Fünftes Kapitel

[55] Die Reue des alten Herrmanns war wirklich Schuldigkeit: er hatte ihr durch seine Vermutung, daß sie dem kleinen Heinrich heimlich ihm zum Trotze fortgeholfen habe, unrecht getan; denn der Knabe war des Morgens noch vor sechs Uhr aufgestanden, hatte sich selbst angekleidet, hatte wie ein wahrer Inamorato das Bild der Gräfin um den Hals gehangen, sich leise aus dem Hause hinausgeschlichen und langte, des Laufers Berichte gemäß, mit dem Schlage sechs auf dem Schlosse an. Der Graf trug anfangs Bedenken, ihn ohne Vorwissen der Eltern dazubehalten, allein da der Knabe sich weinend und flehend allen Vorstellungen widersetzte, ließ ihn der Graf verbergen und beschloß, seiner Gemahlin den[55] folgenden Tag auf eine eigene Art ein Geschenk mit ihm zu machen.

Es war bereits zu ihrem hohen Geburtsfeste ein herrlicher Aufsatz auf die Tafel verfertigt worden, der die Gärten der Alcina vorstellte: auf Brettern, die auf kupfernen Füßen ruhten, prangten Alleen und Hecken von grünem Wachs, Parterre, Boulingrins und breite Gänge zum Lustwandeln aus bunten Zuckerkörnern, klare Seen, Teiche, Bassins von Spiegelglas, Statuen von Meißner Porzellan, Nischen, Pavillons, Eremitagen, Monumente, in Wildnissen versteckt – alles, was nur einen französischen Garten verschönern kann, auf das sauberste nach einem ziemlich großen Maßstabe nachgeahmt. In den beiden entferntesten Enden des Gartens hatte der Künstler zwei große Tempel aus Teig, statt des Marmors mit einem nachahmenden weißen Zuckergusse überzogen, auf zwei Bergen symmetrisch aufgebauet. Beide sollten im antiken Geschmack sein: ein majestätischer Säulengang umgab einen jeden, und durch die gläsernen Wände leuchtete die porzelläne Gottheit hindurch, welcher sie geweihet waren. Über den beiden entgegenstehenden Eingängen, zu welchen hohe breite Stufen hinanführten, kündigte eine goldene lateinische Inschrift den Namen der Gottheit an: der eine war der Treue, der andere der Glückseligkeit gewidmet. Die zween Tempel gaben dem Grafen einen Einfall, der vermutlich der einzige war, solange die ganze Konditorwelt steht: es sollte mitten in dem Garten auf einem besondern Brette ein großer Tempel eingeschoben werden, der den kleinen Heinrich, als Amor gekleidet, anständigerweise in sich faßte; und der Graf erfand selbst auf der Stelle die Inschrift ›Amori‹ dazu. Der Künstler wandte demütig die Schwierigkeiten ein, stellte den Übelstand vor, den ein so ungeheures Gebäude unter den anderen, nach einem viel kleineren Maßstabe verfertigten Gegenständen hervorbringen müßte, ließ auch mitunter versteckterweise ein paar Wörtchen über das Lächerliche und Abenteuerliche der Idee fallen, daß sich der Erfinder derselben entrüstete und mit einem gebieterischen »Ich will« alle Einwürfe wie mit einem Donnerkeile[56] niederschlug. Bald darauf besann er sich aber, daß die Kürze der Zeit den Bau eines so großen Tempels nicht wohl erlauben möchte, und befahl wegen dieser weisen Voraussehung, bloß eine große Nische von grünem Lattenwerke aufzuführen. Es geschah: man nahm dem kleinen Heinrich das Maß zu seiner Hütte und war schon im Begriffe, Hand an die Arbeit zu legen, als in des Grafens Kopfe eine viel sinnreichere Idee aufstand. In dem Nachdenken über die Verschönerung und den wahrscheinlichen Effekt des großen Tempels ging er in sein Kabinett, und siehe da! – bei dem ersten Aufschlagen der Augen traf sein Blick auf einen Kupferstich, wo ein verliebter Schäfer den kleinen mutwilligen Amor in einem Vogelbauer seiner Geliebten überreichte. Das Bild war wie für ihn erfunden: die Vorstellung reizte ihn so mächtig, daß er sogleich den Konditor holen ließ, um ihm zu befehlen, daß aus der großen Nische ein großer Vogelbauer werden sollte. Der Künstler war über diesen Antrag noch mehr betreten und zeigte ihm die Ungeschicklichkeit, einen ungeheuren Vogelbauer ohne allen Zusammenhang mitten in einen kleinen Garten hinzustellen, und zugleich die Mißdeutung, der ein Amor im Käfig, seiner Gemahlin an ihrem Geburtstage geschenkt, unterworfen wäre: allein der Graf entrüstete sich zum zweiten Male und ward höchst ungehalten, daß man beständig der Ausführung seiner Einfälle so viele Schwierigkeiten mache, da sie doch größer und sinnreicher wären als die elenden Pößchen, die der Konditor auf etliche Bretter hingeklebt hätte. Der Zuckerarchitekt wurde empfindlich über diesen verächtlichen Ausdruck, bat sich die Bezahlung für seine Arbeit aus, empfahl dem Grafen, sich seine Vogelbauer selbst zu bauen, und reiste wieder in die Stadt zurück, woher man ihn verschrieben hatte.

