Zweites Kapitel

[218] Das erste nötige Geschäfte war, Schwingers Briefe zu überliefern. Er wollte sich zu dem Ende mit seinen schönen, schwarzen Sonntagsbeinkleidern, mit stattlich breiten genähten Manschetten und der ganzen übrigen Feierkleidung schmücken, die er ausgebreitet unterdessen auf den Tisch legte, um sich von dem ankommenden Friseur adonisieren zu lassen. Der kurze, dicke Pudergeist nennte ihm eine Menge Frisierarten her und bat, darunter auszulesen, und frisierte und schwatzte unaufhörlich, ohne ihm Zeit zur Wahl zu lassen. Heinrich war noch ganz bei den Bettelleuten mit seinen Gedanken und fragte auch bei dem Friseur an, ob man denn gar nichts täte, um dem Elende der armen Leute abzuhelfen. Der Friseur hielt inne, reckte ihm sein rechtes Ohr dicht vor den Mund hin und schrie: »Was?« – Heinrich wiederholte seine Frage. – »O ja!« antwortete der Bursche und hieb mit weit ausgeholtem Kamme keuchend in die Haare hinein – »o ja! man trägt sie itzt einen Fingerbreit überm Ohre.«

Heinrich merkte, daß er ihn nicht verstanden hatte, und weil er's für unhöflich hielt, zum drittenmal zu fragen, ließ er's dabei bewenden. Die zahlreichen Familien hierzulande fielen[218] ihm wieder ein, und er erkundigte sich bei dem Pudergotte, wieviel er Schwestern habe.

»Welche Sie befehlen, junger Herr!« schrie der Friseur. »Eine offne, eine lange, eine kurze, eine dicke, eine dünne-ich mach sie, wie Sie befehlen.«- Abermals mißverstanden! So setzten sie das Gespräch eine Zeitlang fort: immer tat er das Gegenteil von dem, was Heinrich verlangte. Beim Abschiede wollte er kein Geld nehmen, weil er schon auf den künftigen Morgen wieder bestellt war: Heinrich fand die Höflichkeit etwas übertrieben und drang in ihn, ein Geschenk anzunehmen, da er den Preis seiner Arbeit nicht bestimmen wollte: allein der taube Friseur machte einen Reverenz und wackelte fort, ohne auf seine Bitten zu hören.

»Dergleichen Höflichkeit hätt ich mir beim ersten Eintritte ins Haus nicht vermutet!« dachte Hermann bei sich. »Die Leute sind doch wahrhaftig viel besser als bei mir zu Hause.« Während daß er diese Betrachtung fortsetzte, legte er seinen Staat an, erblickte sich mit Freuden schön wie einen Königssohn im Spiegel, und die Reise ging fort. Unterwegs freute er sich schon auf den liebreichen Empfang, womit ihn Schwingers Freunde beehren würden, sann auf Komplimente, ihre Höflichkeit zu erwidern, und sah vor begeisternder Erwartung kein einziges von den schönen Häusern, die ihm der Lohnlakai zeigte. Er langte an: er glaubte, nur Schwingern nennen zu dürfen, um mit ausgebreiteten Armen empfangen zu werden. Der Bediente, bei dem er sich meldete, kannte keinen Schwinger, erkundigte sich kalt nach seinem Verlangen, nahm ihm den Brief ab und trug ihn zum Herrn. Schon rüstete sich Heinrich zu einem der auserlesensten Reverenze und harrte mit freudiger Ungeduld auf die Erscheinung seines Patrons. Der Bediente kam zurück: »Es ist gut«, sagte er, »Sie sollen morgen früh um acht Uhr wiederkommen.« -Der unerfahrne Bursche wußte sich das Phänomen nicht zu erklären: er empfahl sich voller Erstaunen und konnte auch seinem Lohnlakai nicht verhehlen, daß die Leute, die ihn heute bei seiner Ankunft besuchten, viel höflicher gewesen wären. – »Ja, sehn Sie!« antwortete der Bediente, »der Herr[219] ist vor kurzem in ein sehr hohes Amt gerückt: das ist ein vornehmer Mann!« –

