10. Auff ein verwelcktes Rößgen

[139] 1.

Ach, mein Rößgen ist verwelckt!

Welches meiner Augen Weide,

Meine Wollust, meine Freude,

Welches durch das gantze Jahr

Meine Liebste Farbe war,

Dieses eilet so behende

Zu dem unverhofften Ende,

Ach, mein Rößgen ist verwelckt!


2.

Ach, mein Rößgen ist verwelckt!

Wann ich etwas am Geruche,

An der Krafft und Schönheit suche,

Find ich nur ein dürres Blat,

Welches schlechte Reitzung hat,

Gleichwohl konte mein Verlangen

Gestern in derselben prangen,

Ach mein Rößgen ist verwelckt.


3.

Ach mein Rößgen ist verwelckt!

Und die Zeit, die allen Dingen,

Muß ihr letztes Urtheil bringen,

Raubt mir auch das schöne Pfand

Gar zu zeitlich auß der Hand,

Daß ich von dem edlen Stücke

Kaum den Schatten noch erblicke.

Ach mein Rößgen ist verwelckt.


4.

Ach mein Rößgen ist verwelckt!

Die verliebte Frühlings-Blume,[139]

Welche von dem schönen Ruhme

Das Gedächtniß in der Welt

Sonsten auch nichts mehr behält,

Alldieweil die schönen Gaben

Sich zu weit verhüllet haben,

Ach mein Rößgen ist verwelckt.


5.

Ach mein Rößgen ist verwelckt!

Und in dem ich sie betrachte,

So empfind ich still und sachte

Mein gewisses Ebenbild

In dem Leichnam eingehült

Daß ich bald auch werde müssen

Meine junge Zeit beschliessen,

Ach mein Rößgen ist verwelckt!


6.

Ach mein Rößgen ist verwelckt!

Und je länger ich die Räncke

Dieser Eitelkeit bedencke,

Kommt mir auch die süsse Zier

Mehr und mehr betrübter für;

Drum, in dem ich sie beklage,

Kan ich nicht, als daß ich sage,

Ach mein Rößgen ist verwelckt!

Quelle:
Christian Weise: Der grünenden Jugend überflüssige Gedanken, Halle a.d.S. 1914, S. 139-140.
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