Sechs und fünftzigstes Exempel.

Die Gedächtnuß an eine zugefügte Unbild hindert den Zugang in die himmlische Gesellschaft.

[305] Als der Heil. Anno, Ertz-Bischof zu Cölln, einstens bey nächtlicher Weil in der Ruhe lage, hatte er einen Traum, der ihm sein glückseliges Hinscheiden aus dieser Welt vorsagte. Dann es kame ihm vor, als gienge er in einen Pallast hinein, der von lauter Edelgestein auferbaut wäre. In diesem sahe er versammlet viel heilige Bischöf, die er eintweders gekennt, da sie noch bey Leben waren, oder wenigist von ihrem Heil. Wandel durch andere berichtet worden. Alle diese waren angethan mit Bischöflicher Kleidung, und schimmerten wie die Sonne. Sassen mithin auf herrlichen Thronen, als wollten sie Gericht halten. So gedunckte es auch den Heil. Anno, als wäre er ihnen in dem Aufzug, und schimmerenden Glantz nicht ungleich, ausgenommen, daß er auf der Brust einen schwartzen Flecken wahr nahme, den er aber vor Schamhaftigkeit mit der Hand zu bedecken suchte: damit selbiger denen anwesenden Heil. Bischöfen kein Mißfallen erweckte. Mithin, weil er sahe, daß noch ein herrlicher Thron übrig, so für ihn bestellt wäre, freuete er sich sehr, und wollte ihn würcklich besteigen. Allein einer aus den anderen Bischöffen stunde von seinem Thron auf; gienge ihm entgegen, und sagte: gemach, gemach, Anno! dann weil deine Kleidung mit einem schwartzen Fleck bemackelt ist, so wollen die Ehrwürdige Vätter nicht haben, daß du in ihrer Versammlung einen Sitz einnehmen sollest. Als nun Anno gantz betrübt, und mit weinenden Augen müßte zuruck weichen, gienge ihm gedachter Heil. Bischof nach, und sagte: Anno gedulte dich, und [305] wasche vorher ab den schwartzen Fleck, den du auf der Brust hast, so wirst du nach wenig Tägen in diesem Pallast deine Wohnung haben, und in unsere Gesellschaft aufgenommen werden. Dieses ausgeredt, hatte die Erscheinung ihr End. Auf dieses hin, als Anno gegen anbrechendem Tag aus dem Schlaf erwacht, erzählte er den gehabten Traum einem seiner vertrautisten Freunden, und fragte ihn, was er meinte, daß selbiger zu bedeuten habe? dieser antwortete: so viel mich gedunckt, bedeutet der schwartze Fleck, den du auf deiner Brunst wahrgenommen, nichts anders, als die Gedächtnuß der Unbild, so dir von denen Burgern zu Cölln zugefügt worden; als welche dich zur Stadt hinaus vertrieben. Solche Gedächtnuß hättest du aus Liebe gegen GOtt schon längst sollen ausschlagen und denen Burgeren vollkommentlich verzeihen. Weilen es aber nicht geschehen, und du bishero der zugefügten Unbild zu viel, und mit unordentlicher Betrübnuß deines Hertzens nachgedenckt hast, must du dich nicht verwunderen, daß dieses Nachdencken deinem sonst Heil. Wandel einen schwartzen Fleck hinterlassen hat. Als Anno dies gehört, erkennte er seine Schuld mit tiefister Demuth, und berufte ohne Verzug alle diejenige Burger in Cölln, von welchen er beleidiget worden; mit Befehl, ihnen alles zuruck zu geben, was ihnen zur Straf ihrer Mißhandlung abgenommen worden. Und auf solche Weis hat sich Anno mit ihnen völlig ausgesöhnet. Surius die 4. Decemb. in Vita S. Annonis.

O GOtt! Wann die blosse Gedächtnuß an eine zugefügte Unbild, vergesellschaftet mit einer unordentlichen Betrübnuß, den Zugang hindert in die himmlische Gesellschaft; was wird dann thun ein darüber gefaßter Grollen? was eine Rachgierigkeit? gehe nun hin, und sage mehr mit etwelchen unverständigen Menschen: Es solle verzihen; aber nicht vergessen seyn. Das ist ja närrisch geredt. Ey! man muß verzeihen, wie GOtt dem büssenden Sünder verzeiht. Nun redet der Prophet. Isaias am 38. Cap. zu GOtt also: Du hast alle meine Sünden hinter deinen Rucken geworfen: das ist: du hast ihrer vergessen, und gedenckst nicht mehr daran. Und was hat einer davon, wann er immerdar an die zugefügte Unbild gedenckt? nichts, als daß er sich selbst damit plagt, und die gemachte Wunde erneuert. Herentgegen, selbige aus dem Sinn schlagen, wie großmüthig ist dieses! und wie ruhig ist man dabey!

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 305-306.
Lizenz:
Kategorien: