B. Transkaukasische Sagen.

[31] In Transkaukasien finden wir eine grusinische und eine swanetische Sage [abgedr. im Sbornik materialov dla Spisanja mestnostei i plemen kavkaza X, S. LXXV–LXXX = Dragomanov, Sbornik VIII], die unseren Sagentypen und deren Varianten nahestehen. Die erste (grusinische) lautet:

Im Anfang war das Weltall mit Wasser bedeckt. Gott, der Schöpfer dieser Welt, war zu jener Zeit im Felsen von Samkar. Einmal ging er aus dem Felsen heraus und warf sich ins Wasser. Da wurde ihm kalt; er seufzte, und zwei Tränen entquollen seinen Augen. Aus diesen Tränen entstanden die Erzengel Michael und Gabriel, Michael, der darum zur linken Seite Gottes steht, und Gabriel, der zu seiner Rechten ist. Gott sank immer tiefer unter das Wasser, die Erzengel aber stützten ihn von unten und trugen ihn empor. Nun wollten sie alle drei die Wasser verdrängen und Erde entdecken, zu welchem Zweck sie in das Wasser bliesen, bis sie schließlich festen Grund fanden und an den Meeresboden gelangten. Dort fanden sie Spuren unbekannter Wesen, und Gott sprach: »Laßt uns diesen Spuren nachgehen. Wo werden sie uns hinführen?« Da folgten ihm die Erzengel, und sie kamen zu einem Blaustein, den sie aufhoben. Darunter aber war Sammael (= Engel des Todes laut alttestamentlichen hebräischen Apokryphen; identisch mit Satan), der trat hervor, packte Gott bei der Gurgel und hätte ihn beinahe erwürgt. Gott rief die Erzengel zu Hilfe, aber sie konnten ihn nicht befreien. Da blieb ihm kein anderer Ausweg, als Sammael zu bitten: »Verlange von mir, was du willst, nur laß mich frei.« Da sagte Sammael: »Ich verlange nichts anderes, als daß wir uns miteinander verbrüdern.« Und Gott sagte es ihm zu, worauf Sammael ihn frei ließ und seiner Wege ging. Alsbald machte sich Gott mit den Erzengeln daran, Wasser und Erde voneinander zu scheiden, sie konnten es aber nicht vollbringen. Sie setzten eine große Wand zwischen das Wasser und die Erde, aber die Gewässer stürzten sie durch ihren Druck und vereinigten sich wieder mit der Erde. Als sie sahen, wie alle ihre Mühe umsonst war, wurden sie traurig, und sie wußten nicht mehr, was beginnen. Der Erzengel Michael aber sagte zu Gott: »Gehe doch zum Bruder Sammael, vielleicht kann er dich lehren, was wir tun sollen.« Gott war es zufrieden, und so machte sich der Erzengel auf und teilte Sammael den Grund seines Kommens mit. Sammael riet ihm: »Sage meinem Bruder Gott, daß die Steinwand, so oft er sie auch baue, doch immer wieder einstürzen müsse. Er würde dessen bald überdrüssig werden. Nehmt aber zwei Röhren und[31] ihr, ihr Engel, blast mit Toller Kraft hinein, und wenn ihr müde seid, laßt Gott mit all seiner Kraft hineinblasen, dann werden sich Erde und Wasser voneinander scheiden. Die Erde wird an ihrem Platze bleiben, die Gewässer aber werden zur Seite weichen.« Michael dankte dem Sammael für seine Auskunft und begab sich wieder zu Gott. Nun taten sie alles nach Sammaels Weisung, und siehe, die Gewässer verzogen sich, und die Erde kam zum Vorschein. [Folgt Menschenerschaffung und Sündenfall. Sammael verführt das Menschenpaar in Gestalt eines Ziegenbockes.] Darauf ging Sammael zu Gott und bat ihn, er möge ihm den Anteil geben, der ihm als seinem Bruder gebühre. Aber Gott wollte es nicht. Da sprach Sammael: Wozu sind wir denn Brüder? Gib mir wenigstens eine Urkunde, wonach die Toten dem gehören, der dieselbe besitzt.

Da gab Gott dem Sammael die Urkunde, der verschluckte sie und ging damit in die Hölle. Nach langer Zeit wurde Christus geboren. Christus trat die Herrschaft an über alles Lebendige in der Welt vom Menschen bis zu den kleinsten kriechenden Tieren. Danach kam er auch in die Hölle. Sowie er Sammael erblickte, packte er ihn an der Gurgel, und würgte ihn so, daß er die Urkunde wieder ausspie. [Weiter folgt eine originelle Einzelheit, wie Sammael versucht, Christus in der Hölle zu behalten; Christus gelingt es aber, herauszukommen.]1


Ähnlich, jedoch kürzer ist folgende swanetische Erzählung:


Es war eine Zeit, da gab es keinen Himmel, keine Erde und nichts von dem, was wir jetzt sehen, es war alles vom Wasser bedeckt. Gott war in einem hohen Felsen inmitten des Meeres. Und er ward es müde, allein zu sein, und zerspaltete den Stein in einer Entfernung von je 12 Werften und sprang heraus. Er entwässerte Land und mischte dann Wasser und Erde, die den Felsen umgaben, und machte zwei Teile. Aus dem einen bildete er den Himmel, aus dem anderen die Erde, die Menschen und die Tiere. Doch gab es noch keine Geister, und Gott weinte vor Verdruß. Aus einer Träne aus dem rechten Auge entstand der Erzengel Michael, und aus einer Träne aus dem linken Auge der Erzengel Gabriel. Lange Zeit verging. Auf Gottes Befehl wurden viele Wesen auf der Erde geschaffen. Gott und seine Engel zogen auf ihren wunderbaren Pferden in der Welt umher und entwässerten das Land überall für die Menschen. Zuletzt erblickten sie einen großen, schneeweißen Stein, auf den ihr Weg hinführte. Aber die Engel führten Gott nach einer anderen Richtung. Von neuem kamen sie auf den Stein zu, aber wieder führten die Engel Gott[32] nicht zu ihm hin. »Da steckt gewiß eure List dahinter,« sagte Gott zu den Engeln, »daß wir nicht zu dem Stein gelangen können, sonst müßten wir ihn doch erreicht haben.« Die Engel antworteten: »Nun wohl, wir können dich zu dem weißen Steine führen, aber wir glauben, daß er dir Schaden bringen wird.« Sie gingen hinzu, und Gott zerschlug den Stein mit der Peitsche, da sprang der Teufel heraus und packte Gottes Pferd. Gott rief die Engel zu Hilfe, und sie um ringten den Teufel und fragten ihn, wer und wessen Herr er sei. Der Teufel sprach zu Gott: »Ich und du waren beide im Steine, ich und du sind desselben Ursprungs, ich bin das Herz des Steines wie du, deshalb gib mir Anteil an der Welt.« Gott gab den Engeln diese Bitte zur Erwägung, und die Engel teilten die Welt in drei Teile: die lebenden Menschen, die Seelen der Toten und die Tiere. Während nun Gott sich die Menschen und Tiere erwählte, nahm der Teufel die Seelen. Die Engel aber sprachen zu ihm: »Freue dich nicht zu sehr. Wisse, daß die Seelen nur so lange in deinen Händen bleiben werden, bis Gott ein Sohn geboren ist, der die Toten aus deinem Reiche befreit.« Der Teufel antwortete: »Bis dahin wird lange Zeit vergehen, so daß ich noch viele Menschenseelen verführen kann.« Er machte die Hölle und versah sie ringsum mit einem Gitter, nur an einer Stelle ließ er ein Loch, durch welches die Seelen der Menschen hineingelangten. [Gott, der an seinen Vertrag gebunden ist, berät sich mit den Engeln, was zu tun sei, und sie raten ihm, seine Seele in einen Apfel zu blasen, den sie Maria bringen wollen. Folgt Christi Geburt und Befreiung der Toten, Zerstörung des teuflischen Reiches.]


In den letzten beiden Sagen tritt besonders der Vertrag mit dem Teufel hervor, der sich auch in dem bulgarischen Typus findet. Er kommt zwischen Gott und Satan zustande., nicht aber zwischen Adam und Satan, wie es die schriftlich überlieferten slawischen Apokryphen berichten. (Vgl. unten: Adam beim Ackern.) Diese Besonderheit in den bulgarisch-grusinischen und ähnlichen Traditionen gibt uns das Recht, sie für älter zu halten als die slawischen Apokryphen. Denn sie stehen der iranischen Erzählung vom Vertrage zwischen Ormuzd und Ahriman näher als jene. (Bundehesh I, Minokhired, Spiegel, tradit. Litt. 95. 98. 143.) Iranisch ist vor allem auch das Verschlucken des Vertrages (Windischmann, Zoroastr. Studien S. 203). Wenn in einer einzigen grusinischen Variante der Vertrag zwischen Adam und Sammael geschlossen wird, so ist dies eine Entstellung.

Daß Gott auf einem festen Punkte im Ozean ruht, wird vielfach in Varianten erwähnt und erweist sich somit als ein echter ursprünglicher Sagenzug. Bei den Jesiden fanden wir in ähnlicher Weise die Vögel auf dem Baume sitzend. In dem anfangs mitgeteilten altaischen Sagentypus bildet der Stein den Ruhepunkt des Erlik, den Gott aus dem Wasser zu sich emporzieht. In den slawischen Weihnachtsliedern spielt der Baum eine besondere Rolle (siehe unten Abschn. 5, D, S. 58). Auch der Blaustein (oder Goldstein) kehrt anderswo wieder. Bei der großen Bedeutung die er schon für die altorientalische Kunst hatte, dürfen wir auf chaldäische[33] Sageneinflüsse schließen. Ferner finden sich in einigen Varianten Parallelen zu der schöpferischen Kraft von Gottes Tränen. Endlich ist Gottes Schwäche bemerkenswert. Die Scheidung von Wasser und Erde gelingt erst nach dem Rate Sammaels, und wir hören, daß sich Gott von Engeln muß führen lassen, daß sie ihn in offenbar besserer Erkenntnis des Bösen vor dem Steine warnen, daß er um Hilfe ruft, daß nicht er, sondern die Engel die Teilung vornehmen. Diese Schwäche ist uns aus armenischem Dualismus bereits bekannt.

Zusammenfassend ist über die transkaukasischen Sagen zu urteilen, daß sowohl die grusinische, als auch die swanetische Legende der direkte populäre Widerhall einer dualistischen Erzählung sind, deren einzelne Teile wir als indisch-iranisch-gnostisch kennen gelernt haben.

Doch ist hervorzuheben, daß sich in Transkaukasien kein Zug der Tauchepisode des Schöpferteufels findet, wie das bei den Mandäern der Fall war. Nur von weitem erinnert die auf Sammaels Rat vollzogene Scheidung von Wasser und Erde an den Sagenzug, daß der Teufel durch Heraufholen des Meersandes an der Weltschöpfung mitwirkt. Nach Dragomanov würde sich das Fehlen des Tauchmotivs aus der geographischen Lage der Grusinen und Swaneten erklären. Bei der gebirgig kontinentalen Natur des Landes hätte der ozeanistische Teil der Sage sich verflüchtigt.

Wir hätten also das Recht, eine ältere Sagenform vorauszusetzen, in der das Motiv vorkam. Aus dieser entwickelte sich dann gleich der mandäischen und jesidischen Erzählung auch die transkaukasische. Die gemeinsame Urlegen deselbst ist aber nicht nachzuweisen. Vielleicht wird sie bei künftiger Durchforschung der Literaturen des Ostens gefunden werden. Die Annahme einer solchen mag vorläufig genügen.

Fußnoten

1 In einer grusinischen Variante finden sich noch einige Einzelheiten ausgeführt: Michael und Gabriel wanderten auf der Welt. Die Erdrinde war damals so weich, daß die Fußtritte sich bis zum Knie eindrückten, trotzdem sie an den Füßen Schlitten hatten (Bretter, um auf dem Schnee zu gehen). Diesen Engeln rollte ein runder Stein fortwährend voran. Gott sagte: Wir sind dieses Steins überdrüssig. Ich will ihn zertrümmern. Trotz der Warnung der Engel zertrümmert Gott den Stein mit einem Fußtritt. Weiteres wie oben. Maria empfangt Gottes Sohn, indem der Erzengel ihr die von Gott ihm in die hohle Hand geblasene Seele in den Mund legt. Christus befreit die Toten. (Das Verschlucken des Vertrags fehlt!)


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 34.
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