27.
An Kleonidas.

[190] Dein junger Freund Antipater hätte sich durch nichts einer bessern Aufnahme versichern können, als daß er mir einen so lange erharrten Brief von meinem Kleonidas überbrachte; wiewohl ich gestehe, daß er keiner andern Empfehlung bedarf, als sich bloß zu zeigen. Ich bin wirklich stolz darauf, einen so unverdorbenen, kraftvollen und vielversprechenden Sohn der Natur, wie Antipater ist, als meinen Landsmann bei den Athenern aufzuführen. Wohl wird es ihm kommen, wenn er so fest und unreizbar ist, als sein ganzes Wesen ankündigt; denn ich sehe schon drei oder vier unsrer jungen mädchenhaften Bathylle94 mit Rosen duftenden Locken, schmachtenden Augen und zarten lispelnden Stimmchen, die um ihn herumbuhlen, und alle ihre kleinen Hetärenkünste aufbieten, sich von ihm bemerken zu machen, und ihm zu zeigen, daß sie keine Gefälligkeit zu groß finden würden, um sich eines Liebhabers von seinem Schlage zu versichern.

Ich habe meinem jungen Landsmann ein Zimmer in meinem Hause (das gerade Raum genug für uns beide hat) angewiesen; er ist, so oft es ihm gefällt, mein Tischgenoß, und bedient sich meines Umgangs, ohne mir lästig zu seyn,[190] so viel als ihm gemüthlich ist: dieß ist aber auch alles, was ich (vor der Hand wenigstens) für ihn thun kann, und wirklich schon mehr als er vonnöthen hat. Jünglinge wie er werden nicht gebildet, sondern bilden sich selbst, oder bringen vielmehr ihre schon vorausbestimmte Form mit sich auf die Welt; wie sie sind, sollen sie seyn; was sie werden, sollen sie werden. Was eine Pflanze bedarf, um sich zu entwickeln, Freiheit, Licht und angemessene Nahrung, ist im Grund alles, was solche Menschen zu ihrem Wachsthum und Gedeihen brauchen. Athen ist reich an merkwürdigen Menschen aller Arten, deren Vorzüge, Talente, Kenntnisse, Erfahrungen, Tugenden und Untugenden ein Jüngling wie Antipater benutzen kann: er mag sie selbst aufsuchen, und selbst wählen, zu wem er sich halten will. Zwar werd' ich ihn unvermerkt beobachten, und ihn warnen, sobald ich sehe, daß seine Unerfahrenheit irgend eine große Gefahr laufen könnte; aber mich nicht gleich für ihn ängstigen, wenn er auch dann und wann zu weit mit der Nase vorwärts kommt, oder einen Mißtritt thut, der ihn künftig vorsichtiger zu seyn lehrt. Selten oder nie werd' ich ihm mit meinem Rathe zuvorkommen, niemals ihm von einer Person, die er selbst sehen wird, voraus sagen, was ich von ihr halte: begehrt er aber von freien Stücken meine Meinung, worüber es sey, zu wissen, so werd' ich sie ihm frei und offen sagen. Verlangt er Unterricht über etwas, das ich besser weiß als er, so soll er ihn erhalten. Dieß ist ungefähr die Art, wie ich mit ihm umgehe, bis wir uns näher kennen, und das wahre Verhältniß seiner Natur zu der meinigen sich so bestimmt ausgesprochen hat, daß wir beide genau wissen, wie wir gegen einander[191] stehen, und was wir einander seyn oder nicht seyn können. An eigentliche Bildung ist (wie gesagt) bei einem Jüngling wie dieser nicht zu denken. Ja, so einen Onokradias, den Sohn Onolaus des Zweiten, des Enkels von Onomemnon, der ein Urenkel von Onocephalus dem Großen war, so einen Heldensohn kann man bilden, und soll man bilden, so gut als es gehen will, denn er ist für sich selbst nichts; so einem soll man gesunde Begriffe, Grundsätze und Maximen in den Kopf, oder wenigstens ins Gedächtniß einsammeln, weil er sie ohne fremde Hülfe nie bekommen würde. Wer nicht schon von bloßem Zusehen gehen lernt, muß es in einem Gängelwagen oder am Führband lernen; wer blind ist, muß geführt werden; wer nicht denken kann, soll andern glauben; wer selbst kein Urtheil hat, mag, wenn er nicht schweigen kann, verständigen Männern nachsprechen. So will es die Natur; und so ist's recht. Aus einem Stück Sandstein, Marmor oder Lindenholz kann freilich ein Alkamen nach Gefallen einen Achilles oder Thersites herausmeißeln oder schnitzeln: aber aus seinem Sohn Lamprokles konnte Sokrates selbst keinen Xenophon, so wie aus seinem geliebten Alcibiades keinen Perikles bilden. – Doch, wozu das alles, was du so gut weißt als ich. Denn gewiß wolltest du mit der Bildung deines jungen Freundes, die du mir aufträgst, weder mehr noch weniger sagen, als was ich dir zu leisten versprach, und zu halten gedenke – und das ist genug.

