50.
Aristipp an Lais.

[356] Dein Traum, schöne Freundin, und noch mehr deine Angst vor dem Gedanken, daß er in Erfüllung gehen könnte, hat mich nicht wenig belustiget. Wir wollen nichts verschwören, Laiska! Die Dichter sind die glaubwürdigsten aller Menschen, denn sie sagen uns ja nichts als was ihnen die Musen eingeben,


– die alles wissen was war, was ist, und was seyn wird.


Was den schönen Smyrnen, Phädren, Helenen u.s.w. begegnet ist, warum sollt' es der schönen Lais nicht eben so wohl begegnen können? Welche Sterbliche hat Aphroditens Eifersucht mehr gereizt, Amors Allmacht länger und verwegener getrotzt, als die schöne Lais? – Auf alle Fälle ist es glücklich für dich, daß du, der Ungnade ungeachtet, worein du bei den Göttern von Paphos gefallen bist, noch einen Freund unter den Unsterblichen hast, der dir diesen warnenden Traum zuschickte. Man hat zwar Beispiele, daß Träume (sogar eben so sinnreiche und vielbedeutende wie der deinige) ganz und gar nichts bedeutet haben. Aber freilich, daß dir das alles im Lande der Flügelköpfe begegnete, ist allerdings ein bedenklicher Umstand; und wenn du nicht (wie es scheint) kurz zuvor, ehe dir dieser Traum in der ambrosischen Nacht zugeschickt wurde, die Geschichte des Araspes und der schönen Panthea gelesen hättest, würde ich selbst vielleicht zweifelhaft seyn, was ich aus ihm machen sollte.[357]

Aber ernsthaft von einer so ernsthaften Sache zu reden, sollte denn das Beispiel eines Araspes, der (wie du mir zuversichtlich glauben kannst) außer der Einbildungskraft des Dichters der Cyropädie nirgends existirt hat, von so schwerem Gewichte seyn, daß es eine so weise, ihrer selbst so mächtige und durch eine Erfahrenheit von zwanzig Jahren zum ruhigsten Selbstvertrauen so sehr berechtigte Frau, wie meine Freundin Lais ist, furchtsam machen müßte? Nein, bei Artemis und Pallas Athene! das ist es nicht; ob ich ihm gleich das Verdienst, leichte, unerfahrne, jugendlich übermüthige Flügelköpfe vor Schaden zu warnen, nicht absprechen will. An solche, wahrlich nicht an unsers gleichen, dachte Xenophon, da er diese schöne Sokratische Episode in sein treffliches Buch einwebte. Der Kern, der diese Frucht hervorgebracht, ist vermuthlich eine Erinnerung aus seiner bei dem Attischen Weisen zugebrachten Jugend; denn die Moral, die er dem Cyrus in den Mund legt, ist die nämliche, womit Sokrates einst ihm selbst eine heilsame Furcht einzujagen suchte, da er sich gewundert hatte, wie jener einen bloßen Kuß, den der junge Kritobulus dem schönen Knaben des Alcibiades gegeben hatte, für eine so gefährliche Sache halten könne, daß nichts Tollkühnes sey, was sich nach einer so vermessenen That nicht von ihm erwarten lasse. Kurz, Xenophons Araspes und Panthea ist weder mehr noch weniger, als der Inhalt des bei jener Gelegenheit zwischen ihm und Sokrates vorgefallnen Gesprächs, zu einer vollständigen Geschichte ausgebildet. Diese schöne Dichtung ist geschrieben dich zu ergötzen, nicht zu ängstigen; und ich[358] weiß dir keinen bessern Rath, als sie so oft wieder zu lesen, bis du über deine unnöthige Furcht selber lachen mußt. Wahr ist es allerdings, daß allzu große Zuversichtlichkeit verwegen macht; aber, wenn Verwegenheit uns oft in Gefahr stürzt, so hilft sie uns noch öfter aus Gefahren heraus. Der Muthige trotzt der Gefahr und entgeht ihr; der Feige verliert mit der Kraft des Widerstehens zugleich die Kraft zu fliehen, und gegen Einen, der durch zu viel Muth umkommt, gehen zwanzig Furchtsame zu Grunde. Indessen weil auch dem Muthigen Vorsicht geziemt, laß uns annehmen, dein Traum sey das Werk eines warnenden Dämons: wovor warnt er die Träumerin? Vor einem verkappten Amor, der seiner Psyche die goldnen Schwingfedern ausrupft, um lachend mit seinem Raube davon zu fliegen. Wohl! du hättest also keine Entschuldigung gegen dich selbst, wenn dir jemals so etwas begegnete; du bist gewarnt!

Zwar, wofern die Liebe eine so gewaltsame und unbezwingbare Leidenschaft wäre, wie Xenophons Cyrus behauptet, was sollte die Warnung? Es hieße, dem Unglücklichen, der von der Gewalt des Stroms in eine Untiefe hinabgezogen wird, zurufen: nimm dich vor dem Strudel in Acht! Aber zum guten Glücke bestürmt uns der furchtbare Tyrann der Götter und der Menschen Eros nicht sogleich mit seiner ganzen Jünglingsstärke: er ist erst liebkosendes Kind und spielender Knabe; und so lange er dieß ist, gibt es ein Mittel ihm zu entgehen. Es ist eben nicht das ehrenvollste; aber es ist sicher, unfehlbar, und überdieß wie Xenophons Cyrus sagt,[359] das einzige. Also, liebe Laiska, sobald dir ein Adonis vor die Augen kommt, von dem du dich, wie in deinem Traume, mit einem nie zuvor gekannten Zauber angezogen fühlst, so schließe die Augen, und eile, eile was du kannst – zu deinen Freunden nach Cyrene. Vermöchten wir gleich nicht, dir alles zu ersetzen, was du zu Korinth und Aegina zurücklassen würdest, so könntest du doch schwerlich den allmählich herannahenden Abend deines schönen und glücklichen Lebens in besserer Gesellschaft zubringen, als in dem häuslichen Cirkel deiner Freunde Kleonidas und Aristipp, wo du deine Musarion, von kleinen ungefährlichen Amorinen umgeben, wieder finden, und dir aus der Schwester unsers Kleonidas eine neue Freundin machen würdest. Dein Herz wird dir bei ihrem ersten Anblick sagen, sie sey werth es zu seyn, und daß sie sich beeifert deinen Aristipp glücklich zu machen, wird ein Verdienst mehr in deinen Augen seyn. Ich gestehe dir, Laiska, ich bin in diesen meinen Traum verliebt, und wenn der deinige eine so schöne Frucht hervorbrächte, würde ich glauben, daß er dir unmittelbar von der holden Grazie Pasithea selber zugeschickt worden sey.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 356-360.
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