Unter seinen Bedienten hatte der Graf einen, Siegfried genannt, der die andern alle an Dummheit und Bosheit übertraf und wegen der erstern bei ihm in vorzüglicher Gunst stand: deswegen trug er auch eine auszeichnende, mit Gold fast bedeckte rote Liverei nebst einem roten Federbusch auf[57] dem Hute, welches einen witzigen Kopf unter seinen neidischen Kameraden auf den Einfall brachte, ihn des Grafen Maulesel zu nennen und diese Benennung bei dem Publikum des ganzen Städtchens gebräuchlich und beliebt zu machen. Er war der Ratgeber oder vielmehr Beherrscher des Grafen: denn weil er alles ohne das mindste Bedenken billigte und lobte, was seinem Herrn durch den Kopf und über die Zunge fuhr, wenn's gleich die größte Abgeschmacktheit war, so besaß er dafür das Recht, mit ebensowenig Bedenken auch die größten Abgeschmacktheiten zu fodern und zu erlangen. Gemeiniglich leuchtete sein Verdienst am hellsten, wenn der Graf eine ähnliche Widerwärtigkeit, wie itzt bei dem Konditor, erlitten hatte, daß klügre Leute eine von seinen rohen Ideen nicht billigen wollten: sogleich berief er alsdenn seinen Maulesel zu sich, stellte ihm die bestrittene Sache begreiflich vor Augen, und es fehlte ihm niemals, daß sein Ratgeber sie nicht so bewundernswürdig fand, als sie klügern Leuten verwerflich und ungereimt schien: oft war seine Billigung List, meistens aber Mangel an Einsicht. Er hatte sogar jederzeit die Unverschämtheit, sich zur Ausführung zu erbieten, und das besondre Glück, daß ihm der Graf nie Vorwürfe machte, wenn sie ihm auch mißlang, obgleich dies in den meisten Fällen geschah.

Durch die nämliche Öffnung der Tür, die der beleidigte Konditor machte, um aus dem Zimmer zu gehen, wurde auch der Maulesel hereingerufen: es versteht sich, daß er kaum vom Amor im Vogelbauer etwas gehört hatte, als er schon in lautes Lachen und laute Lobeserhebungen ausbrach. – »Ich will das schon besorgen: verlassen Sie sich auf mich!« sagte er mit weiser Miene. »Der Zuckerbäcker versteht das nicht so wie ich: ich weiß besser, wie man einen Spaß machen soll. – Morgen soll Ihr Vogelbauer auf dem Tische stehen – verlassen Sie sich auf mich! –«

Er hielt Wort. Der Tischler mußte von Latten einen runden Käfig zusammennageln, ihn grün anstreichen, und weil das Gebäude zu Ehren eines Geburtstages aufgeführt wurde, geriet Siegfried auf die glückliche Erfindung, von dem Koche,[58] statt des Knopfs, eine große runde Biskuittorte daraufsetzen zu lassen, an welcher ringsherum in einem weißen Zuckergrund mit Pistazien, blauen, gelben und roten Körnern ein Vivat nebst dem Namen der Gräfin eingelegt war. Um niemandem einen Augenblick die Mühe des Nachsinnens zu verursachen, was für einen Vogel der Käfig enthielt, ließ der Graf um den obersten Rand desselben, wo das spitzige Dach anfing, einen zierlich ausgeschnittenen Streifen Postpapier mit der schwarzen, leserlichen Aufschrift ›L'Amour encagé‹ kleistern.

Der Mittag des festlichen Tages erschien. Der kleine Heinrich war bereits in fleischfarbnen Atlas gekleidet, sein lichtbraunes Haar in kurze, frei hinwallende Locken geschlagen und mit einer Rose geschmückt, sein Rücken mit einem Paar Flügeln von Gaze und Fischbein geziert, über die Schultern herab hing ihm an einem blauseidnen Bande ein Köcher von Pappe mit Goldpapier überzogen, statt verwundender Pfeile mit friedlichen Gänsefedern angefüllt; seine Rechte hielt den niefehlenden Bogen, dessen Sehne eine Vorhangsschnur und so schlaff war, als da das gute Kind um Mitternacht in dem schrecklichsten Regenwetter bei dem alten Anakreon einkehrte. Venus hätte sich eines solchen Sohns nicht schämen dürfen, so liebreich lächelte sein weißes rundes Gesichtchen mit den runden roten Backen, und so schalkhaft sah sein geistreiches Auge unter den schwarzen gewölbten Augenbrauen hervor. Dreimal trat der kleine Bube vor den Spiegel und fühlte die Macht seiner Reize so sehr, daß er seinem eignen Bilde einen Kuß zuwarf.

Das ganze Städtchen hatte sich itzo schon vor zwei Stunden gesättigt: der Ackerknecht spannte die ausgeruhten Ochsen an den Pflug: die gemolknen Stadtkühe wandelten unter dem Peitschenschalle ihres Monarchen durch das Tor auf die Weide hinaus, und die hochgräfliche Gesellschaft schritt feierlich durch die weiten Flügeltüren zur Tafel. Der kleine Amor hatte sich zwar sehr stark geweigert, in den Käfig zu kriechen, und versichert, daß es wider seine Ehre wäre; der[59] Graf mußte sogar in eigner Person ins Tafelzimmer gehen und seinen Ehrgeiz durch die Vorstellung einschläfern, daß er's aus Liebe zur Gräfin tun solle: ohne Anstand sprang er auf den Stuhl und ließ sich in seine enge Wohnung hineinstecken.

Die Gesellschaft war sehr zahlreich und von allen gräflichen und adligen Sitzen aus der Nachbarschaft zusammengeladen. Erstaunt rissen die Damen sich von den Händen ihrer Führer los, erstaunt ließen die Kavaliere ohne Verbeugung die Hände der Damen fahren, als man beim Eintritte in den Saal den hohen babylonischen Turm mit dem Knopfe von Kraftmehl mitten auf der Tafel erblickte; nur die Gräfin war mehr verlegen als erstaunt. Sie mußte ein Lachen verbergen, daß ihr die Gestalt des Käfigs abnötigte; sie hielt lange meisterhaft an sich, doch bei Erblickung des Biskuits, der wie ein runder Strohhut auf dem spitzen Dache steckte, überwand das Lächerliche alle ihre Stärke: sie mußte das Schnupftuch herausziehen und sich so lange hinter ihm räuspern, bis ihr Gesicht wieder in ernste Falten gelegt war. Noch einen größern Sturz mußte sie aushalten, als sie den fleischfarbenen Amor darinne sitzen sah; ihre Einbildungskraft malte ihr schlechterdings wegen der vollkommenen Ähnlichkeit des Hauses einen Liebesgott vor, der gewisse menschliche Bedürfnisse abwartete. Sie nahm Tabak, sie räusperte sich, sie aß Suppe, sie sprach mit ihrem Nachbar: nichts half! immer kam das verzweifelte Bild wieder zurück, immer wollten ihre Lippen lachen. Zum Unglück bemerkte jedermann ihre Verlegenheit, ob man gleich die wahre Ursache derselben nicht erriet: doch schien der Graf etwas Schlimmes zu mutmaßen. Er war ohnehin schon mißmütig genug, daß man so stumm dasaß und seine Erfindung auch nicht mit einem Bröckchen Beifall beehrte: geschah es, weil man mit der Gräfin gleiche Empfindungen hatte oder weil man noch so ganz nichts von dem Sinnreichen darinne begriff, daß man auch nicht aus Schmeichelei zu loben wagte, ohne sich zu verraten, daß es bloße Schmeichelei sei? – das kann ich nicht entscheiden: soviel bleibt gewiß, daß es bei vielen die letzte Ursache größtenteils[60] wirkte, wenn auch die erste nichts dabei tat; und diese Ursache zu entfernen, das heißt, sich nach der Absicht des großen mittlern Korbes zu erkundigen, hielt jedermann nach hergebrachter deutscher Sitte für unanständig.