Zu dem Besuche bei Schwingers zweitem Freunde kam er mit verminderter Erwartung und fand auch Ursache, zufrieden mit der Aufnahme zu sein. Der Mann war in kein hohes Amt unterdessen gerückt, sondern noch Advokat, und freute sich deswegen ungemein über Schwingers Andenken. Mit der gutmütigsten Freude zog er das blausamtne Mützchen vom Kopfe, sooft Heinrich seinen Freund nannte und der guten Meinung gedachte, die er von ihm habe: er bot alle möglichen Dienste an und ward recht unruhig, als er nach einigem Nachdenken fand, daß er sie ihm nicht auf der Stelle erzeigen könnte. – »Hm! hm!« brummte er vor sich hin, sann und rückte verdrießlich das Samtmützchen im Kreise auf dem Kopfe herum, »braucht denn niemand einen Schreiber? Gar niemand? Hm! hm! fatal! recht fatal.« –

Man sah ihm in allen Zügen des Gesichts den Schmerz an, daß er ihn mit einer bloßen Vertröstung von sich lassen mußte: er konnte das unmöglich ohne einen gewagten Versuch übers Herz bringen. Er lief zur Frau Gemahlin, führte sie herbei und ersuchte sie inständigst, dem jungen Menschen einen Platz im Hause zu verstatten: er streichelte ihr die Hände, liebkoste und bat sie wie ein Kind. Die Frau Gemahlin antwortete mit preziosem Tone: »Das weißt du ja selber, Papachen, daß wir keinen Platz haben: nein, das kann ich nicht, Papachen. Vielleicht in einigen Wochen oder Monaten, wenn dein Schreiber abgeht: aber ich kann nichts versprechen.« – Der Mann verdoppelte seine Bitten und flehte demütigst, ihn wenigstens zum Abendessen dazubehalten. – »Nein, Papachen, das kann ich heute nicht«, war abermals ihre Antwort, »vielleicht ein andermal, wenn uns Gott Leben und Gesundheit gibt.« – Der Mann wußte vor Verlegenheit nicht, was er tun sollte; und da es ihm schlechterdings nicht möglich war, jemanden, der ihn interessierte, ungegessen von sich zu lassen, so holte er ein Schächtelchen Magenmorschellen aus einem Schranke und verehrte, als seine Frau den Rücken wandte, seinem Gaste heimlich drei[220] große Stücken davon, nahm höchst unruhigen Abschied und versprach seine tätigsten Dienste auf das feierlichste, mit vielem Händedrücken und Backenstreicheln.

Weil es noch sehr zeitig am Tage war, entschloß er sich auf Zureden seines Begleiters, einen Spaziergang zu machen, um die Stadt zu sehn. Er wanderte, mutig und froh über die Freundschaftsversicherungen des dienstfertigen Advokaten, der Katholischen Kirche zu, bewunderte, in Erstaunen verloren, die majestätische Brücke mit herauf- und hinabgehenden Menschen mit mannigfaltiger Vermischung, mit herauf- und hinabfahrenden Karossen, Wagen, Karren, Trägern und Reitern erfüllt: er weidete sich unersättlich an dem herrlichen Schauspiele: in seinen Augen war es eine kleine Welt, die hier zwischen Himmel und Wasser schwebte. Er tat einen Gang über sie hin und brach mit entzückter Selbstvergessenheit in laute Bewundrung aus, als auf beiden Seiten das schönste Theater in bezauberndem Reize vor ihm stand. Gärten und Pavillons, die ihm in der Luft zu hängen schienen, Häuser, ferne Paläste an beiden Ufern hin und über den lang daherwallenden Strom hinaus am Ende der Aussicht einen schieflaufenden Bergrücken, mit bunten Häusern, einzelnen Bäumen und malerischen Einzäunungen überstreut und mit hohem, dunkelgrünen Walde in mannigfaltigen Krümmungen bekrönt: er hatte nie des Anblicks genug. Nicht weniger verweilte er auf dem Rückwege bei der andern Seite der Aussicht und vermehrte die Anzahl der Neugierigen, die Geländer und Bogen besetzt hatten, um den Mast eines Schiffes mit langen Zurüstungen niedersenken zu sehen, das dem schießenden Strome entgegen durch die Wölbung der Brücke gezogen werden sollte: die Zuschauer äußerten mit der lebhaftesten Teilnehmung Besorgnis und Erwartung, Tadel und Bewundrung über die Maßregeln der Zimmerleute und Schiffer, die wie Eichhörner auf der Bedachung des Schiffs herumsprangen, schrien, schalten, zankten, anordneten, itzt mit angestrengten Kräften dem fallenden Baume das Gegengewicht hielten, itzt müßig, auf ihre Hebebäume gelehnt, dastanden und plaudernd und[221] pfeifend in den wallenden Strom sahn. Beladne Kähne mit roten, flatternden Wimpeln schwammen fern daher auf der ausgespannten Fläche des Wassers: mit schnellerm Laufe fuhren andre, vom Strome begünstigt, vor ihnen vorbei, grüßten mit lautem Zuruf die Kommenden, empfingen und gaben mit treffendem Schifferwitze Grüße von wartenden Mädchen, verliebten Weibern und eifersüchtigen Ehemännern; und eine Kanonade von helltönendem Gelächter war der Abschied. Andre ruhten am Ufer: mit tätiger Emsigkeit stieg man in sie hinab und entlud sie ihrer Bürde:hier wurden verwundete Fahrzeuge zur unvermuteten Reise eilfertig ausgebessert: dort stand auf dem umgekehrten Bauche eines anderen ein Trupp Zimmerleute um den Herrn des Kahns, in ernste Beratschlagung vertieft, wie man mit leichten Kosten dem zerlöcherten Patienten vollkommne dauerhafte Gesundheit verschaffen könne: bedenklich wie ein Arzt bei einer gefährlichen Krisis schüttelte der Zimmermeister über dem hoffnungslosen Gebäude den Kopf, und betrübt kraute der Patron sich den Kopf.

