelt, hier russisch, dort turkmenisch. Die letztere, der es an denkwürdigen Bauten und dergleichen ganz fehlt, bietet auch sonst nichts besonders Sehenswerthes, und meine Leser werden mir verzeihen, daß ich meinen Schlummer nicht unterbrochen habe, um einen Blick auf jene zu werfen.

Jetzt dem Thale von Schakhimardan folgend, gelangt der Zug schließlich noch einmal nach einer Art längeren Steppe, wo er wieder mit normaler Geschwindigkeit dahinsausen kann.

Um drei Uhr Morgens ist ein Aufenthalt von fünfundvierzig Minuten auf der Station Och.

Auch hier hab' ich meine Reporterpflichten schmählich vernachlässigt und nichts gesehen. Meine Entschuldigung ist nur die, daß nichts zu sehen war.

Jenseits dieser Station erreicht die Eisenbahn die Grenze, die Russisch. Turkestan vom Plateau von Pamir und von dem Gebiete der Kara-Kirghisen scheidet.

Dieser Theil Centralasiens wird unablässig von plutonischer Thätigkeit, die die Eingeweide der Erde erschüttert, beunruhigt. Wiederholt ist das westliche Turkestan von heftigen Erdstößen betroffen worden – das furchtbare Erdbeben von 1887 ist ja noch in frischer Erinnerung – in Taschkend und Samarkand hab' ich noch die Spuren jener schrecklichen Erschütterungen erkennen können.[158]

Ganz schwache Oscillationen werden fast unausgesetzt beobachtet, und diese vulcanische Thätigkeit geht offenbar in den ausgedehnten Bezirken vor sich, in denen das Petroleum und die Naphta vom Caspisee bis zu den Bergen von Pamir aufgesammelt sind.

Diese Gegend bildet alles in allem eine der interessantesten Partien Centralasiens, die ein Tourist nur besuchen kann. Ist der Major Noltitz auch niemals weiter als bis zur Station Och am Fuße des Hochlandes gekommen, so kennt er doch das Gebiet sehr genau aus den neueren Karten und Schilderungen der zuletzt ausgeführten Reisen. Unter diesen erwähne ich nur die Capus' und Bonvalot's – wieder zwei französische Namen, die ich außerhalb Frankreichs mit Freuden begrüße. Den Major verlangt es übrigens auch gar sehr, Alles selbst zu sehen, und es ist kaum sechs Uhr Morgens, da befinden wir uns Beide mit den Fernrohren und dem Fahrplan in der Hand auf der Plattform.

Pamir oder Bam-i-Duniah wird allgemein das »Dach der Welt« genannt. Von hier strahlen die mächtigen Bergketten des Tian-Chan, des Kuen-Luen, Karakorum, Himalaya und des Hindu-Kusch aus. Dieses vierhundert Kilometer breite orographische System, das Jahrhunderte lang eine unübersteigliche Schranke bildete, ist von moskowitischer Zähigkeit überwunden worden. Die slavische und die gelbe Rasse haben sich hier die Hand gereicht.

Man gestatte mir eine kurze Belehrung über diesen Gegenstand – ich spreche übrigens hierbei nicht selbst, sondern nur der Major Noltitz.

Die Reisenden der arischen Völker haben alle zur Erforschung des Pamirplateaus beigetragen. Ohne bis zum dreizehnten Jahrhundert und auf Marco Polo zurückzugreifen, treffen wir hier von den Engländern Forsyth, Douglas, Biddueph, Younghusband und den berühmten Gordon, der am oberen Nil den Tod fand; von den Russen Fendchenko, Skobeleff, Prjevalsky, Grombtchevsky, den General Pevtzoff, den Fürsten Galitzin, die Brüder Groum-Grjimailo, die Franzosen d'Auvergne, Bonvalot, Capus, Papin, Breteuil, Blanc, Ridgway, O'Connor, Dutreuil de Rhins, Joseph Martin, Grenard, Edouard Blanc; von Schweden den Doctor Sven-Hedin. Dank dieser Forscherzüge möchte man jetzt sagen, daß ein hinkender Teufel dieses Dach der Welt mit magischer Hand aufgehoben habe, um die Geheimnisse darunter zu zeigen. Man weiß jetzt, daß das Land aus einem kaum entwirrbaren Netze von Thälern besteht, deren mittlere Wandhöhe dreitausend Meter übersteigt; man weiß, daß es beherrscht[159] wird von dem Gipfel des Gurundi und des Kauffmann, die beide zweiundzwanzigtausend Fuß, und von der Spitze des Tagarma, die siebenundzwanzigtausend Fuß hoch ist; man weiß, daß von diesen Höhen der Oxus und der Amu-Darja nach Westen und der Tarim nach Osten zu abfließen, und man weiß endlich, daß das Rückgrat des Gebirges meist aus Urgebirge mit Schiefer und Quarz aufgebaut ist, über dem der Buntsandstein der secundären Periode liegt, welcher schließlich von dem sandig-thonigen Löß bedeckt ist, dessen quaternäre Schicht in Asien überall zu Tage tritt.

