XII.

1843.

Norden und Süden.

(Koncert-Reisen 1839/40–1847.)

Liszt in Berlin (II.) Lauheit der Berliner Koncerte. Eine verlorene Fantasie. »Ungar. Sturm-Marsch« mit Triangel und Cimbal. Übertragung der »Ouvertüren Weber's« »Gaudeamus igitur«-Paraphrase. Durch Polen. Warschau. Ein Chopin-Kultus und seine Folgen. Kaiserl. russische Ungnade. Koncerte in Petersburg. Eine Improvisation. Liszt-Fest bei Glinka. Moskau. Zigeunerstudien. Koncerte. Kritik. Mme. Sòlnzewa. Kompositorische Arbeiten. Operngerüchte. Nonnenwerth. Herbst-Koncerte: München; Ludwig I. Kaulbach; Bayern-Würtemberg; Baden; Hechingen.


Der Anfang des Jahres 1843 sah Franz Liszt wieder in Berlin, diesmal in Begleitung Rubini's, der im königl. Opernhause Gastvorstellungen gab. Der Weg beider führte nach St. Petersburg, der Liszt's von da nach Moskau.

Der Aufenthalt in Berlin war keine Fortsetzung der vorjährigen glanzvollen Wochen. Die Lauge des Spottes, mit welcher inzwischen der Liszt-Enthusias mus der Berliner von allen Seiten begossen worden war, hatte gewirkt. Blieb auch die Künstlerschaft des Virtuosen unberührt und sein Empfang im Koncertsaal ein stürmischer, so war doch dem großen Publikum und der Kritik die Furcht vor einem zweiten Guß abzufühlen – die Begeisterung schuf sich nicht wieder ihre eigenen, innerhalb und außerhalb des Koncerthauses jeden Schritt des Künstlers umgebenden Formen: sie bewegte sich im Kreise des Herkömmlichen. Die Kritik war reservirt, Rellstab zog die Schultern hoch und verschnörkelte seine Bewunderung mit wunderlichen Arabesken,1 die er auf Timpani coperti mit befilzten Schlägeln auszuführen[200] schien, damit ja das vielleicht schlummernde Kind – der Witz an der Spree – nicht erwache. Und es schlief wirklich fest: es bekundete sich in nichts der Witz, weder im Lachen noch im Ernst. Möglich, daß sich dahinter eine innere Beschämung dem Manne gegenüber, dem man nicht Wort gehalten hatte, verbarg.

Liszt selbst besaß zu sehr den großen Blick des Weltmannes, um nicht im Voraus zu wissen, daß sein Empfang nicht dem Abschiedsgeleite des vorigen Jahres entsprechen werde, und daß nach allgemeinen Erfahrungen bei der Masse ein Niederschlag, wenn nicht ein Verleugnen des Enthusiasmus folgen würde. Allein einige Ehrenpflichten in Berlin, denen er sich um keinen Preis entzogen hätte, führten ihn dennoch dahin, zu groß und zu stolz, um jenem beleidigenden Umschlag der Stimmung, der sich den Ausnahmserscheinungen gegenüber abspielt, seit die Welt steht, Rechnung zu tragen.

Die Aufnahme des Künstlers seitens des Hofes hatte selbstverständlich durch den Gegenschlag der Presse keine Änderung erleiden können. Ächt Königliches bleibt sich selbst treu. König Friedrich Wilhelm IV., der Prinz von Preußen und seine hohe Gemahlin empfingen ihn auf das auszeichnendste. Er spielte mehrmals am Hof, auch im intimsten Cirkel. Als der König Liszt's neuen ungarischen Marsch, den »Sturm-Marsch«, hörte, befahl er sogleich, daß er in die Sammlung preußischer Armee-Märsche aufgenommen werden solle. – Eine schön gearbeitete silberne Vase mit goldenem Medaillon drückte ihm ebenfalls die Gunst des Hofes aus; auch ward ihm die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft zu Theil.

Die Spuren jedoch, welche bei ihm der Berliner Rückzug hinterließ, lassen sich sowohl nachfühlen als auch deutlich erkennen. Er sah das Nutzlose eines Kampfes mit den Massen und mit der kurzsichtigen neidischen Mittelmäßigkeit. Um seine Ideale zu verwirklichen, brauchte es noch andere Umwälzungen im Völkerleben und im allgemeinen Bewußtsein, als das Zeugnis der Einzelnen, deren Sonnenstand auf die Zukunft hindeutete. Diese Zeit mußte kommen. Er aber ward allmählich zu einem Müden, der stolz und stoisch das ihm auferlegte Joch auf seinen Schultern trug: das Joch, das ihn an das Podium zu heften schien. Der Überdruß an seiner klavierspielerischen »Glanz-Periode«, wie er später dieselbe ironisirte,2 gewann mehr an Macht über ihn. Und selbst Episoden,[201] wie die jetzt folgenden in Polen, in Rußland, wo sich seine Individualität sympathisch angezogen fühlte, waren aus den Situationen gewobene, poetische Schleier, die einen wunden Geist verhüllten.

Vom 6. Januar bis 16. Februar – während welcher Zeit der Künstler noch in anderen Städten koncertirte – ließ er sich nur einige Male in Berlin öffentlich hören: am 8. Januar im Saale der Sing-Akademie,3 am 11. Januar im Koncertsaal des kgl. Schauspielhauses,4 am 15. Januar im Saale der Sing-Akademie in einem Koncert Theodor Döhler's,5 am 18. Januar in einem Unterstützungskoncert für hülfsbedürftige Opernhausmitglieder, bei dem er mitwirkte, und endlich am 16. Februar im Saale des kgl. Schauspielhauses, wo er als Ehrendirektor der Akademie für Männergesang ein großes Vokal- und Instrumental-Koncert dieses Vereins sowohl leitete als auch als Virtuos bei demselben mitwirkte.

Dieses letztere nebst dem von Rubini und Liszt gemeinschaftlich gegebenen Koncert brachte wieder kompositorische Novitäten. Das Programm vom 11. Januar nennt eine:


Fantasie über Motive aus »Figaro's Hochzeit«


und das Koncert der »Akademie« etc. am 18. Februar außer den bereits erwähnten Ungar. National-Melodien (aus dem 3. und 4. Heft), den:


[202] Ungarischen Sturm-Marsch6

(Seconde Marche Hongroise).