Ohne Zweifel erinnerst du dich noch des alten Antisthenes, den du in Athen kennen lerntest; desjenigen unter den vertrautern Freunden unsers Weisen, der ihm (seine fröhliche[192] Laune und Urbanität und das feine Salz seiner Scherze ausgenommen) in Lehre und Leben am ähnlichsten wäre, wenn er nicht in beidem ziemlich weit über die Linie hinausginge, die das Mittel zwischen zu viel und zu wenig bezeichnet, und freilich nicht immer so genau zu treffen ist, als ein weiser Mann wohl wünschen möchte. – Indessen hat sich ein junger Paphlagonier aus Sinope, Diogenes genannt, von ungefähr zu ihm gefunden, der die Kunst zu entbehren und zu hungern noch viel weiter treibt als Antisthenes, aber dabei, was den Witz, die gute Laune und die Genialität betrifft, so viel Aehnliches mit dem Sohn des Sophroniskus hat, daß ihn Plato, wie ich höre, nur den tollgewordenen Sokrates zu nennen pflegt. Der weiseste Mann, sobald er ohne alle Nachsicht und Schonung auf die Thoren, d.i. auf die große Mehrheit, losgehen, und sich ihnen in gar keinem Stücke gleich stellen wollte, würde ihnen nothwendig, im mildesten Lichte betrachtet, als ein ausgemachter Narr erscheinen müssen. Dieß ist gewissermaßen der Fall dieses Diogenes; mir wenigstens scheint er unter seiner Narrenkappe einen gesundern Kopf zu bergen, als die meisten, die durch die leicht zu machende Entdeckung, daß er ein Narr sey, ihren eigenen Verstand in Sicherheit gebracht zu haben glauben. Im Grunde gehört ein gutes Theil Vernunft dazu, um ein Narr wie Diogenes zu seyn; ja ich möcht' es sogar ein Talent nennen, worin man es zu einer gewissen Virtuosität bringen kann, so gut als in irgend einem andern.

