Ode

[29] Wen Du, o Muse, da er geboren ward,

Lächelnd umfingest, den wird kein Siegesgeschrei

Mit Lorbeern, die vom Blut der Feinde

Tauen, bekrönt, durch das Schlachtfeld führen.


Daß ihm die Nachwelt bei den Erobrern seh,

Klagt keine Mutter, eilt aus des Mädchens Arm,

Das ihm nachweint, kein Jüngling

Hin in die Schlacht, sein Blut zu strömen.


Noch da er kindisch sich um den Busen schmiegt,

Oft mit Entzückung mütterlich angeweint,

Fühlt er schon mehr als andre, tönet

Etwas harmonisches in seinem Weinen.


Da schon empfindt er lächelnder Blicke Kraft,

Da wird sein Herz in ihren Umarmungen

Nach dem Herzen der Mutter gebildet,

Zärtlich und schön, wie ein junger Amor.


Oft stehst du denn in Stunden der Mitternacht,

Erato, bei ihm; wenn itzt die Mutter müd

Ihn zu umarmen, eingeschlummert,

Und ihn in Träumen schon glücklich siehet.


Da stehst du bei ihm, wehst in sein offnes Herz

Mit Zephyrlippen deine Empfindungen.

Formst in der wächsernen Brust des Säuglings

Jeglichen Trieb, dir einst nachzufühlen.


Ihn trägt die hohe einsame Bahn dereinst

Auf Flaccus Spuren, oder den Hainen zu,

Wo dein unsterbliches Lied, o Maro,

Durch die Homerischen Lorbeern rauschet;
[30]

Oder in Täler hin zu dem Silberquell,

Der, wie dein Trinklied, Sänger von Teos, fließt,

Oder wie deines Mädchens Küsse,

Wenn du, von ihnen berauscht, geraset.


Denn lehrt ein Mädchen, welches der Doris gleicht,

So schön, mit Augen, die so begeisternd sind,

Ihn umarmend, die Liebe singen,

Und dich, o Unschuld, der Liebe Schwester.


Er übt die Haine, wenn sie der Morgen grüßt,

Oder wenn auf den Auen der Frühling schläft,

Den Ruhm der Tugend nachzuhallen.

Menschen sind taub, doch ihm horcht der Seraph!


Ihn wird die Nachwelt, wenn seine Stimme schon

Sich den Gesängen Englischer Harfen mischt,

Hören, ihn segnen, seine Hymnen

Vor dem nachahmenden Jüngling spielen,


Welcher, sie hörend, sich hingezücket fühlt,

Göttlich zu singen. Auch weint bei seinem Lied

Einst manch jugendlich weiches Mädchen,

Zärtlich wie Doris, und liebt den Sänger.


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 4, München 1964 ff., S. 29-31.
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