Er gehört, wie Liszt's Ráckóczy-Marsch, zu jenen elektrisirenden Gebilden, denen, Heldenrossen gleich, das Schlachtenherz in allen Gliedern zittert und Feuer aus den Nüstern dampft. Damals erschienen zwei Ausgaben: für Klavier und für Orchester, letztere nur in Stimmen. Außer den gebräuchlichen Orchester-Instrumenten waren auch – was die Kritik nicht unterließ naserümpfend zu bemerken – der Triangel und dem Cimbal Raum gegeben, zwei Instrumenten, von denen namentlich letzteres als ungarisch-national bei einem ungarischen Sturm-Marsch sicherlich nicht fehlen durfte, ohne Kolorit und Charakter eines solchen zu verfehlen. Zum ersten Mal aber dürfte es geschehen sein, daß dieses Instrument dem großen Orchester in seiner symphonischen Behandlung eingereiht worden ist. Liszt hat dem Orchester wie dem Klavier, dort in natura, hier in Imitation, den Cimbal thatsächlich einverleibt; von der ungarischen Musik ist er untrennbar. Seine Notation im Sturm-Marsch:


12. Norden und Süden. 1843.

ist gleichsam ein Urbild von dessen Charakter und Eigenart, dem wir in den hierherbezüglichen Klavierstücken vielfach, um nicht zu sagen: typisch begegnen. – Im Jahr 1876 bearbeitete der Komponist den Marsch nochmals symphonisch (dem Grafen Alexander Teleki gewidmet). Nebst der Partitur erschien gleichzeitig die Übertragung dieser Neugestaltung für Klavier zu zwei und zu vier Händen.

Über der Figaro-Fantasie waltete ein Unstern. Von ihr scheint nichts weiter übrig geblieben zu sein als ihre Nennung auf zwei Programmen7 und in einigen Koncertreferaten. Die »Allgem. Musik. Zeitung«8 erwähnt ihrer mit den Worten, daß die[203] technischen »Schwierigkeiten einander überboten und seine (Liszt's) immense Kraft beinahe erschöpften.« Rellstab berichtet über sie:9


An neuen Stücken gab uns der Virtuos zuvörderst eine Fantasie über Themen aus dem »Figaro«, deren erster melodischer Theil, eine Paraphrase der Arie:»Voi che sapete«, die Wissenschaft reizender Grazie im Spiel erschöpfte; der zweite dagegen, das Allegro, dem hauptsächlich die Arie: »Non più andrai« zum Grunde lag, kann eine Art Trost für die Klavierspieler dieser Welt sein, nämlich der, daß auch Liszt besiegbar ist, wenn er sich mit seiner eigenen Übermacht angreift. Die ungeheuren Schwierigkeiten, die er auf die Atlasschultern seiner Fertigkeit gehäuft, drückten diese doch auch einmal; er wird sie als ein Milon von Croton noch einige Zeit zu tragen haben, bis er so zauberhaft leicht damit entfliegt, wie mit den rollenden und reizenden Passagen des Hummel'schen Septuors. Sie müssen erst noch völlig reif in seinen Händen werden. –


Nach des Meisters Aussage ist diese Fantasie »nur skizzirt geblieben und verloren gegangen.«

In dem Koncert am 16. Februar dirigirte Liszt die »Coriolan-« und die »Oberon-Ouvertüre«, welche unter seiner Leitung »höchst effectuirend«10 ausgeführt wurden. Ferner kamen seine Männergesänge – »Das deutsche Vaterland«, das »Rattenlied« und »Reiterlied« zum Vortrag. Das »Rattenlied« trug den Sieg davon und riß zu stürmischem Beifall hin. Als Klaviervirtuos betheiligte er sich an dem Koncert mit Mendelssohn's D moll-Koncert und seiner Don Juan-Fantasie.

Dies war das letzte, was öffentlich in Berlin von ihm gehört wurde. Als Virtuos trat er hier nicht wieder auf.

Die so eben erwähnte Direktion der Oberon-Ouvertüre scheint die Anregung zu ihrer Übertragung für Klavier gegeben zu haben, der wir bald darauf zum ersten Mal im Koncertsaal (Petersburg 1843) begegnen. Ihre Edition erfolgte später in der Sammlung:


Ouvertüren (Weber).11

Freischütz. Oberon.12 Jubel-Ouvertüre.

Klavier-Partitur.[204]


Obwohl wenig gekannt, verdienten doch alle diese drei Klavier-Partituren im Repertoire unserer Virtuosen aufgenommen zu werden. –

Von Berlin wandte sich der Künstler nach Breslau, gab hier (im Januar und Februar) acht Koncerte, wirkte in mehreren andern mit, trat als Dirigent im Theater mit der »Zauberflöte« auf (am 1. Februar) und nahm sich insbesondere mit großer Liebe des Akademischen Musikvereins, der ihn zu seinem Ehren-Direktor erwählt hatte, an. Diesen Tagen gehört seine Koncert-Paraphrase (die nicht mit der Humoreske zu verwechseln ist) an:


1843: Gaudeamus igitur,

Koncert-Paraphrase.13


Befremdender Weise trägt diese Paraphrase keine jener genialen Eigenthümlichkeiten der Bearbeitung an sich, welche die meisten der Gelegenheitsstücke Liszt's auszeichnen. Sie ist ganz und gar gewöhnlicher starkchöriger Kommersgesang, der wie zufällig von dem gefeierten Namen beglaubigt erscheint.

Eine kleine Rundreise durch die schlesischen Städte Brieg, Liegnitz, Glogau, Neisse (im März) unternahm er von Breslau aus und kehrte hierauf von da auf eine Einladung des Prinzen v. Preußen nach Berlin zurück, um in einem Hofkoncert im Palais des Prinzen, zu dem auch die Schröder-Devrient aus Dresden berufen war, mitzuwirken. Desgleichen spielte er in Potsdam und Fürstenwalde. Darauf setzte er seine Reise nach dem Norden über Posen, Warschau, Krakau und andere Städte wieder fort.