Da dieser junge Mann in der neuentstandenen Classe von Menschen, die sich, seit Plato an ihrer Spitze steht,[193] Philosophen nennen, künftig eine bedeutende Rolle spielen dürfte, so ist es dir vielleicht nicht unangenehm, wenn ich dich, so weit meine dermalige Kenntniß von ihm reicht, etwas näher mit ihm bekannt mache. Er war (wie es scheint, und wie die Erkundigungen, die ich hierüber eingezogen habe, bestätigen) in guten Glücksumständen geboren, und hatte eine dieser Lage angemessene Erziehung erhalten. Ein unvermutheter Umsturz seines Hauses, welches einen ansehnlichen Handel auf dem Euxinischen Meere getrieben hatte, machte ihn auf einmal zum Bettler. Ein andrer Zufall führte ihn zum Antisthenes nach Athen. Da sein Beruf zur Philosophie ein eigentlicher Nothfall war, so zeigte ihm sein guter Verstand sehr bald, was er hier zu thun habe. Einem Menschen, der keine Wahl hatte, als zwischen dienen und arbeiten, oder betteln und müßiggehen, – wo der Gewinn auf beiden Seiten ziemlich gleich, und der tiefe Grad von Verachtung, der den Stand des Bettlers drückt, beinahe das Einzige ist, was die Wage auf die andere Seite ziehen kann – konnte nichts Glücklicher's begegnen, als die Bekanntschaft mit Antisthenes. Denn er sah nun auf den ersten Blick, daß er nur noch Einen Schritt weiter zu gehen brauche als dieser, um seine Dürftigkeit zu Philosophie zu veredeln, sich aus einem Bettler zum unabhängigsten aller Menschen zu machen, und der verächtlichsten Lebensart sogar einen Respect gebietenden Charakter aufzudrücken. Schon Antisthenes würde eben so räsonnirt haben wie Diogenes, wenn seine äußere Lage völlig eben dieselbe gewesen wäre. Auch liegt der wahre Unterschied zwischen ihrer Art zu philosophiren[194] bloß in dem Umstand, daß jener gerade so viel Vermögen hat, daß es ihm täglich wenigstens drei bis vier Obolen, und alle vier Jahre einen neuen Ueberrock abwirft; dieser hingegen gar nichts hat, wovon er leben kann, als seinen Kopf und seine Arme. – Daß er sich zu einigen andern Lebensarten, womit ein Bettler, der alles zu leiden und zu thun bereit ist, sich allenfalls in einer Stadt wie Athen fortbringen kann, zu gut fühlte, wollen wir ihm zu keinem großen Verdienst anrechnen: aber seinen Verstand hat er bei mir in keine gemeine Achtung gesetzt, nicht dadurch, daß er den Stand eines Cynischen Philosophen (wie man den Antisthenes und seine wenigen Anhänger zu nennen anfängt) erwählt hat – denn in seiner Lage war eigentlich nichts zu wählen – sondern daß er diese Nothphilosophie sich selbst und seinen Umständen so anzupassen weiß, daß sie sein eigen wird, daß sie ihm, so zu sagen, bequem sitzt, und wohl ansteht; mit Einem Wort, daß er anstatt Nachahmer zu seyn, Original ist, und auf dem Wege, den er eingeschlagen hat, ziemlich sicher seyn kann, wie viele Nachtreter er selbst auch immer finden möchte, doch so leicht von keinem erreicht, geschweige übertroffen zu werden.

