Selbstbeherrschung

[179] Selbstbeherrschung – Die Tugend der Tugenden. »Sie ist die Grundbedingung aller moralischen Tüchtigkeit, im besondern die allgemeine Grundform der individualistischen Tugenden« (Paulsen, Ethik2 S. 397). Dann aber ist für Paulsen dieselbe Selbstbeherrschung auch wieder eine Pflicht (und Pflicht ist doch noch nicht Tugend) und endlich eine Kunst: »Die große Lebenskunst, dem Morgen das Heute zu opfern.«

Über das, was hinter all diesen Moralpredigten steckt, dürfte es einen Streit kaum geben. Mäßigkeit ist rätlich. Unvernunft ist unvernünftig.

Darauf läuft es nämlich hinaus, daß der Mensch sich durch seine Vernunft vom Tiere unterscheide und darum nach Gottes Willen oder um Gottes willen die Vernunft über die tierischen Triebe herrschen lassen müsse. Nur daß die unvernünftigen Tiere nicht unmäßig sind.

Darauf läuft es hinaus, herauszubekommen, welche von den Seelen des Menschen der Mensch selbst sei: die vernünftige Seele, die begehrende Seele oder gar die vegetative Seele. Nach der Bildung des Wortes Selbstbeherrschung (sein selbes Beherrschung, selbst ist ein erstarrter Genitiv mit einem unorganisch hinzugefügten t) scheint es aber fast, als ob der Wortschöpfer das Wesen des Menschen, sein eigentliches Ich oder Selbst in den tierischen Trieben gesehen hätte, welche von der Vernunft, wieder dem eigentlichen Selbst, zu beherrschen wären. Wonach also der Mensch mindestens zwei Selbste hätte.

Diese unselige Zerspaltung der einen Welt in zwei Welten, der wir immer begegnen, ist an den psychologischen Begriffen, deren Bezeichnung mit selbst anfängt, besonders auffallend. Auch die realen Handlungsbegriffe, wie Selbstmord, zeigen etwas von Zwiespältigkeit; ich töte mich selbst; die Handlung wäre gar nicht möglich, wenn nicht zwischen dem Mittel (Sprung ins Wasser, Trinken des Gifts, Abdrücken der Pistole) und dem Zweck eine Zeitdifferenz wäre; aber bei der Handlung des Selbstmordes fehlt dem zweiten Selbst die Vorstellung, daß es das eigentliche, das wesentliche Selbst sei; nur im kirchlichen Sinne könnte man etwa sagen: der Selbstmörder vernichtet sein Selbst.[179]

Reden wir aber von Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung u. dergl., so zerspalten wir die eine und unteilbare Seele in zwei Seelen, in ein Subjekt und ein Objekt, und es hängt völlig von unserer Betrachtungsweise ab, welche von den beiden Seelen subjektiv und welche objektiv ausfallen soll.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 179-180.
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