Im Vaterlande Chopin's, in den polnischen Städten, vor allem in Warschau – es war im April – loderten die Flammen des Enthusiasmus hell auf. Sie schillerten in den Farben jener romantischen Erregung, die im Herzen des polnischen Adels nie aufgehört hat ihr Anrecht an eine edle Vergangenheit in Forderungen an die Gegenwart und Zukunft umzusetzen. Gerade in jenen Jahren fand Polonia die edelste Verklärung ihres Wesens, ihrer Geschichte, ihrer Trauer und Aspirationen durch Chopin und Mickiewicz, die in der Seinestadt nicht ermatteten in Klängen und Gedichten die Verherrlichung des Vaterlandes immer höher zu tragen[205] und höher zu stimmen. Niemand als sie hatte die Schatten seines Einst zur Auferstehung in der Kunst heraufbeschworen und ihm die Kraft und Schönheit des Unvergänglichen eingebildet. Aber auch noch von keinem Künstler war den Polen ihr eigenes, von Chopin's Tonmuse poetisirtes Selbst in so glühender Beredtsamkeit vor die Seele gezaubert worden wie von Liszt, dem das Geheimnis dieser Muse von allem Anfang an gleichsam inkarnirt gewesen und in diesem Augenblick, wo er die Atmosphäre ihrer eigentlichen Heimath trank, in den Kreis realen seins zu rücken schien. Chopin ward ihm zu Polen, Polen zu Chopin.

Schwerlich haben dessen Kompositionen jemals wieder einen solchen nationalen Erfolg erlebt, wie damals in Warschau. Der polnische Adel strömte dahin. Greise jubelten auf bei den Polonaisen und Mazurken, die ihnen die Pracht und den Glanz einer begrabenen Herrlichkeit zurückriefen, deren letzte Strahlen ihre Jugendzeit beleuchtet hatten, um, eine versunkene Welt, im Mannesalter der Glühpunkt ihrer Wünsche und ihres Strebens zu werden; und die Anderen, die noch mitten im Leben Stehenden, Männer und Frauen, das Polenthum halb Grab halb Hoffnung im Herzen – sie gaben dem Traum sich hin, den der Dolmetscher ihrer Ideale am Klavier aus ihrer eigensten Seele heraushob. Man muß Liszt's Buch über Chopin gelesen haben, um begreifen zu können, welche Fülle polnischen Lebens, welche reizende Phantasmagorien sich mit den Tongebilden dieses Dichters verwoben. Ein poetischer Rausch umspann Künstler und Hörer innerhalb und außerhalb des Koncertsaales. Warschau glich in diesem Moment einer farbenschillernden Poeteninsel, deren Luft aus Elegien und Aspirationen bestand und in deren Hintergrund und Schatten – das Auge des russischen Hasses und der Spionage auf die Gesellschaft gerichtet, sein dunkles Handwerk trieb.

Es gehörte schon ein böser Sinn dazu, diesen musikalischen Kultus, der sich mit der Feier einer so fascinirenden Künstlererscheinung verband, die noch dazu seit ihren Jünglingsjahren viele Freunde in den polnischen Adelskreisen (die Gräfl. Familie Plater, Potocka u.a., jetzt insbesondere den Grafen Léon Lubincki) besaß, zu politischen Hetzereien und Denunciationen zu gebrauchen, die endlich ihr Ziel trafen, als der Künstler nach einem glänzenden Souper vor dem Flügel sitzend seinen Freunden musikalisch zugerufen:


[206] Jeszcze Polska nie zginela!

(Noch ist Polen nicht verloren!)


und sie in hinreißender Improvisation in das lauteste Entzücken versetzt hatte.

Die Nacht war vielleicht noch nicht verflossen, als auch schon ein aufhetzender und inkorrekter Bericht aus dem Büreau des damaligen Polizeipräsidenten Abramovich auf dem Weg nach St. Petersburg war. Diese Denunciation hatte schon manchen Vorläufer gehabt, ohne daß Kaiser Nikolaus I. Notiz von ihnen genommen. Jetzt aber hielt seine freundliche Gesinnung für den Künstler seinem Polenhaß nicht mehr Stand: er fiel in Ungnade.

Es mochten inzwischen auch andere, jenen Berichten entgegengesetzte Nachrichten in die dortigen Hofkreise gedrungen sein aus der Feder der Mme. Marie Kalergis (geb. Gräfin Nesselrode), späteren Mme. Moukhanoff, einer unter diesem Namen als Wagner-Propagandistin in Künstlerkreisen bekannten und geschätzten Dame. Liszt begegnete – um mit seinen eigenen Worten zu reden – dieser »merkwürdigen und hoch liebenswürdigen Frau« in Warschau zum ersten Mal und blieb von da in freundschaftlicher Beziehung zu ihr. Eine musikalisch fein angelegte Natur, in jenem Jahrzehent der Muse Chopin's, wie später der Richard Wagner's ergeben, stimmte sie trotz enger Beziehungen zu dem russischen Hof in die Begeisterung der Polen mit ein. Ob ihre Briefe nach Petersburg Einfluß hatten, ob der Kaiser gegenüber einer von ganz Europa gefeierten Persönlichkeit seinen Polenhaß unbeschränkt walten zu lassen für unweise hielt, läßt sich annehmen aber nicht behaupten. Genug – als der Künstler nach Petersburg kam, bestand die »kaiserliche Ungnade« nicht, wie allgemein verbreitet wurde, in polizeilicher Bewachung und Landesverweisung; nur der »kleine Belagerungszustand« war über ihn verhängt. Während Kaiser Nikolaus I. keines seiner Koncerte besuchte und zu keinem Hofkoncert ihn einlud, bewahrte ihm Alexandra Feodorowna ihre Gunst, besuchte seine Koncerte und zeichnete ihn durch Einladungen in ihre Privatgemächer aus, wo er im intimsten Cercle des Hofes vorspielte, was ebenfalls bei der Großfürstin Michaïl (Helene Paulowna) der Fall war.

Der Hof theilte sich stillschweigend in zwei Lager: das militärische,[207] das mit dem Kaiser den Künstler ignorirte, und das musikalische, an dessen Spitze die Kaiserin stand, welches dem Künstler zuströmte und ihn feierte. »Sie haben wohl nie in einer Schlacht gestanden?« fragte hochmüthig ein mit Orden behängter General den Virtuosen. »Nein« entgegnete dieser ebenfalls mit Orden Geschmückte – »und Excellenz haben nie Klavier gespielt!« Trotz der Ungnade soll der Kaiser, als er von diesem Zwiegespräch hörte, beifällig gelächelt haben.

Die kaiserliche Ungnade schien den Koncerten des Künstlers einen verstärkten Impuls, seiner Person einen neuen Nimbus gegeben zu haben. Eintrittsbillete mußten bei Zeiten und unter großen Schwierigkeiten errungen werden. Er gab gegen sechs Koncerte, deren Programm wieder Meisterwerke älteren und jüngeren Datums vertraten. Den Chopin-Kultus trug er dabei von Warschau nach Petersburg herüber. Jetzt in der russischen Hauptstadt spielte er sich, aber in größeren Dimensionen, von neuem ab. Diesmal waren anstatt der Polen Russen das Auditorium, das den Nocturnes, Valses, Mazurken, Polonaisen, Etüden, Impromptus und Balladen, dem I. Koncert (E moll) keine geringere Begeisterung entgegentrug, als die Landesbrüder des Komponisten in dessen Heimathland. Fürwahr eine bessere Entkräftigung der »politischen Aufwiegelungen« seitens des Künstlers wäre kaum möglich gewesen, aber auch kein glänzenderer Beweis von der Wahrheit seines Ausspruchs: daß die Kunst auf neutralem Boden stehe, ein geistiges Bruderband für Alle sei, daß für sie die Lösung aller Meinungen in dem Gefühl für die Menschheit liege.14

Als Improvisator trat er in seinem fünften Koncert auf. Die Feinheit und Kühnheit seines Geistes schien als Freier und Weltmann eine Karte an den zürnenden Großen abzugeben. Er improvisirte über Themen aus der russischen Oper: »Das Leben für den Czar!« von dem russischen Komponisten Glinka. Der Beifall war ein grenzenloser. Künstler und Kritiker erklärten niemals eine »Meisterfantasie« wie diese gehört zu haben. Der Künstler hatte sich aber nicht genug gethan. Die Anforderungen, die er an sich selbst stellte, gingen höher und seine Selbstkritik konnte kein Zujauchzen beirren, wie aus einem kleinen Nachspiel in seiner Wohnung hervorgeht. Begleitet von Adolf Henselt und dem[208] schon genannten Yourij v. Arnold war er auf dem Heimwege karg im Reden. Zu Hause angekommen warf er seine Umhüllung dem Kammerdiener zu, riß den Frack vom Leibe und rannte aufgeregt im Zimmer hin und her, immer wieder heftig auf deutsch – in Henselt's Gegenwart bediente er sich dieser Sprache – die Worte ausstoßend: »Wie ein Sch ... habe ich fantasirt! – doch kann ich's besser, hundert mal besser! – Ich kann's! ich kann's!« Die beiden Freunde hatten die größte Mühe ihn zu beruhigen.

Der jetzige Zielpunkt seiner russischen Reise war Moskau und in Folge dessen Liszt's Aufenthalt in Petersburg ein kürzerer als vorigen Jahrs. Trotz der etwas schwülen Luft war aber die Feier seiner Person eine alles überbietende. Ein Hauskoncert der vornehmen Familien ohne seine Mitwirkung wäre während dieser Zeit undenkbar gewesen. Bei solchen war er stets Künstler und Kavalier, wobei es vorkommen konnte, daß der letztere den ersteren vergaß. So trug es sich zu, daß in der letzten Woche der großen Fasten beim Grafen Michaïl Yourjewitsch Wielhorsky eine musikalische Matinée veranstaltet war, welcher beizuwohnen unter anderen auch die Großfürstin Helena Pawlowna (Gemahlin des Großfürsten Michaïl) und Maria Nikolajewna (Herzogin v. Leuchtenberg) gewünscht hatten. Als Solisten hatten Liszt (Beethoven'sEs dur-Koncert mit Orchester), der General und Komponist Alexis Lwow (Spohr's dramatische Gesangsscene für Violine) und eine Sängerin ihre Mitwirkung zugesagt. – Um 1 Uhr kamen die kaiserl. Prinzessinnen an. Die Gäste der haute-volée waren schon vorher versammelt, unter denselben die junge Fürstin Menschikowa (geborene Prinzeß Gagarina, Schwiegertochter des späteren Marineministers und Vertheidigers von Sebastopol); auch die Mitwirkenden harrten ihrer Aufgabe, das Orchester, an seiner Spitze Louis Maurer, stand in Parade. Die Ouvertüre zur Zauberflöte beginnt und endet. Nr. 2 des Programms war das Beethoven-Koncert – aber Liszt war plötzlich verschwunden. Statt dessen wird Nr. 4 (Spohr: Lwow) vorgetragen. Abermals eine Stockung – Liszt immer noch unsichtbar. Nr. 3 (Gesang) tritt ein. Eine dritte unvorhergesehene Pause. – Auf Bitte Graf Wielhorsky's executirt Lwow seine Komposition»Le duel«. Unterdessen befindet sich der Wirth des Hauses wie auf Kohlen. Endlich, kurz vor dem Ende des Violinsolos, erblickt er den soeben mit der[209] genannten Fürstin in einen Nebensalon eintretenden Künstler und fährt auf ihn zu: »Grand Dieu, Mr. Liszt! Que vous est-il donc arrivé? Les Grand'duchesses sont très choquées!«

»Mille grâces, Mr. le Comte! peccavi! peccavi! mais n'avait-il donc quelque possibilité15 de résister à la trop aimable invitation de Mme. la Princesse, de faire avec elle une petite tournée printanière dans sa voiture!« –

Hierauf ließ er sich von dem Grafen an den Flügel führen und begann das Koncert zu spielen. Die Großfürstinnen und die vornehme Gesellschaft saßen anfangs wie gefroren da. Doch nicht lange. Liszt's Zauberspiel brach des Eises Macht, die Glut seines Vortrags schmolz alles, was Kälte zeigen wollte, – und nicht nur Vergebung für das crimen laesae majestatis, sondern Enthusiasmus ward sein Lohn! Als Zugabe erklang der Erlkönig.16

Hauskoncerte und Festmahle jagten einander. Die Grafen Wielhorsky, v. Benkendorf, Scheremetjew, Woronzow-Daschkow, die Fürsten W.T. Odojewsky, Yousoukow, Oberstallmeister Youschkow u.A. gaben ihm glanzvolle Feste. Am originellsten jedoch feierte ihn der Komponist Glinka. Eine stattliche Anzahl von Künstlern – Musiker, Dichter, Maler – und Kunstfreunden war geladen, zusammen über vierzig Personen; von Komponisten: Dargomysky, Graf Wielhorsky, Fürst Odojewsky, v. Arnold, C. Vollweiler, von Sängern: Rubini und Petrow, der Maler Brülow, der Dichter Kukolnik u.A. Der Saal war längs der Wände mit Tannenbäumen geschmückt, dazwischen bunte Shawls als Zeltdekoration. In der Mitte stand ein Gestell aus drei Stangen, oben verbunden; von diesem Verbande herab hing an einer eisernen Kette eine kupferne große Kasserole ohne Stiel.17 Rund umher waren Teppiche gebreitet. Mit einem Wort: die Gesellschaft sollte ein Zigeunerbivouak bilden und lagerte sich nach Beendigung der Musikvorträge und nach vorausgegangenem Souper in heiterster Stimmung zigeunerartig ohne Überröcke, in Hemdärmeln, mit nur lose um[210] den Hals geschlungenen Tüchern auf den Teppichen, und der Poet Kukolnik, unterstützt von seinem Bruder Platon, braute in der Kasserole den berühmten Crambambuli aus Jamaikarum und Champagner mit rothem Chablis. Der brennende Rum beleuchtete die fröhliche Gruppe und warf phantastische Lichter auf die Baumwände des Zeltes. Russische Chorlieder, theils Volksgesänge, theils Kompositionen von Glinka und Dargomysky, tönten dazu.

Dieses Fest wurde gewissermaßen zu einem Vorabend anderer Festlichkeiten in Moskau, bei denen ächte Zigeunerhorden, eigentlich die Zigeunersängerinnen, die in Folge ihrer Schönheit bei der jeunesse dorée eine große und zugleich traurige Rolle spielten, mitwirkten. Die vornehme männliche Jugend hatte ihn in ihre Kreise, auch in ihre wilden Vergnügungen mit hineingezogen. Hier machte Liszt seine Erfahrungen über die Zigeunerinnen Moskaus, die er in seinem Buche »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn«18 mit so hinreißenden Farben schildert und mit dem Glanz, um nicht zu sagen mit dem Adel der Poesie umgiebt. Allein nicht nur hier, von üppigstem Luxus und orientalischer Pracht umgeben, beobachtete er Zigeunertruppen. Er suchte sie auch außerdem auf, um ihre Musik zu hören und deren Geheimnis zu erlauschen. Eines Abends, hingegeben an ihre Chorlieder, vergaß er ganz gegen seine Gewohnheit des Momentes, der ihn selbst vor ein Auditorium, das seiner im Koncertsaal harrte, führen sollte. Dasselbe ward unruhiger von Viertelstunde zu Viertelstunde. Nun kam er. In diesem Augenblick wich Unruhe und Ungeduld dem lautesten Begrüßungsjubel. Der Künstler jedoch schien ihn gar nicht zu bemerken; wie geistesabwesend nahm er vor dem Flügel Platz und zum Staunen seiner Zuhörer erklangen anstatt der auf dem Programm stehenden Komposition Zigeunerweisen, die er fascinirend und berauschend in freier Fantasie zu einem Ganzen wob. Man athmete hoch auf, als er geendet – man wußte nun auch, wo er gewesen, und dankte dem Zufall, der den Zuhörern so unbeschreibliches gebracht hatte.

Liszt's Moskauer Koncerte fanden am 25., 27. und 29. April und am 2., 9. und 12. Mai statt. Seine künstlerische Weltstellung erkennend und, wie es scheint, hindeutend auf die[211] ihm widerfahrenen politischen Verketzerungen schrieb ein dortiger Referent:


»Auch wir begreifen jetzt den Enthusiasmus, mit dem Liszt als Künstler und als Mensch im schönsten Verein die ganze Welt bezaubert. Ein echtes Kind seiner Zeit, mußten die Bewegungen derselben, die tausend Stimmen der Freiheit und der Humanität in seinem für das Schöne und Gute empfänglichen Herzen auch tausendfältig widerhallen in freien, fessellosen Akkorden.«19


Der besonderen Erwähnung dürfte ein Kirchenkoncert, das am 4. Mai in der Evangel. Kirche von St. Peter und St. Paul stattfand, hier verlangen. In ihm trat Liszt – vielleicht das einzige Mal – als Orgelspieler mit dem Andante der C moll-Symphonie, dem Andante con var. der Sonateopus 26 von Beethoven und mit einer Fuge von Händel auf. – Das Koncert war zum Besten der evangelischen Waisenschüler.

Überhaupt blieb der zweite Besuch Rußlands seitens des Künstlers nicht minder als sein erster begleitet von reichen Spenden, die er sowohl russischen als auch auswärtigen Anstalten und Unternehmungen zufließen ließ. So übersandte er z.B., noch bevor er Moskau verließ, an die Association des Artistes musiciens zu Paris, die ihn zum Comité-Mitglied ernannt hatte und nach ihren soeben versandten Statuten den Zweck verfolgte, verarmten Musikern und ihren Familien Hülfe zu bieten, 1000 francs »pour sa cotisation personelle de l'année«. Der monatliche Mitgliedsbeitrag betrug nach den Statuten 50 Centimes.

Liszt reiste über Petersburg zurück nach Deutschland, aber nicht, ohne daß seine Rückreise mit romantischen Gerüchten behangen worden wäre. Diesmal waren es nicht »polnische Aufwiegelungen«, sondern ein galantes Abenteuer, eine abermalige »Entführung« und zwar die Entführung einer Russin. Doch war sie so wenig eine solche, wie die ihm 1835 zur Last gelegte. Der Sachverhalt war sehr einfach. Der Künstler hatte in Moskau eine Mme. Sòlnzewa, die Frau eines Staatsrathes, kennen lernen. Sie war eine große und gefeierte Schönheit. Auf der Reise von dort nach Petersburg begegneten sich beide. Mme. Sòlnzewa wollte über die Grenze. »Ich auch!« – rief er aus – »wir reisen zusammen!« Nun wurden aber die Reisepaßformalitäten[212] in Rußland noch sehr schwerfällig gehandhabt. Wenn Jemand über die Grenze wollte, mußte es acht Tage vorher öffentlich bekannt gegeben werden, was Liszt des Zeitverlustes wegen höchst lästig fand. War es Zufall oder Berechnung: er klagte seine Kalamität der jungen Gräfin v. Benkendorf, deren Vater das Amt eines russischen Polizei-Chefs bekleidete. »Oh, das wird Papa arrangiren«, beschwichtigte sie ihn. Und wirklich – schon andern Tags erhielt er seinen Paß und konnte fort. Diese schnelle Abreise aber, ohne vorhergegangene öffentliche Anzeige, war seinen Gegnern eine willkommene Thatsache, um durch falsche Gerüchte gegen ihn operiren zu können.

Einer andern Reisebegleitung dagegen, die ebenfalls von Moskau herstammte – einer Kuriosität – gedachte man nicht. Sie bestand aus zwei jungen Bären, die ihrer Mutter geraubt dem Künstler zum Geschenk dargebracht worden waren. Die kleinen drolligen Dinger amüsirten ihn, bis ihre Zähne wuchsen und die Bestie sich in ihnen zu regen begann; dann ward ihm unheimlich und er übergab sie dem Bärenzwinger eines Freundes.

Im Juni finden wir seine Spur in Hamburg, wo er am 26. Juni ein Koncert im Stadttheater gab. Dann reiste er an den Rhein zu gemeinsamer und letzter Sommerfrische auf der Insel Nonnenwerth mit der Gräfin d'Agoult.

Hier entstanden die bereits genannten Lieder, Chöre und Klavierübertragungen,20 darunter die dem Fürsten A. Kutusow gewidmete Transkription von Glinka's Tscherkessen-Marsch, welche Liszt's diesjährigem Petersburg-Besuch zufällt und den Zweck hatte, dem daselbst lebenden talentvollen Carl Vollweiler Vorschub zu leisten, indem Liszt sich mit diesem zur Herausgabe einer kleinen Sammlung von Klavierstücken verband, die unter der sonderbaren, sonst unerklärlichen Firma Liszt und Vollweiler auftrat, es aber nicht weiter als bis auf zwei Stücke brachte, von denen Liszt's Tscherkessen-Marsch die erste Nummer bildete.

Zu Liszt's russischen Gelegenheitsstücken vom Jahr 1843 gehört noch die Transkription von


Bulhakow's russischer Galopp,21[213]


den die Presse als einen »überliszteten«, »veritablen Tanzgalopp«, – nur der »Kuriosität« halber erwähnte22 – und die Übertragung von


Autrefois!23

Romance du Comte M. Wielhorsky,


welche er in seinem Moskauer Koncert am 9. Mai 1843 vortrug.

Nun nahte der Herbst, der Schluß der Sommerrast. Der Künstler geleitete die Gräfin mit den Kindern nach Paris und verbrachte einige Tage in der Rue blanche bei seiner Mutter.

In jener Zeit tauchte die Nachricht auf: Liszt komponire eine fünfaktige Oper, zu der George Sand das Libretto gedichtet habe; das Süjet sei ihr Roman »Consuelo«. Geraume Zeit später bezeichnete man »Sardanapal« als solches. Dann wieder sprach man von einer italienischen Oper, zu welcher Carlo de Guaita ihm den Text liefere. Liszt hat keine Oper komponirt. Gewiß aber ist, daß die Idee zu einer solchen ihn mehrfach beschäftigt hat. Im Jahre 1846, als er Ungarn wieder besuchte, erwartete man daselbst ebenfalls eine Oper, eine National-Oper, von ihm. Es wurde dort viel darüber geschrieben und gesprochen: als Süjet nannte man »Jankó, der Roßhirt«. Allein er kam zu der Ansicht, daß auf diesem Gebiet nicht sein Beruf liege, und gab den Plan wieder auf – nicht ohne eine Art Enttäuschung seitens der Ungarn und seiner Freunde, welche die allgemeine Anschauung theilten, daß in der Oper das musikalische Kunstwerk kulminire. Die Opergerüchte selbst kursirten bis Ende der vierziger Jahre, wo sich herausstellte, daß Liszt andere Ziele verfolge. –

Der Künstler kehrte nach Deutschland zurück und bereiste als Virtuos die von ihm noch nicht berührten Ländergebiete Bayern, Württemberg, Baden und andere. Zunächst trat er in Bayerns Hauptstadt, in München auf. Hier gab er in der zweiten Hälfte des Oktober vier Koncerte im Odeon und Hoftheater. Obwohl die Koncert-Konstellationen daselbst nicht ungünstiger hätten sein können – es waren gerade die ersten alarmirenden Nachrichten über den von Kalergis und Makryzannis geleiteten und am 15. Oktober ausgebrochenen Aufstand in Griechenland eingetroffen –, war sein erstes Koncert am 18. Oktober im Odeon-Saal, bei dem[214] selbst Ludwig I. trotz der Kabinetsarbeiten und der Sorge um den bedrohten Sohn, sowie der ganze Hof zugegen war, ein außerordentliches. Der Enthusiasmus für den Künstler steigerte sich zu einer in München selten erlebten Höhe, als dieser eine nächste Koncerteinnahme für die in Athen bedrohten Bayern bestimmte und eine andere dem Magistrat zum »Besten der Blinden« übersandte. Nach einem damals ausgegebenen bayerischen Regierungsblatt genehmigte König Ludwig I. die vonDr. Franz Liszt durch die Schenkung von 1500 Gulden beabsichtigte Gründung eines halben Freiplatzes in der königl. Blindenbeschäftigungsanstalt zu München mit der Bestimmung, daß der Theilplatz unter Vorbehalt des landesherrlichen Verleihungsrechtes der Liszt'sche benannt werde. Auch verfügte der König, daß der Beutel – es war ein blauer –, in welchem der Künstler obige Summe an den Magistrat gesandt hatte, »für immer zum Andenken aufbewahrt werden solle.«

Es blieb damals in den Künstlerkreisen nicht unbelacht, daß der König angesichts der Opferfreudigkeit des großen Künstlers, die noch dazu seinen Landesangehörigen zu Gute kam, keine andere Auszeichnung als die »Aufbewahrung des blauen Beutels« übte. Die Maler Münchens aber kannten nach dieser Seite ihren König, dessen Freigebigkeit sich genug gethan, wenn er, wie einstmals dem Maler Schwind, aus Italien ein Geschenk mitbrachte und es ihm eigenhändig gab: eine Apfelsine, die er aus seiner Rocktasche hervorzog. Bei Liszt wirkte jedoch eine Antipathie noch mit, die er gegen ihn jedenfalls aus denselben Gründen wie gegen den Grafen Schack hegte, der wie es schien, prinzipiell die Gemälde, um die der König feilschte, um hohe Summen ankaufte, was jenem seitens der Maler Münchens die Bezeichnung als »Gegenkönig Ludwigs« eintrug. Auch sein verletztes Majestätsgefühl mochte einen Antheil an seiner Abneigung haben. Daß der Virtuos dem künstlerischen Gottesgnadenthum die gesellschaftliche Würde errang, die »Herrschaften« nicht unterthänigst zum Besuch seiner Koncerte oder zum Kaufen von Billeten einlud, wie es nach der Etiquette früherer Zeiten nöthig war, daß er vor keinem gekrönten Haupt spielte ohne vorhergegangene persönliche Vorstellung, war Manchem ein Dorn im Auge. In Hannover machte er z.B. dem König, dessen Nichtachtung der Künstler und Gelehrten – Varnhagen erzählt manches hievon – allgemein bekannt war, keinen Besuch.[215]

»Wer mich hören will«, sagte er, »kommt in mein Koncert ohne meinen Besuch.« Als man ihn darauf aufmerksam machte, daß es Brauch sei, meinte er stolz und trotzig, »es könne auch Ausnahmen von der Regel geben.«

»Aber Se. Majestät wird Ihr Koncert nicht besuchen«, warf ihm ein Kavalier vom Hofe ein.

»Nun – dann besucht sie es nicht!«

»Sie werden keinen Orden erhalten –«

»Dann trage ich ihn nicht.« Damit war die Sache erledigt. Liszt war nicht am Hof, der König nicht im Koncert. Liszt blieb auch ohne hannoveranischen Orden. Ähnliches, wie in Hannover, soll sich auch in München und im Haag ereignet haben. Ludwig I. blieb dem Künstler abhold. Erst sein Enkel Ludwig II. verlieh ihm den Michaels-Orden.

In den Künstlerkreisen dagegen herrschten ungetheilt die wärmsten Sympathien für ihn. Schwanthaler fertigte sein Bildnis in Medaillonform, W.v. Kaulbach entwarf eine Bleistiftskizze seines Kopfes,24 Emanuel Geibel äußerte sich brieflich gegen den Freiherrn von der Malsburg in Stuttgart: »Er ist durch und durch Poet, und die poetische Auffassung aller Musikstücke, nicht die technische Fertigkeit, ist es, was die Menge unbewußt bezaubert« –; die Dichter, Hofräthe Thiersch, Nep. v. Ringeis, Prof. Neumann feierten ihn mit Versen, die Liedertafel brachte ihm eine Serenade bei Fackelschein. Maler gedachten noch nach Jahrzehnten dieses Ständchens mit großem Enthusiasmus, und es bleibt nur zu verwundern, daß sie die heitere, von ihnen als höchst malerisch geschilderte Nachtscene nicht als Vorwurf benutzt und ihr die Verewigung gegeben haben. Nach der Erzählung eines Augenzeugen25 war es eine milde Oktobernacht; Mond, Sterne und ein heller Himmel lagen über der Stadt und verklärten den rothgelben Schein der Fackeln, die vor dem Hôtel, welches der Künstler bewohnte, in Massen aufflammten und auf den Sängerchor und die ihn umdrängenden Menschenwogen phantastische Lichter warfen. Das zweite Lied war noch nicht verhallt, als man den Gefeierten die Treppe herabeilen sah, hinter ihm ein Kellnerheer, bepackt mit Champagnerkörben und Gläsern. Zwischen den Liedern knallten die Pfropfen,[216] heiteres Hochrufen hallte von allen Seiten. Liszt's hohe feine Gestalt gewahrte man baarhäuptig mitten unter den Sängern, bald da bald dort. Oben aber der Balkon, von wo sonst in üblicher Weise solche Ovationen entgegen genommen werden, war unbesetzt. – Meistens revanchirte sich der Künstler bei ähnlichen Gelegenheiten mit einer musikalischen Matinée, welche er auch diesem Ständchen anderntags nachfolgen ließ.

Es hatten sich damals viele bedeutende Menschen in München zusammengefunden, die auf das Zwangloseste mit einander verkehrten, auch banquettirten. Bettina war ebenfalls anwesend, eigentlich – wie die böse Welt sich zuflüsterte – »Liszt nachgereist.« Sie hatte ihre Töchter mitgebracht, von denen sie hoffte – so flüsterte jene weiter – eine an den Künstler verheirathen zu können. Die Dichterin und der Virtuos, dessen Poesien am Klavier einen unbeschreiblichen Zauber auf sie übten, waren wieder täglich im Verkehr. Einstmals meinte sie, er müsse auch Verse machen können. Liszt antwortete ihr hierauf mit einem kleinen lebendigen Gegenstand, den er ihr übersandte: mit einem Wetterfrosch, der in einem Glas auf einer einfachen Leiter saß. In Selbstironie gab er ihm das Motto mit, den ersten und einzigen von ihm verfaßten Reim:26


Ich kraxele auf der Leiter

Und komme doch nicht weiter.


Von künstlerischer Bedeutung wurde die Begegnung mit W.v. Kaulbach. Beide Männer waren berufen zu Pionieren ihrer Zeit und ihrer Kunst. Ihrer historischen Aufgabe aber, die geistigen Grenzen der letzteren zu erweitern durch Zuführung neuer Stoffkreise, standen beide noch mit halbverhülltem Auge gegenüber. Kaulbach hatte noch nicht seine Philosophiebilder, Liszt noch nicht seine Symphoniepoesien geschaffen. Instinktiv aber fühlten beide, trotz einer gewissen individuellen und sachlich bestimmenden Negation, das naturverwandte ihrer Art. Der Musiker bewunderte die Gedankenschneide und die Ideenkreise des Malers, dieser fühlte sich gepackt von der Schaffensgewalt des Virtuosen als solchen und[217] als Menschen. Dieses bestätigt das von W.v. Kaulbach anfangs der fünfziger Jahre in Lebensgröße gemalte Bild desselben. Hiebei blieb Kaulbach stehen. Seine Auffassung Liszt's ging zu keiner Zeit über die bezeichnete Linie hinaus, während andererseits dieser die geistige Richtung Kaulbach's voll begriff und würdigte. Hiervon später.