Es klingt paradox genug, hat aber seine völlige Richtigkeit, daß Diogenes zum ersten Grundsatz seiner Philosophie gemacht hat, »alle seine Bedürfnisse, oder alles was er, außer einem ziemlich kurzen und abgetragenen Mantel, auf der ganzen Welt besitzt, in einem mäßigen Schnappsack auf der Schulter mit sich herum zu tragen.« Bei einer neulichen Inventur seines Inhalts fand der närrische Mensch, daß er[195] einen Kamm mit vier Zähnen, und einen hölzernen Becher zu viel habe, da ihm eine seiner Hände beides sehr bequem ersetzen könne; und so wurde dieser Ueberfluß sogleich ins nächste Wasser geworfen. Indem er die Entbehrungskunst bis auf diese Spitze treibt, gewinnt er den Vortheil, daß seine Dürftigkeit das Ansehen eines von freien Stücken aus Grundsätzen erwählten Zustandes erhält, und dieß gibt ihm eine Art von Recht, sich über die Ueppigkeit der Reichen lustig zu machen; ein Zeitvertreib, wozu ihn die Natur mit Witz und Muthwillen reichlich versehen hat. Da die Menschen überhaupt, und die Athener noch mehr als andere, wohl leiden mögen, daß man über ihre Thorheiten spotte, wenn es nur auf eine solche Art geschieht, daß sie mitlachen können, und der Spötter ihnen hinwieder Blößen genug gibt, um ihn mit gleicher Münze zu bezahlen; so hat er sich dadurch bereits eine Art von Popularität erworben, die ihn wenigstens vor dem Mangel an Wolfsbohnen (seiner gewöhnlichen und beinahe einzigen Nahrung) sicher stellt. Aber die Philosophie des Schnappsacks verschafft ihm noch einen Vortheil, der nach seiner Schätzung alle andern überwiegt. Da er so unendlich wenig Ansprüche an die bürgerliche Gesellschaft macht, so glaubt er auch berechtigt zu seyn, sich über alles, was im menschlichen Leben bloß von Uebereinkunft, Gewohnheit und Sitte abhängt, wegzusetzen, und im Nothfall mitten auf dem Markte zu Athen alles, was nicht an sich unrecht ist, für eben so erlaubt zu halten, als in der tiefsten Schlucht des Pentelikus. Er achtet kein Vorurtheil, spottet über den Zwang, den wir uns selbst durch eine unendliche[196] Menge vermeinter Pflichten auflegen, wovon die Natur nichts weiß, und die man übertreten kann, ohne darum ein schlimmerer Mensch zu seyn; und hält sich daher durch die Gesetze der Wohlanständigkeit und Urbanität so wenig gebunden, daß er vielmehr das größte Vergnügen darin findet, sie alle Augenblicke zu übertreten, und den Leuten dadurch lächerlich und anstößig zu werden. Er hat sehr richtig geurtheilt, daß dieß alles zu der Rolle eines bloßen Naturmenschen gehört, und daß er so ziemlich darauf rechnen kann, man werde die Billigkeit fühlen, an einen Menschen, der von andern nichts fordert, als daß sie ihn leben lassen, hinwieder keine Forderungen zu machen, wozu er als bloßer Mensch nicht verpflichtet ist. Bei allem dem hat er doch zu viel Sinn, um in der Ausübung seiner Grundsätze so weit zu gehen, als sie ihn führen könnten. Er spricht freier als er handelt, ist besser und verständiger als er scheinen will; und wiewohl er eine eigene Freude daran hat, in den seltsamen Bockssprüngen, die er seinen Witz und seine Laune machen läßt, der Gränzlinie des Unanständigen öfters so nahe zu kommen, daß man alle Augenblicke befürchtet, er werde vollends über sie weggehen, so weiß er doch (zumal in guter Gesellschaft) den äußersten Punkt immer so genau zu treffen, daß man ihm wenigstens das Lob eines geschickten Luftspringers nicht versagen kann. Noch einer kleinen Tugend muß ich erwähnen, die an einem Philosophen dieses Schlages nicht ganz gleichgültig ist; nämlich daß er – das Wasser nicht spart (welches zum Glück in und um Athen überall umsonst zu haben ist), und daß er daher im Punkt der Reinlichkeit[197] von dem wasserscheuen Antisthenes sehr stark zu seinem Vortheil absticht.

