Die lieb ist leben und tod

[296] Das leben, so ich führ, ist wie der wahre tod,

ja über den tod selbs ist mein trostloses leben:[296]

es endet ja der tod des menschen pein und leben,

mein leben aber kan nicht enden diser tod.

Bald kan ein anblick mich verletzen auf den tod,

ein andrer anblick bald kan mich widrum beleben,

daß ich von blicken muß dan sterben und dan leben

und bin in einer stund bald lebendig, bald tod.

Ach lieb! verleih mir doch numehr ein andres leben,

wan ich ja leben soll, oder den andern tod,

dan weder disen tod lieb ich, noch dises leben.

Verzeih mir, lieb, ich bin dein lebendig und tod,

und ist der tod mit dir ein köstlich süßes leben

und leben von dir fern ist ein ganz bittrer tod.

Quelle:
Georg Rodolf Weckherlin: Gedichte, Leipzig 1873, S. 296-297.
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