Die Groß-Transasiatische Bahn hat zur Ueberschreitung dieses Hochlandes ganz außerordentliche Schwierigkeiten zu überwinden gehabt. Das war eine Herausforderung des Menschengeistes gegen die Natur, und dem Menschengeiste ist der Sieg geblieben. Durch die selbst weniger steil abfallenden Pässe, die die Kirghisen »Bels« nennen, erforderte der Bau dieses Schienenweges doch eine Unzahl von Viaducten, Brücken, Dämmen, Einschnitten und Tunnels. Ueberall sind scharfe Windungen, Steigungen, die nur mit den stärksten Maschinen zu besiegen sind und die da und dort sogar stationäre Maschinen erfordern, um die Züge an starkem Drahtseil in die Höhe zu schleppen; mit einem Worte, es war eine Herculesaufgabe, und weit überlegen den Arbeiten der amerikanischen Ingenieure in den Engpässen der Sierra Nevada und der Felsengebirge.

Die Oede dieses Gebiets macht auf die Phantasie einen eigenartigen Eindruck. Je nachdem der Zug längs mehrfach sich senkender und hebender Strecken höher hinausgelangt, wird dieser Eindruck noch fühlbarer. Flecken und Weiler giebt es nicht. Nur vereinzelte Hütten, wo der Pamirier mit seinen Angehörigen ein Einsiedlerleben führt und in deren Umgebung seine Heerden von Pferden, Yaks oder »Kutars«, das sind eine Art Stiere mit Pferdeschweif, von kleinen Bergschafen und dicht behaarten Ziegen weiden. Die Mauserung dieser Thiere ist eine natürliche Folge des Klimas, dementsprechend sie das dunklere Winterkleid des Stalles mit dem weißen Fell des Sommers, und umgekehrt, vertauschen. Dasselbe gilt von den Hunden, deren Fell in der warmen Jahreszeit auch heller wird.


»Das war für Dich, Gretelein!« jubelte Herr Caterna. (S. 162.)
»Das war für Dich, Gretelein!« jubelte Herr Caterna. (S. 162.)

Breitere Durchbrüche lassen bisweilen das Hochland weithin übereinandergesattelt überblicken. Da und dort stehen Gruppen von Wachholder und Birken, die hauptsächlichsten Bäume Pamirs, und auf wellenförmigen Ebenen wuchern die Tamarinde, das Riedgras, der Eiswermuth, hier eine Art Schilf, das an den mit salzigem Wasser gefüllten Bodensenken in großer Menge vorkommt, und eine Zwerglabiate, die von den Kirghisen »Terskenne« genannt wird.[160]

Der Major erwähnt auch noch verschiedener Thiere, die eine ziemlich artenreiche Fauna der Berghöhen von Pamir bilden. Es macht sich sogar eine Bewachung der Plattformen nöthig zur Abwehr gewisser Säugethiere, die weder auf die erste, noch auf die zweite Wagenclasse ein Anrecht haben – unter andern Panther und Bären. Tagsüber halten sich unsre Reisegefährten auf dem Vorder- und dem Hintertheile der Waggons auf. Zuweilen hört man einen Aufschrei, wenn jene Plattfüßler oder Wildkatzen mit höchst verdächtiger Absicht längs des Gleises daherjagen. Wiederholt werden Revolverschüsse abgegeben[161] vielleicht weniger aus Nothwendigkeit, als weil sie ebenso zur Unterhaltung, wie zur Beruhigung der Reisenden beitragen. Am Nachmittage waren wir Zeugen eines vortrefflichen Flintenschusses, der einen gewaltigen Panther in dem Augenblicke tödtete, wo dieser sich mit einem Satze auf die Plattform schwingen wollte.

