72.

Von einem einsidel, der sein eigen schwester ermort.

[94] Zů Grüningen saß ein seer reycher mann, der hat ein einigen erwachßnen wolgeleerten sun und ein tochter. Demselben sun kam in sein gedancken, ein einsidel zů werden und dardurch in himmel ze kommen; dasselb kundt im weder vatter, Schwester, noch freünd erleiden. Gadt von seinem vatter, schwester, hauß und hof und allem reichthůmb auff anderthalbe meil von der statt in einen eichwald unnd macht im selb alda ein hütten, darinn er, verscheiden von der welt, můt hat, got zů dienen. Sein speiß und tranck bättlet er in den nächsten umbligenden flecken und dörfferen und fůrt[94] also ein strenges leben mit bätten, fasten und arbeiten an den gemeinen wägen; da verwarff er die karrenleissen, trůg in die tieffe löcher holtz und stein und füllets auß, bessert also die gemein strassen weit und breit. Das treib er ein lange zeit, wol zehen jar lang.

Auff ein zeit kam im für im traum zů nacht, so er an seinem betth lag und schlieff, ein stimm sprechend: ›Der herr hat mich zů dir geschickt, daß ich dir sölle verkünden dise wort: Under disen dreyen lasteren můßt eins volbringen, welches dir erwöllen wirdst, namlich einmal dich voll trincken, oder einmal in unkeüschheit leben, oder ein todtschlag thůn. Deren eins wil der herr von dir haben.‹ Unnd in dem verschwand die stimm wider. – Der einsidel erwachet ab der stimm unnd erschrack seer übel, gedacht im nach und sprach zů im selber: ›Sol und můß ich eins auß disen dreyen bösen lasteren erwöllen, daß wirt mir schwer sein; dann ich mein lebtagen nie keins im sinn hab gehept, geschweigen erst thůn.‹ Und doch treib in sein gewüssen tag und nacht, frü und spat, daß er deß herren befelch vollbrechte, wie er meint. Nach langem eyfer und nachtrachten, doch ungern, erwöllet er im die trunckenheit, vermeint, dieselbige were die ringest.

Auff ein zeit schreib er seiner schwester gen Grüningen einen brieff, die in grossen eeren unnd reichthůmb sas, sye sölte doch einmal zů im kommen und mit ir bringen ein flesch voller wein unnd sich mit im noch einmal ersprachen; alsdenn wölle er sich aller freündtschafft, auch der gantzen welt entziehen und sich dem herren gar ergeben. Welchs so die schwester im schreiben vermercket, begert sy das mit gantzem fleiß zů vollbringen; dann sy und alle menschen hielten in für ein heiligen mann. Und gadt zů im hinauß allein an einem feyrtag, wol geladen mit wein unnd brot und anderem gewürtz, sich mit irem brůder allein zů ergetzen. Als sy zů im kam, wurden sy beide von hertzen fro, und er empfacht die schwester in aller zucht und eeren, sitzen also zůsamen und ersprachen sich mit einander. Er fraget sy, wie es dem vatter gange, auch was manns und wie vil kind sy habe. Die Schwester bericht in aller dingen, unnd im schwetzen schmöcht sy im immerdar die fleschen, auff daß sy in möcht frölich machen.[95]

Bey langem wirt der brůder voll (dann er hat des trinckens nit gewonet), satzt sich auch neher zů der schwester und greiff sy etwan an. Die schwester achtet es nit, dann sy gewan ein fröud darab, daß ir brůder so frölich war, trewet im auch nichts böses. Doch bey langem wirt der brůder gar entzündt und schendet die schwester mit gwalt. Nach der that gedacht er: ›Es wirt von mir außkommen, so ich sy laß wider heimgan,‹ gadt hin und ermördets gar. Also vollbringt er dise laster all drey, vermeint, er hett das ringest erwöllet.

O trunckenheit, was stifftest du! Du bist nit das ringfügest laster under all ander laster.

Quelle:
Georg Wickram: Werke. Band 3, Tübingen 1903, S. 94-96.
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