Ein alter Oberster, der sich gänzlich über Zwang und Zurückhaltung hinwegsetzte, brach endlich die Bahn: er wäre schon längst so vorlaut gewesen, wenn ihn nicht bisher die Betrachtung des Gartens beschäftigt hätte: doch itzt kam die Reihe an Amors Käfig. – »Was ist das für ein Stall hier in der Mitte?« fragte er den sogenannten Maulesel des Grafen, der horchend hinter den Stühlen herumschlich und spionierte, was für Urteile man über seine Arbeit fällte. – »Das ist kein Stall«, antwortete der empfindliche Erfinder. – »Es steckt doch da ein Vieh darinne: was soll's denn sein?« fragte der Oberste weiter. – »Lesen Sie doch nur!« war die höchst trotzige Antwort hierauf.

Der Oberste folgte seinem Rate, setzte die Brille auf, las die Inschriften und brachte mit Hülfe der gegenübersitzenden Nachbarin heraus: ›Vivat Sophia Eleonora l'Amour encagé.‹ – »Hm!« brummte der Oberste, »das sollte ja wohl heißen:

Vivat Sophia Eleonora et l'amour encagé?«

»So?« unterbrach ihn die Gräfin lächelnd. »Das hieße ja soviel, als ob ich und die Liebe am besten aufgehoben wären, wenn man uns einsperrte.«

Er sann nach: – »Der Teufel! ja, das hieß' es«, fuhr er heraus. »Haben Sie das gemeint, Herr Graf?«

Die Gräfin winkte zwar dem Obersten, ihrem Gemahl, der keinen Spaß verstund, die Frage nicht zu wiederholen: allein der übereilte Mann achtete auf keinen Wink, sondern schrie den ganzen streitigen Punkt mit allen Klauseln über die lange Tafel hinauf: der Graf wurde rot, weil ihm das Gespräch einen Tadel über sein Werk in sich zu schließen schien, und verbarg sein Mißfallen damit, daß er sich stellte, als wenn er nichts verstehen könnte. Unterdessen wurde die Materie um und neben dem Obersten, unter seinem Vorsitze, noch genauer untersucht. Sobald nur Fräulein Hedwig – eine weitläuftge Anverwandtin der Gräfin, die als[61] Wirtschaftsdame bei ihr lebte und zugleich die Stelle einer Gouvernante bei der Baronesse Ulrike versah, die Krone aller häßlichen Fräulein-, sobald sie, sage ich, heraus hatte, daß ein Amor im Käfig steckte, so konnte sie nicht unterlassen, die Gesellschaft mit einem Gerichte von ihrer beliebten Gelehrsamkeit zu bedienen. »Das ist ja«, fing sie an und reckte den dicken Kopf in die Höhe, »wie dort bei dem Virgilio Marus, wo die jungen Grafen des Aeneas den Amor in einen Topf stecken.«1

»Doch nicht in einen Nachttopf?« schrie der unsaubre Herr Oberste. Ob sich gleich Fräulein Hedwig bei seiner unanständigen Frage die Nase zuhielt und die Miene des Ekels sich in ihrem Gesichte auf das lebhafteste ausdrückte, so erwischte sie doch die günstige Gelegenheit, ihrer Gelehrsamkeit Ehre zu machen, mit großer Herzensfreude. »Ach«, fuhr sie fort, »der arme Bube hat schon viel Herzeleid ausstehen müssen: wie dort bei dem Ambrosius wird er gar mit Stecknadeln gestochen, und im Cicero Marcus binden ihn die Hofdamen der Königin Semiramis mit ihren Jartieres« –

»Womit?« unterbrach sie der Oberste. Fräulein Hedwig wiederholte es.