»Das war für Dich, Gretelein!« jubelte Herr Caterna.

Treffender konnte er seiner Bewunderung ja gar nicht Ausdruck geben, als durch »Entsendung« dieser berühmten Antwort Buridan's an die Gemahlin des Dauphins – nicht an die Königin von Frankreich, wie es in dem berühmten Schauspiel »Tour de Nêsle« fälschlich angeführt wird.

Unser stolzer Mongole ist es, dem wir für diese vortreffliche cygenetische Leistung zu Dank verpflichtet sind.

»Welche Hand und welches Auge!« sagt der Major, der doch nicht aufhört, den Seigneur Farusklar mißtrauischen Blicks zu beobachten.

Unter den andern Thieren der pamirischen Fauna begegnet man noch Wölfen, Füchsen und ganzen Heerden jener großen Schafe mit nach rückwärts stehenden gewundenen Hörnern, die in der Landessprache »Arkars« heißen.

Hoch oben am Himmel kreisen Lämmergeier und Stößer und inmitten der weißen Dampfwolke, die unsre Locomotive nach sich zieht, flattern scharenweise Krähen, Tauben, Lachtauben und Bachstelzen umher.

Der Tag verläuft ohne Zwischenfall. Um sechs Uhr Abends haben wir die Grenze erreicht und damit von Uzun-Ada aus binnen vier Tagen eine Strecke von zweitausenddreihundert Kilometern zurückgelegt. Noch zweihundertfünfzig Kilometer weiterhin wird der Zug uns nach Kaschgar befördert haben. Obwohl bereits thatsächlich auf dem Gebiete des chinesischen Turkestan, werden wir doch nur in dieser Stadt der Prüfung und Untersuchung durch chinesische Behörden unterworfen sein.

Nach aufgehobener Tafel, so gegen neun Uhr, streckt sich Jeder auf seinem Lager aus, in der Hoffnung – sagen wir lieber, der Ueberzeugung – daß diese Nacht ebenso ruhig wie die vorhergehenden verlaufen werde.

Leider sollte das nicht der Fall sein.

Während der ersten Stunden brauste der Zug die Abhänge von Pamir in größter Schnelligkeit hinunter und ging dann auf einer langen horizontalen Strecke wieder zur Normal-Geschwindigkeit zurück.

Es mochte um ein Uhr Morgens sein, als ich plötzlich erweckt wurde.[162]

Gleichzeitig fuhren der Major Noltitz und die meisten meiner Reisegefährten aus dem Schlummer auf.

Vom hintern Theile des Zuges her vernimmt man laute Rufe.

Was geht dort vor?

Sofort bemächtigt sich der Reisenden jene fieberhafte Unruhe, die den Leuten auch beim geringsten Eisenbahnunfalle die Besinnung zu rauben pflegt.

»Was giebt es? ... Was ist los?«

Von allen Seiten und in allen Zungen werden diese Worte mit dem Ausdrucke des Entsetzens hervorgestoßen.

Mein erster Gedanke geht dahin, daß wir überfallen worden sein möchten. Ich denke an den berühmten Ki-Tsang, dem ich so unklugerweise die Mitarbeit – an meiner Chronik – fast empfohlen habe.

Noch einen Augenblick, und der langsamere Gang des Zuges deutet darauf hin, daß er ganz zum Stehen kommen wird.

Popof, der erst einen Blick in den Packwagen geworfen hatte, kommt von diesem zurück, und ich frage ihn, was geschehen sei.

»Ein Unfall, giebt er zur Antwort.

– Ernsterer Natur? ...

– Nein, es hat sich nur eine Kuppelung gelöst und die beiden letzten Wagen sind deshalb hinter uns zurückgeblieben.«

Sobald der Zug steht, klettern ein Dutzend Passagiere, ich selbst darunter, nach dem Gleise hinab.