Tagelang hätte Heinrich bei einem für ihn ganz neuen Schauspiele verweilen mögen, wenn ihn nicht sein ungestümer Begleiter beständig zum Abmarsche ermahnte: nach langem Kampfe mit sich selbst riß er sich endlich los, doch mit dem festen Vorsatze, oft zurückzukehren.

Kaum näherte er sich der Katholischen Kirche, als ihn von der Seite eine Knabenstimme anfiel. – »Mein junges, schönes Herrchen«, tönte ihm in das linke Ohr, »der liebe Gott hat Sie gar zu schön gemacht, und er wird Sie noch schöner machen, wenn Sie einem armen Jungen auch etwas mitteilen.« –

Der unerwartete Lobspruch riß seine Hand nach der Tasche hin: er gab dem Schmeichler ein Zweigroschenstück. Der Bube zeigte es triumphierend und hüpfend seinen Kameraden zwischen den emporgehaltnen Fingern; und kaum sahen sie es blinken, so schoß eine ganze Kuppel wie wütend auf den Wohltäter los: gleich Hunden, die eine Beute erwischt haben, packten sie ihn fest, als wenn sie sich in seine ganze Person teilen wollten. Jeder bekam soviel als der vorige, und nur[222] einer, der die Schmeicheleien der andern mit einem »Gnädiger Herr« überbot, erhielt doppelt soviel.

»Ihre hochwohlgeborne Gnaden« – rief eine alte zerlumpte Frau, die auf einem Steine bei der Kirche saß und sich langsam und zitternd zu ihm hin bewegte. So eine Höflichkeit war etwas wert: er bezahlte sie mit einem halben Gulden. Die Alte erschrak über die Größe des Geschenks, wackelte ihm mit gefaltnen Händen nach und betete mit lauter Stimme zwo lange Strophen aus einem Kirchenliede, die der Lohnlakai, aus mechanischer Andacht, murmelnd nachsprach: dann fuhr sie ihm nach dem Rockzipfel und küßte ihn, eh' er's wehren konnte.

»Wenn doch die Leute hierzulande nicht so entsetzlich höflich wären!« dachte Heinrich, als er in die Tasche griff und seinen Geldvorrat merklich vermindert fühlte. Indem er's dachte, erschienen die Buben, die er schon einmal beschenkt hatte und um die Kirche herumgeschlichen waren, zum zweiten Male und stürmten mit ›Exzellenzen‹ und ›Gnaden‹ so gewaltig auf ihn zu, daß er dem Angriffe nicht widerstehen konnte: Gutherzigkeit und Eitelkeit leerten seine ganze Tasche unter sie aus.

Den Abend brachte er nach seiner Rückkunft unter mancherlei angenehmen Träumereien hin, worunter sich wie ein Gespenst die traurige Vermutung mischte, daß es ihm mit der Zeit, und zwar sehr bald, an Geld fehlen könne: – ›aber Schwingers vornehmer Freund, der in so ein hohes Amt vor kurzem gerückt ist und mich morgen früh zu sich bestellt hat, wird mir schon helfen‹ – tröstete er sich; und die Hoffnung drückte ihm die Augen zu.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 218-223.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Clementine

Clementine

In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.

82 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon