Neun und dreyßigste Begebenheit.

Ein Wald-Bruder will auf einmahl ein Leben gleich den Englen führen; erfahrt aber bald, daß er einem Menschen gleich leben müsse.

[587] Es waren 2. Wald-Brüder, die hatten lange Zeit in einer Zell beysammen gelebt, und GOtt mit grossem Trost ihrer Seelen gedienet. Einer aus ihnen, der Hänsel genannt; weil er klein von Statur war, hatte auf eine Zeit ein wunderliches Concept im Kopf. Es wolte ihm nemlich seine bisher geführte Lebens-Art nicht mehr gefallen; sondern glaubte, [587] er müsse nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie die Engel leben. Dann (sagte er) was ist das für ein verächtliches Weesen, daß wir Menschen, deren Seel ein unsterblicher Geist ist, so wohl, als die Engel seynd, uns mit Speis und Tranck, wie die unvernünftige Thier erhalten sollen? Ist das unserer Seel nicht ein Schand? Der andere Bruder hörte diesen Reden zu; und weil er nicht errathen könte, wo sie hinaus wolten, stunde er in Sorgen, der Hänsel möchte zuletzt wiederum in die Welt kehren wollen. Als er aber die Sach genauer bey sich überlegte, kame es ihme vor, es müssen nur fliegende Gedancken, und ein unmäßige Begierd seyn, auf einmahl heilig zu werden. Liesse es also gelten, hoffend, dieses Concept wurde schon wiederum vergehen. Allein der Hänsel warse sein Ober-Rock hinweg, und sagte, er bedärfe dessen nicht; weil auch die Engel keine Kleider hätten. Machte sich also fertig, den Weeg in eine weit-entlegene Wüste zu nehmen. Wie nun der ander gesehen, daß Ernst daraus werden wolle, bemühete er sich auf alle Weise, sein Mit-Brüderle davon abzuhalten. Allein umsonst. Der Hänsel bliebe hartnäckig bey seinem Concept, und es mußte nach seinem Kopf gehen, es möchte hernach heraus kommen, wie es wolte. Also dann nahme er den Weeg unter die Füß, bis er an ein Ort kommen, wo er gehoft, von allen Menschen abgesöndert zu leben, und sich mit nichts anders, als mit Betrachtung himmlischer Dingen zu speisen. Allein er hatte in solchem Leben kaum 6. oder 7. Täg ohn geessen zugebracht, da kame ihm der Hunger dermassen in Bauch, daß er es nicht länger erleiden könte. Kratzte also im Kopf, und sagte: O du närrischer Hänsel! wessen unterstehest du dich? Meinst du, der du ein Mensch bist, du werdest ohne irrdische Speis leben können, gleich den Englen, die solcher nicht bedärfen; eben darum, daß sie pure Geister seynd? So kehre dann zuruck, und lerne hinfüran, keine solche hohe Concept mehr zu haben, als köntest du, den Englen gleich, ohne Speis leben. Dieses geredt, nahme er den Weeg zuruck, und kame wiederum zu seines Mit-Bruders Zell: Wo er dann anklopfte, und eingelassen zu werden begehrte. Allein jener, so darinnen war, gabe kein Antwort. Doch endlich nach vielfältigem Anklopfen sich stellend, als wann er aus dem Schlaf erwacht wäre, fragte er: wer ist draussen? wer klopft an meiner Thür? Da antwortete der Hänsel: Ich bins, der Hänsel, dein Mit-Brüderle. Ja wohl, Mit-Brüderle (sagte der ander) das kan nicht seyn. Dann dieser hat sich neulich von der Gesellschaft der Menschen gäntzlich abgesöndert, und befindet sich nunmehr unter den Englen. Ey! Bruder (sagte der Hänsel) schertze nicht länger, und mache mir auf. Dann ich bin einmahl der Hänsel, wie du sehen wirst. Laß mich doch nicht länger stehen; dann es frieret, und hungert, [588] mich. Es ist wahr, daß ich gehoft hab, ohne menschliche Speis zu leben, wie die Engel: Aber ich siehe wohl, es geht nicht an. Ich bin ein Mensch; und also kan ich ohne Speis nicht leben. Auf diese demüthige Bekanntnuß hat ihm der ander die Thür endlich aufgemacht; wo dann der Hänsel sein Ober-Kleid wiederum angezogen, und den Hunger mit einem Stuck Brods gestillt hat. Einen solchen Ausgang nahmen des Hänsels hoch-fliegende Gedancken. Gazæus S.J. in piis Hilar. ex vitis Patr.

So geht es einem, der fliegen will, und hat keine Federen. Er muß halt in der Nidre bleiben, und sich nicht weiter strecken, als es die Decke zulaßt. Sonst hat er nichts anders, als Spott und Schand zu gewarten. Darum mahnet der weise Syrach: Was zu hoch ist, das suche nicht. Eccle. 3. das ist: So mahnet auch Salomon: Seye nicht zu viel gerecht. Eccl. 7. Das ist: In allen Tugenden halte die Mittel-Straß, und fliege mit deinen Gedancken nicht zu hoch. Maaß ist in allen Dingen gut. Wo man aber zur Richtschnur die Vernunft hat, da wird die rechte Maaß gehalten.

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 587-589.
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