Beim Scheine einer Laterne ist zu erkennen, daß der Bruch der Kuppelung nicht auf eine Frevelthat zurückzuführen ist. Nichtsdestoweniger sind die beiden letzten Wagen, der mit der Mandarinenleiche und der Gepäck-Schlußwagen, zurückgeblieben. Seit wie lange und wie weit ... das weiß Keiner.

Da hätte man aber das Hilfsgeschrei der persischen Wächter, die den Körper des Mandarinen Yen-Lou zu begleiten hatten, hören sollen! Die Reisenden in ihrem Waggon und auch sie selbst hatten im Augenblick der Loslösung der beiden Wagen nichts davon bemerkt. Als sie Lärm schlugen, mochte seit Eintritt des Unfalles wohl schon eine Stunde vergangen sein ....

Was hier zu thun war, lag ja auf der Hand: die Maschine mußte den Zug bis zu den verlorenen Wagen zurückstoßen.

Das erschien ja höchst einfach. Nur das Aastreten des Seigneur Farusklar unter diesen Umständen erregt meine Verwunderung. Gerade er drängt mehr als[163] jeder Andere, hier keine Minute zu zögern. Er wendet sich an Popof, an den Maschinenführer und den Heizer, und jetzt hör' ich zum erstenmale, daß er russisch ganz geläufig spricht.

Zu überlegen gab's ja hierbei nichts. Alle halten es für unbedingt geboten, umzukehren, um den Packwagen wieder ankuppeln zu können.

Nur der deutsche Baron macht Einwendungen .... Wieder Verzögerungen .... Eine lange Zeit wegen eines Mandarinen ... eines todten Mandarinen zu vergeuden ...

Man ließ den alten Brummbär knurren.

Sir Francis Trevellyan zuckte nur die Achseln, als wollt' er sagen:

»Welch lüderliche Verwaltung ... Welcher Schund von Material! ... Solche Dinge könnten auf einer anglo-indischen Bahn nicht vorkommen!«

Der Major Noltitz ist gleich mir verdutzt über die so auffallende Einmischung des Seigneurs Faruskiar; dieser sonst so ruhige, unerregbare Mongole mit dem kalten Blick unter den unbeweglichen Lidern läuft jetzt hin und her und scheint seine unerklärliche Unruhe gar nicht bemeistern zu können. Sein Begleiter benimmt sich kaum anders. Was kann es die Beiden denn angehen, daß sich jene zwei Wagen abgelöst haben? Ihr Gepäck ist ja nicht einmal im Schlußwagen enthalten. Sollten sie nur für den hochseligen Mandarin so ins Feuer gehen? ... Betrachteten sie aus gleicher Ursache auf dem Bahnhofe zu Duchak so aufmerksam den Wagen, der den Körper des Entseelten barg? ... Ich sehe deutlich, daß der Major dieses Verhalten außerordentlich verdächtig findet.

Sobald wir unsre Plätze wieder eingenommen haben, bewegt sich der Zug rückwärts. Der deutsche Baron will noch Einspruch erheben; der Seigneur Faruskiar schleudert ihm aber einen so wilden Blick zu, daß er es vorzieht, sich keinen zweiten der Art zu holen, und so drückt er sich brummend in seine Ecke.

Im Osten graute der Tag ein wenig, als die beiden Wagen in der Entfernung etwa eines Kilometers entdeckt wurden, und nach einstündiger Rückfahrt langte der Zug bei ihnen an.

Der Seigneur Farnsklar und Ghangir haben bei der Wiederankuppelung, die mit größter Sorgfalt ausgeführt wurde, helfen wollen. Major Noltitz und ich haben bemerkt, daß Beide einige Worte mit den drei andern Mongolen wechselten. Das wäre ja nichts besonders Erstaunliches, denn sie sind ja alle Landsleute.[164]

Jeder begiebt sich wieder in seinen Waggon und der Maschinist giebt mehr Dampf, um etwas von der verlornen Zeit einzubringen.

Trotzdem kommt der Zug in Kaschgar mit nicht unbeträchtlicher Verspätung an, und es ist viereinhalb Uhr Morgens, als er in die Hauptstadt des chinesischen Turkestan einläuft.

Quelle:
Jules Verne: Claudius Bombarnac. Notizbuch eines Reporters. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXII, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 156-165.
Lizenz:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon