Nutzen

[439] Nutzen – Aus der Unklarheit des Sprachgebrauchs ist fast zu vermuten, der Begriff Nutzen werde nicht so unphilosophisch sein, wie er aussieht. Am Ende wird die neue Disziplin der Axiologie gut daran tun, die Begriffe Wert und Nutzen gegeneinander abzugrenzen, oder zuzugeben, daß die Begriffe zusammenfallen, sobald man den Sinn von Nutzen über den gemeinen Nutzen hinaus erweitert und bei Wert zwischen dem Werturteil und der Ursache der Bewertung unterscheidet. In der Ästhetik trennt man schon lange die schönen, reinen Künste von den nützlichen oder angewandten Künsten und dem Kunsthandwerk; auch die reinen Wissenschaften werden, sobald sie nützlich werden, zu angewandten Wissenschaften. In der Biologie spricht man neuerdings gern von dem Nutzen der Organe, der Instinkte; ja sogar von der biologischen Nützlichkeit des Irrtums spricht man. Und vollends in der Moral gibt es eine Schule, die sich selbst die des Utilitarismus nennt: die Paten des Wortes, Bentham und Mill, erheben den Utilitarismus über den der allgemeinen Verachtung preisgegebenen Egoismus, indem sie den möglichst großen Nutzen für die Allgemeinheit als Forderung aufstellen; wobei denn der konkrete Staat und die abstrakte Moral recht gut bestehen mögen. Man hat auch den Ausdruck Universalistic Hedonism erfunden, um diese Lehre von dem gleichfalls verächtlichen alten Hedonismus zu sondern. Der Erfinder des Wortes Utilitarismus (engl. noch schwerfälliger: Utilitarianism) war aber weder Bentham noch Mill, sondern John[439] Galt, ein schottischer Novellist, Verfasser der Novelle »Annals of the Parish«. Der Glaube aber, daß das Nützliche taugt, Tugend ist, dürfte bei unphilosophischen Menschen so alt gewesen sein wie die Welt; ist bei Denkern älter als das englische Wort. Helvetius (De l'esprit II. 6) führt den Gedanken durch: »Un homme est juste, lorsque toutes ses actions tendent au bien public... En fait de probité, c'est uniquement l'intérêt public qu'il faut consulter et croire... L'utilité publique est le principe de toutes les vertus humaines, et le fondement de toutes les législations... Un homme sort du lit d'une femme, il en rencontre le mari: D'où venez-vous? lui dit celui-ci. Que lui répondre? lui doit-on alors la vérité? Non, dit Mr. de Fontenelle, parce qu'alors la vérité n'est utile à personne. Or, la vérité elle-même est soumise au principe de l'utilité publique.« Vorher und noch schärfer Spinoza, darin wie auch sonst ein Schüler von Hobbes (Eth. IV, prop. 20): »Quo magis unusquisque suum utile quaerere, hoc est suum esse conservare, conatur et potest, eo magis virtute praeditus est.« Und schon vor zweitausend Jahren stellte der Stoiker Panaitios die Behauptung auf: Nihil utile, quod non honestum, nihil honestum, quod non utile. Nullam pestem majorem in vitam hominum invasisse, quam eorum opinionem, qui ista distraxerint. (Nach Cicero, De off. III, 7.)

Was ist das nun, dem nachzugeben und nachzujagen das gemeine Los der Menschheit ist, und das von ungemeinen Menschen neben die höchsten Begriffe der Sprache gesetzt wird? Wie kann man den Nutzen definieren? Ich finde nur eine befriedigende Definition, und sie wird wohl nur wegen ihrer eingestandenen Tautologie befriedigen. Sie stammt von Geulincx: Utile est medium boni; Nutzen ist das Mittel eines guten Zwecks. Da nun aber die Menschen, seitdem sie sprechen können, immer gut genannt haben, was ihnen (im weitesten Umfang) nützlich schien, so besagt die Definition wirklich nicht viel mehr als die kleine Weisheit: »Nützlich ist das Mittel zu etwas Nützlichem.« Was sich auch auf den allgemeinen logischen Satz zurückführen ließe: »Nota notae est etiam nota rei.« Ich fürchte, daß diese Tautologie aus der Definition nicht so leicht[440] wird entfernt werden können, daß also der philosophische Sprachgebrauch sich niemals völlig wird von der Unklarheit der Gemeinsprache entfernen können.

Das Schwanken des Begriffs zwischen hoher und niederer Bewertung mag einige groteske Sprünge des Bedeutungswandels erklären, den das Grundwort von utilis erlitten hat (eigentlich utibilis, was brauchbar ist). Usus, der Gebrauch, wird so hoch geschätzt, daß Sitte und Recht auf ihn zurückgehen, und daß die seltenen Fälle eines schädlichen Brauches (eine contradictio in adjecto) durch Lehnübersetzungen von abusus (mésus. Mißbrauch) an den Pranger gestellt wurden; aber usé, abgenutzt, läßt sich doch von verbrauchten Dingen auch auf Sitten, Gesetze, ja auch auf Bräuche übertragen, so daß man das Oxymoron des usages usés bilden könnte. (Vgl. Art. Utilitarier.)

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 439-441.
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