Nach den Münchener Koncerten gewahren wir den Künstler koncertirend in Augsburg, Nürnberg27, wo er mehrmals in die Werkstätte des ebenso bedeutenden wie biderben Burgschmiet eintrat, der gerade das Beethoven-Monument für Bonn zum Guß vorbereitete, in Stuttgart, wo er vor dem Hof und öffentlich spielte, auch ein Koncert lediglich für Lehrer und Schüler des Gymnasiums gab und eine Koncerteinnahme zu einer Schulstiftung bestimmte, dann in Karlsruhe, Mannheim, Heidelberg und endlich in Hechingen (December), wo im nächsten Jahrzehent seine bahnbrechenden Instrumentalschöpfungen eine ebenso schwung- wie verständnisvolle Aufnahme und Pflege durch den musikliebenden Fürsten und seinen genialen Kapellmeister Max Seifriz finden sollten. Jetzt bereiteten sich diese Beziehungen vor und die Sympathie des Fürsten für den Künstler drückte sich durch Verleihung des »Hofrath«-Titels aus.

Fußnoten

1 Siehe »Vossische Zeitung« Nr. 4–39 des Jahres 1843.


2 Liszt an Wasielewski. Kap. IV.


3 Programm (Koncert von Liszt): 1. Großes Trio in B dur von L.v. Beethoven (Violine und Violoncelle von den HH. Ganz); 2. Fuge in A moll von J.S. Bach; 3. Sonnambula-Fantasie; 4. Rossini-Tarantelle, Mazurka von Chopin, La Chasse von St. Heller; 5. Hexameron für zwei Klaviere (2. Klavier: Th. Döhler).


4 Programm: I. Theil (Koncert von Rubini und Liszt): 1. Großes Septett von Hummel (mit königl. Kammermusikern); 2. Arie aus »Anna Bolena« von Donizetti (Rubini); 3. Fantasie über Motive aus »Le Nozze di Figaro« von Liszt. – II. Theil: 4. Andante mit Variationen und Finale aus dem Septett von Hummel; 5. Duo della Donna de Lago von Rossini (ges. von Dlle. Ostergard und Rubini); 6. Romanze aus der Oper Parisina von Donizetti (ges. von dens.); 7. Arie I tuoi frequenti palpiti aus der Oper Niobe v. Paccini (ges. v. Rubini); 8. Ungarische National-Melodien und Ungar. Marsch (Manuskript) von Liszt.


5 Liszt spielte mit Döhler: Große Sonate zu 4 Händen von J. Moscheles; Hexameron für 2 Klaviere.


6 Edirt 1843 (März): Schlesinger in Berlin.


7 Auf einem Programm vom 11. Januar (Berlin) und einem andern vom 7. Februar (Breslau).


8 1843 Nr. 9, S. 179.


9 »Vossische Zeitung« 1843, Nr. 11.


10 »Allg. Mus. Ztg.« 1843 Nr. 13, S. 249.


11 Edirt 1844 (?): Schlesinger in Berlin.


12 Edirt 1844 (?): Schlesinger in Berlin.


13 Edirt 1843: Schumann'sche Buchhandlung, später J. Hainauer, Breslau.


14 I. Bd., Kap. 11, S. 260.


15 »Noch jetzt« – rief Leonid v. Lwow (Kammerherr a.D. in Moskau und Bruder des Komponisten) aus, als er kürzlich (März 1887) eine Begegnung mit Yourij v. Arnold hatte und die beiden Ergrauten diese Erinnerung ausgruben – »noch jetzt schwebt mir das Koncert in den Ohren! Wohl hundert Mal habe ich es von den verschiedensten Künstlern gehört – aber sojamais, jamais plus!«


16 »Noch jetzt« – rief Leonid v. Lwow (Kammerherr a.D. in Moskau und Bruder des Komponisten) aus, als er kürzlich (März 1887) eine Begegnung mit Yourij v. Arnold hatte und die beiden Ergrauten diese Erinnerung ausgruben – »noch jetzt schwebt mir das Koncert in den Ohren! Wohl hundert Mal habe ich es von den verschiedensten Künstlern gehört – aber sojamais, jamais plus!«


17 »Noch jetzt« – rief Leonid v. Lwow (Kammerherr a.D. in Moskau und Bruder des Komponisten) aus, als er kürzlich (März 1887) eine Begegnung mit Yourij v. Arnold hatte und die beiden Ergrauten diese Erinnerung ausgruben – »noch jetzt schwebt mir das Koncert in den Ohren! Wohl hundert Mal habe ich es von den verschiedensten Künstlern gehört – aber sojamais, jamais plus!«


18 Liszt's »Gesammelte Schriften« VI. Bd.: »Die Zigeunerinnen Moskau's« S. 145.


19 »Allg. Mus. Ztg.« 1843 Nr. 26, S. 478.


20 Siehe Kapitel IX »Nonnenwerth« II.


21 Edirt 1843: Schlesinger in Berlin.


22 »N.Z.f.M.« 1844, XX. Bd., Nr. 40, Seite 158.


23 Edirt:?


24 Diese Zeichnung kam in den Besitz der Fürstin Carolyne v. Sayn-Wittgenstein.


25 Der Verfasserin wurde sie von A.v. Kreling erzählt.


26 Hier dürfte der Liszt-Aufsatz des Pierer'schen Konversationslexikons eine Erwähnung erheischen. Da heißt es nämlich: »Er ist auch Dichter; schrieb einen Band Gedichte mit italienischer Übersetzung.« Einer Widerlegung bedarf dieser Passus nicht.


27 Aus diesen Tagen stammt eine im Bona Meyer'schen Atelier vervielfältigte, viel verbreitete kleine Bleistiftskizze des Künstlers von Heideloff.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1887.
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