Ich habe mich etwas länger bei der Charakteristik dieses bis jetzt in seiner Art einzigen Sterblichen aufgehalten, damit dir begreiflicher werde, wie es zuging, daß Antipater an ihm und er hinwieder an Antipatern in kurzer Zeit so viel Geschmack finden konnte, daß jetzt keine Dekade vergeht, ohne daß sie einen Gang bald in den Hafen, bald auf den Hymettus oder Pentelikus95, oder eine Schwimmpartie nach den kleinen Inseln Psyttalia und Atalanta, auch wohl bis nach Salamine, zusammen machen. Es gibt einen komischen Anblick, unsern jungen Landsmann, nach Cyrenischer Weise stattlich gekleidet, mit dem zottigen Barfüßer in seinem groben Tribonion, das ihm kaum über die Kniee reicht und seine ganze Draperie ausmacht, durch die Gassen und Hallen von Athen schlendern zu sehen, wo tausend gaffende Augen und klaffende Mäuler auf sie gerichtet sind, und oft ziemlich laut über das ungleichartige Paar scherzen, ohne daß Antipater die mindeste Kunde davon nimmt. Sein häufiger Umgang mit Diogenes hat ihn auch mit dem alten Antisthenes in Bekanntschaft gesetzt, an dessen trivialem Menschenverstand er unendlich mehr Gefallen bezeigt, als an den sophistischen Spitzfindigkeiten, womit Plato seine Zuhörer so gern – zum Besten hat. Schließe nicht etwa hieraus, daß ich deinen jungen Freund gegen den letztern böslicherweise eingenommen habe. Die Sache machte sich von selbst. Denn zum Unglück mußte sich's fügen, daß Plato, da der gute Antipater zum erstenmal in seine Schule kam, eben in[198] der Vorlesung und Erklärung seines Parmenides96 begriffen war, worin er diesen Eleatischen Sophisten seinen berühmten Grundsatz: »Alles ist Eins, und Eins ist Alles,« durch eine neunfache Reihe Argumentationen von der allersubtilsten Subtilität durchführen läßt. Der arme Antipater, dem so etwas nie gereicht worden war, horchte mit Augen, Mund und Ohren, und wäre beinahe erstickt, weil er, aus Furcht daß ihm ein Wort entgehen möchte, den Athem so lange bis er nicht mehr konnte an sich hielt. Da er aber in einer ganzen Stunde mit übernatürlicher Aufmerksamkeit und Anstrengung allem, was er gehört hatte, weder Sinn noch Geschmack abgewinnen konnte, und anstatt weiser als zuvor geworden zu seyn, nichts als einen wüsten Kopf, worin sich alles mit ihm im Wirbel herumdrehte, davon trug, lief er, ohne den Schluß abzuwarten, zum Saal hinaus, und schwur bei allen zwölf himmlischen Göttern, seinen Fuß nie wieder über die Schwelle des Mannes zu setzen, welcher wißbegierigen Jünglingen solche Possen für Weisheit verkaufe. Da irrest du dich, Antipater, sagte ich: er gibt sie umsonst. – Desto schlimmer für seine Zuhörer, versetzte der junge Mensch; denn wenn er auch nur den Werth einer Drachme darauf legte, so würde er sich schämen, Spreu für Körner zu verkaufen. Ich muß eilends nach der nächsten Palästra laufen, um das tolle Zeug wieder aus dem Leibe zu schwitzen. – Das magst du immerhin, sagte ich: indessen hättest du doch in dieser einzigen Stunde, die du für verloren hältst, viel gewonnen, wenn du dir merktest, was sie dich gelehrt hat. –

»Und was wäre das?«[199]

Daß es Dinge gibt, von denen ein vernünftiger Mensch nicht mehr wissen wollen muß, als jedermann davon weiß. Daß z.B. Etwas nicht – Nichts, und Eins nicht – Zwei ist, sind Wahrheiten, woran niemand zweifelt: aber Plato wollte auch begreiflich machen, wie und warum es so sey, und verwickelte darüber sich selbst und seine Zuhörer in so undenkbare Sophistereien und Widersprüche, daß du am Ende ungewiß wurdest, ob du selbst Etwas oder Nichts seyest.

»Das ist eben, was mich toll machte. Höre nur an. – Viele können nicht seyn, wenn nicht Eins ist; denn Viele sind weiter nichts als Eins vielmal genommen. Nun kann aber Eins nicht Eins seyn; denn ein anders ist seyn, ein anders, Eins. Sobald also Eins existirte, so wär' es nothwendig mehr als Eins, nämlich das Eins an sich selbst, und das existirende Eins; Eins wäre also Zwey; da aber Zwei nicht Eins seyn kann, weil es dann nicht Zwei wäre, so gibt es weder Eins noch Zwei, folglich auch nicht Viele, folglich gar Nichts. – Ist es erlaubt, solch unsinniges Zeug für Philosophie zu geben, wenn man's auch umsonst gibt?«

Nimm es, wie gesagt, beim rechten Ende, so wird es dich klug machen. Wer weiß ob Plato mit seinem Parmenides etwas anders wollte?