»Mit den Strumpfbändern also?« rief der Oberste.

»Fi!« antwortete das Fräulein mit Naserümpfen und nahm Tabak. »Wer wird denn so etwas über Tafel nennen?«

[62] Der Oberste. Warum denn nicht?

Fräulein Hedwig. Über Tafel darf man von nichts reden, was unter der Tafel ist.

Der Oberste. Das mag wohl bei Ihren Carus und Narrus, und wie die Kerle weiter heißen, Mode gewesen sein: aber ich wüßte nicht, wer mir's wehren wollte, von Strümpfen und Schuhen –

Das Fräulein. Schämen Sie sich doch! Wer wird denn dergleichen Sachen deutsch nennen? Wenn Sie ja davon sprechen müssen, so dürfen Sie ja nur ›chaussure‹ sagen.

Der Oberste. Was ist denn das bessers? – Ob ich, zum Exempel, sage: ›Votre cû large‹ oder –

Indem er die Übersetzung hinzufügen wollte, zog ein allgemeiner Aufstand an dem andern Ende der Tafel seine Aufmerksamkeit von der vorhabenden Disputation ab. Der kleine Amor hatte in seinem Käfig Langeweile: durch die Ausdünstungen des Essens, die eine Atmosphäre von Wohlgeruch um ihn bildeten, wurde sein Appetit ungemein rege gemacht: – diese beiden Ursachen trieben ihn an, mit seinen kleinen Fingern in die Biskuittorte, die auf dem Dache des Käfigs ruhte, hineinzubohren und sich ein Stück herauszuzwicken. Der Genuß feuerte die Begierde noch mehr an, und da er ringsum alles, was er durch die offnen Zwischenräume der Latten erreichen konnte, heruntergeholt und verzehrt hatte, suchte er durch einen Stoß mit dem Bogen der Torte eine Wendung zu geben, daß sie ihm eine noch unangetastete Seite zukehrte: allein der Stoß geriet in der Hitze der Leidenschaft zu stark, die Torte stürzte herab, in die Gärten der Alcina hinein, zerschmetterte Bäume, Hecken und Pavillons, taumelte über die Gartenmauer hinaus und fiel mit lautem Geräusche in eine Assiette hinein, daß ein dichter Platzregen von schwarzer Brühe auf die dort Sitzenden herabströmte. Alles sprang auf, seine Kleider zu retten, als schon die ganze herumgesprützte Essenz auf ihnen lag: in einem Tempo wurde eine ganze Reihe Stühle zurückgeworfen! Bediente schrien, daß man ihre Zehen quetschte: die Kavaliere, denen die emporschnellenden Fischbeinröcke der Damen[63] bei dem Aufspringen Ohrfeigen gaben, stolperten, um ihnen zu entgehen, über die Stühle hinweg: der kleine bucklichte Herr von E** wurde durch den einen Windflügel der Frau Geheimrätin von S** so gewaltig aus allem Gleichgewichte gebracht, daß er zu Boden stürzte, und weil sich die Dame sogleich auf den zurückgestoßnen Stuhl wieder niedersetzte, um sich die entstandnen Flecke abzuwischen, so deckte sie den ganzen kleinen gestürzten E** mit ihrem ungeheuren Fischbeinrocke zu, und in der Hoffnung, daß sie bald ihren Sitz verändern möchte, blieb er geduldig liegen. Die gehoffte Veränderung erfolgte nicht, und er fing also an, sich aus seinem Zelte herauszuarbeiten. Der Kammerherr T**, der daneben stund, sah unter der Schleppe der Geheimrätin zween ihm bekannte Menschenfüße hervorkommen und fragte: »E**, wo sind Sie denn?« – »Hier!« seufzte der arme Junker unter dem Fischbeinrocke hervor, spannte seine Schnellkraft an und kroch mit den Bewegungen einer Raupe auf allen vieren aus der erstickenden Atmosphäre heraus.

Noch wußte niemand, daß der Vogelbauer eine lebendige Kreatur verbarg, sondern man bildete sich ein, daß die Torte durch ihre eigne Schwerkraft den gefährlichen Fall getan habe: Amor hatte sich, dem gegebnen Befehle gemäß, so still darinne gehalten, daß man ihn für eine Wachspuppe ansah, und seine Bewegungen bei dem Bestehlen der Torte wurden durch das Geräusch des Gesprächs verschlungen. Itzt aber ward es ihm unmöglich, länger eine Puppe vorzustellen: der genossne Biskuit fing an, heftige Unordnungen in seinem kleinen Körper zu verursachen: die Schmerzen wüteten so heftig und die Besorgnis vor einer entehrenden Aufführung quälte ihn so sehr, daß sich der arme Bube niedersetzte und bitterlich weinte. Es war gerade Ebbe in der Unterhaltung, und alle Ohren wandten sich verwundrungsvoll nach dem Orte hin, woher die Klagetöne kamen: einige suchten unter der Tafel, aber die Gräfin lenkte ihre Augen sogleich auf den Käfig, sah aufmerksamer als bisher durch die schmalen Zwischenräume der Latten und wurde mit Erstaunen ihren lieben kleinen Heinrich gewahr. Hurtig gab[64] sie Befehl, ihn herauszulassen: der schöngelockte Liebesgott drückte sein verschämtes Gesicht dicht an die Brust des Bedienten, der ihn herausnahm, und ließ sich voll von innerlichen Martern der gekränkten Ehre zum Zimmer hinaustragen. Knirschend trat er vor der Tür hin, stampfte und warf, voll Ärgers über sich selbst, den Bogen auf den Fußboden und deckte mit den kleinen Händen das glühende Gesicht zu. Man sprach ihm Trost ein, aber sein kindisches Herz fühlte schon zu sehr die Stacheln der Ehre und Schande, um sich durch Worte beruhigen zu lassen.

Die Gräfin war für ihn besorgt und zürnte bei sich nicht wenig über den tollen Einfall ihres Gemahl, der nicht weniger bei sich über den unschuldigen Liebesgott ungehalten war, daß er ihm durch sein unzeitiges Weinen den schönen Plan verrückt hatte: denn nach seinem Willen sollte er nach der Tafel mit dem Käfig abgehoben und seiner Gemahlin wie ein Papagei zum Geschenk überreicht werden. Beide sprachen seit dieser Begebenheit in den übrigen drei Stunden, die man noch bei Tafel zubrachte, wenig oder gar nichts mehr; und die Gäste aßen, tranken und hatten Langeweile während dieser Zeit auf die gewöhnliche Art.

1

Der Himmel weiß, was für eine Stelle das hochgelehrte Fräulein Hedwig meint. So viel ist mir bekannt, daß sie zuweilen die Verwegenheit hatte, in den lateinischen Text der alten Autoren hineinzusehen, und weil sie nur hin und wieder ein Wort verstand, war ihre Übersetzungsart ganz drollicht. ›Comites Aeneae‹ waren ihr die ›jungen Grafen des Aeneas‹: wo sie ›duces‹ erblickte, da setzte sie ›Herzoge‹ hin, und jeden ›Caesar‹ machte sie zum ›Kaiser‹: auf diese Art gelang es ihr, die sämtlichen Stände des Heiligen Römischen Reichs in den Virgil hineinzubringen. Vielleicht hat sie durch eine ähnliche Auslegungskunst ihren Amor im Topfe herausgekünstelt. Vermutlich fand sie in einer ältern Ausgabe irgendeines Autors ›amor in ollam‹ statt ›illam‹; denn das begegnete ihr sehr oft, daß sie einem Schriftsteller zuschrieb, was ein anderer tausend Jahre vor oder nach ihm gesagt hatte.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 55-65.
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