»Wenn das sein Zweck war, so danke ich für das Mittel! Was würde man von einem Menschen sagen, der ein paar Duzend arme Kinder stundenlang mit Versuchen auf dem Kopfe zu gehen quälte, bloß um sie zu überzeugen, daß sie nicht auf dem Kopfe gehen müßten?« –[200]

Was konnt' ich dem jungen Manne antworten, Kleonidas?

Da ich doch einmal auf diesem Kapitel bin, so habe die Geduld, über mein Verhältniß zu Plato, worüber meine Freunde sich, wie ich merke, ziemlich unnöthige Sorgen machen, mein letztes Wort anzuhören.

Niemand kann geneigter seyn als ich, diesem großen Antagonisten und Nebenbuhler der Protagoras, Gorgias, Prodikus, Hippias, und wie sie weiter heißen, in allem was an ihm und seinen Werken als vortrefflich zu loben ist, die vollständigste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ob ich aber wirklich so gerecht gegen ihn seyn kann, als ich zu seyn wünsche, zweifle ich selbst. Wir sind zu verschiedene Naturen und sympathisiren zu wenig, um einander rein aufzufassen. Daher ist mir auch seine Meinung von mir sehr gleichgültig; vielleicht noch mehr als ihm die meinige. Er kann mir weder schaden noch nützen; denn ich werde nie weder sein Nebenbuhler noch sein Fackelträger seyn. Der Weg, den ich gehe, liegt so weit von dem seinigen, daß wir schwerlich jemals in Zusammenstoß gerathen können. Ruhm scheint alles zu seyn was er sucht; ich suche nichts, als so gut durch die Welt zu kommen wie mir möglich ist, und wenn ich berühmt werden sollte, müßte dem Ruhm nur die Laune anwandeln, mich zu suchen; ich suche ihn gewißlich nie. Wie könnten wir also, Plato und ich, uns je im Wege stehen? Kurz, ich sehe so wenig Ursache, warum ich ihn lieben oder beneiden, als warum er mich hassen oder verachten sollte; warum sollten wir uns also nicht bei unsrer bisherigen Gewohnheit erhalten können,[201] ich von ihm öffentlich immer mit der Achtung, die man großen Talenten schuldig ist, er von mir – gar nicht mehr zu reden? – Indessen werd' ich mir doch gefallen lassen müssen, von den strengern Sokratikern überhaupt – zumal seitdem Xenophon in seinen Erinnerungen an Sokrates den Ton hierin angegeben hat – aus ihrer Gemeine ausgeschlossen, oder, da sie mich doch nicht ganz verwerfen können, wenigstens für einen unächten Sohn des Vaters, zu dem wir uns alle bekennen, erklärt zu werden. Sie machen mir, wie ich höre, mit vieler Bitterkeit zum Vorwurf, daß ich die keusche Philosophie des Sokrates auf eine zweifache Weise zur Hetäre herabwürdige: erstens, indem ich zu ihrem ersten Grundsatz mache, »die Wollust sey das höchste Gut des Menschen;« und zweitens, weil ich sie für baares Geld verkaufe. Ueber den ersten Vorwurf, der sich vermuthlich mehr auf meine von der ihrigen ziemlich stark abstechende Art zu leben, als auf die lächerliche Beschuldigung, daß ich die Wollust zum Princip meiner Philosophie mache, gründet, bedarf ich wohl keiner Rechtfertigung bei dir; über den zweiten hingegen glaube ich dir einige Erläuterung schuldig zu seyn, und trage zu diesem Ende kein Bedenken, dir den ganzen Hergang, der den Anlaß dazu gegeben, umständlich zu erzählen.

Die Entschließung, deren ich ehemals gegen dich erwähnte, einen Theil meiner Muße Jünglingen, die sich nach Sokratischer Weise zu mir halten wollten, zu widmen, fand, als ich sie eine Zeitlang in Ausübung gebracht hatte, vielen Beifall. Meine Art zu philosophiren schien mehrern, welche sich den Sokrates selbst öfters gehört zu haben erinnerten,[202] der Sokratischen Deutlichkeit, Popularität und Anwendbarkeit im Leben ohne Vergleichung näher zu kommen als die Platonische, und ein gutes Theil mehr von der Sokratischen Genialität und Anmuth zu haben, als die herbe einseitige Manier des Antisthenes. Indessen waren doch diejenigen, die sich am meisten an mich andrängten, größtentheils Fremde, die nur wenige Wochen oder Monate in Athen verweilen konnten oder wollten. Eine Anzahl dieser letzten verabredete sich mit einander, mich zu bitten, daß ich ihnen in so kurzer Zeit als möglich einen vollständigen Unterricht in der Philosophie des Sokrates ertheilen möchte, die seit seinem Tode in ein Ansehen und eine Nachfrage gekommen ist, so sie niemals, während er selbst noch lebte, gehabt hat. Diese Leute mochten gehört haben, daß Prodikus und andere berühmte Sophisten sich für ihre Vorlesungen ziemlich theuer hätten bezahlen lassen; oder glaubten vielleicht, was man umsonst weggebe, müsse wenig werth seyn; oder hielten es auch wohl für unbillig, einem Manne, den keine Noth dazu treibt, zuzumuthen, daß er Athem aufwende, andere gescheidter und besser zu machen, ohne sich selbst besser dadurch zu befinden; genug, sie beschlossen, es gänzlich in meine Willkür zu stellen, was für einen Preis ich auf meine Gefälligkeit setzen wollte, und genehmigten zum voraus jede Bedingung, die ich ihnen machen würde. An einem schönen Morgen erschienen ihrer nicht weniger als dreißig, um mir durch einen aus ihrem Mittel diesen Antrag zu thun. Ich suchte anfangs die Sache in Scherz zu verwandeln, aber es war den Leuten bittrer Ernst. Ich wies sie an Plato, Aeschines,[203] Antisthenes, Stilpon, Simmias u.s.w., aber sie hätten nun einmal das Zutrauen zu mir, sagten sie. Weil ich wirklich ungern an die Sache ging, hoffte ich sie endlich dadurch abzuschrecken, wenn ich einen sehr hohen Preis auf meine Waare setzte. Ich erklärte mich also zuletzt: ich getraute mir allerdings ihnen alles, was ich in drei Jahren von Sokrates gelernt hätte, in eben so viel Dekaden vollständig mitzutheilen: aber ich könnte ihnen nicht verhalten, daß es jedem von ihnen wenigstens so hoch zu stehen kommen würde, als wenn er seinen Freunden ein prächtiges Gastmahl gäbe; denn die zwölf Discurse, in welche ich die ganze Philosophie des Sokrates zusammen zu fassen gedächte, würden den Mann nicht weniger als zwölf Dariken kosten. Dafür sollte jeder zugleich eine Abschrift dieser Discurse erhalten, jedoch unter der ausdrücklichen Bedingung, sie entweder gänzlich für sich zu behalten, oder nicht mehr, als ein einziges Exemplar um den Preis, den es ihn selbst gekostet, und unter der nämlichen Bedingung, irgend einer andern Person zukommen zu lassen. Was ich verlange (setzte ich hinzu) ist viel oder wenig, je nachdem ihr das, was ihr dafür bekommt, anwenden werdet. Als bloße Speculationssache gäbe ich selbst für die Philosophie des Sokrates, wie für jede andere, keine taube Nuß; in Ausübung gebracht, ist sie mehr als alles Gold des großen Königs werth. Ueberlegt also wohl was ihr thut, damit es euch nie gereue, eure Dariken nicht auf eine angenehmere Art verloren zu haben. – Mir däuchte als ob mehr als Einer von den Jüngern bei dieser Verwarnung eine etwas nachdenkliche Miene mache: aber da vermuthlich keiner für schlechter angesehen[204] seyn wollte als der andere, so wurde mein Antrag einhellig mit großer Freude angenommen. Kurz, die dreißig Fremden, größtentheils Böotier, Arkadier, Lokrier und Chalcidier (drei oder vier Abderiten nicht zu vergessen) legten dreihundert und sechzig blanke Dariken in einem Beutel von Cyrenischem vergoldetem Leder zu meinen Füßen, und erhielten dafür was ich ihnen versprochen hatte.

Du siehest also, lieber Kleonidas, daß der Vorwurf, den mir die Sokratiker machen, daß ich die Weisheit unsers Meisters um Geld verkaufe, nicht ungegründet ist: ob auch gerecht, ist eine andere Frage, die ich deinem eigenen Urtheil anheim stelle. Ich meines Orts, betrachte einen Gelehrten überhaupt – und warum denn nicht auch den, der von der Kunst zu denken, zu reden und zu leben Profession macht? – wie jeden an dern Virtuosen, in welcher Kunst es sey; und ich sehe nicht, warum ich, wenn es mir beliebt, und die Käufer sich mir von freien Stücken anbieten, ja sogar aufdringen, für meine philosophischen Discurse nicht eben so gut Geld nehmen sollte, als Pindar für seine Siegeslieder, Damon für seine Musik, ein Arzt für seine Curen, ein Maler für seine Gemälde, Aristophanes für seine Komödien, oder Isokrates für seinen Unterricht in der Philosophie der Beredsamkeit, wie er seine Rhetorik zu nennen pflegt. Nehmen doch die Bürger von Athen für die Ausübung ihrer Souveränetät ohne Bedenken – ihr Triobolon! Daß die Hetären von ihren guten Freunden Geld nehmen, fand sogar Sokrates billig; und wenn ihre Profession schändlich ist, was kann hieraus zum Nachtheil derer, die eine edlere treiben, gefolgert werden? Wie dem[205] auch sey, seit dieser Begebenheit hat mir mehr als Ein Athener angelegen, seinem Sohn in allem, was ein Kalos Kagathos (wie man jetzt zu sagen pflegt) besonders ein künftiger Staatsmann und Demagog zu wissen nöthig habe, Unterricht zu ertheilen; und um nicht mit Zumuthungen dieser Art zu sehr belästiget zu werden, habe ich ein für allemal fünfhundert Drachmen zu meinem festgesetzten Preise gemacht. Ein einziger, und zwar einer der reichsten Männer in ganz Attika, der mir (vermuthlich ohne recht zu wissen was er that) seinen einzigen Sohn übergeben wollte, fand den Preis zu hoch; dafür, meinte der Ehrenmann, könne er sich ja einen tüchtigen Sklaven kaufen. Das thue doch ja, sagte Antipater, der dabei stand, laut lachend, so hast du ihrer zwei, ohne daß es dich einen Heller mehr kostet. Dieß Wort lief sehr bald in ganz Athen herum, und wurde von vielen auf meine Rechnung gesetzt; aber Jedem das Seine! Du siehst daß Antipater nicht vergeblich so viel um den Spötter Diogenes ist.

Aus deinen Nachrichten von dem dermaligen Zustand unsrer Vaterstadt sehe ich, daß ein Mann, der unter glücklichen Menschen glücklich leben will, er sey auch zu Hause wo er wolle, nach Cyrene ziehen muß. Und ich – bin ein geborner Cyrener, habe alles was mir das Liebste ist in Cyrene, und lebe zu Athen! – Nur noch ein Jahr, Kleonidas, ein einziges Jahr längstens, trage Nachsicht mit meiner Thorheit – wenn ich mich wieder von diesem verführerischen Athen scheide, so ist's auf immer!

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 190-206.
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