G. Nordasiatische Sagen.

[70] Von den finnischen Stämmen Osteuropas führt uns die Sagengeschichte zu den nordwestlichen Mongolen Asiens, von denen Potanin interessante kosmogonische Überlieferungen mitteilt (in seinen Očerki severo-zapadnoj Mongolii IV, 692 f., Anm. 44 zu Seite 71, sowie S. 218–223, 797 ff. = Veselovskij, S. 23 ff.). Potanin bemerkt, daß jener Erlik, den wir schon in dem am Anfang des Kapitels mitgeteilten Sagentypus aus Südsibirien kennen gelernt haben, bei den Altaiern, Tscherner Tataren und Mongolen als Herrscher des Totenreiches gilt. Nach mongolischem Glauben habe Erlik einst gewaltig auf der Oberwelt geherrscht, sei aber von der Gottheit Jamandága gestürzt worden. Er heißt Vater Erlik, indem er entweder als Schöpfer des ersten Menschen oder – wie bei den Kusnetzker Tataren (im Tomsker Gouvernement zwischen Ob und Jenissei) – als erster Mensch angesehen wird. Über seinen Anteil bei der Weltschöpfung heißt es:


1. Als es weder Himmel noch Erde gab und nur Wasser war, ließ sich Ulgeň ins Wasser, um die Erde zu schaffen. Er dachte und sann, wußte aber nicht, wie er es anfangen sollte. Zu jener Zeit kam ein Mensch zu ihm. Den fragte[70] Ulgeň: »Wer bist du?« – »Ich kam auch, die Erde zu erschaffen,« entgegnete dieser. Ulgeň erzürnte und sprach: »Wenn ich sie nicht erschaffen kann, wie wirst du es können?« Der Mensch antwortete: »Ich werde sogleich finden, wovon ich sie erschaffe.« Ulgeň fragte: »Woher willst du solchen Stoff nehmen, aus dem man die Erde schaffen kann?« – »Sei nicht ungehalten; ich weiß schon, woher ich ihn zu holen habe.« – Ulgeň sprach: »Ich werde nicht ungehalten sein. Wohlan! Wenn du den Stoff holen kannst, so tu es alsbald.« Der Mensch tauchte ins Wasser. Auf dem Grunde fand er einen Berg, riß ein Stück Erde davon ab und stopfte damit seinen Mund voll. Als er wieder emporgelangt war, spuckte er die Erde in Ulgeňs Hand. Ulgeň streute sie aus, und es entstand die Erde. Aber der Mensch hatte etwas Erde zwischen den Zähnen behalten. Er spuckte, und daraus entstanden Hügel und Sumpfland. Ulgeň sprach zu ihm: »Warum hast du so getan? Die Erde muß glatt und eben sein. Zur Strafe sollst du nicht mehr auf der Erde weilen.« Der Mensch, der auf einen Stock gestützt stand, sagte: »Gönne mir wenigstens so viel Platz wie die Spitze meines Stockes.« – »Auch das sollst du nicht haben.« – Der Mensch weinte, und nun erbarmte sich Ulgeň und erlaubte ihm, so viel Platz zu nehmen. Da warf sich der Mensch quer über den Platz, den er sich erbeten, und war auf einmal nicht mehr zu sehen. [Es folgt die Erschaffung des ersten Menschenpaares (siehe Kap. II), und hier erst wird der Name dessen genannt, »der: ins Loch stürzte« – Erlik.] Als Gott die von Erlik beseelten Menschen vernichten will, kommt ein Frosch zu ihm und spricht: »Wozu sie vertilgen? Laß die Lebendigen leben, die Sterbenden sterben.« Ulgeň befolgte das und ließ die Menschen leben. [Folgt die Erfindung des Feuerzeugs.] Als Gott überlegt, woraus er Feuer erschaffen soll, rät ihm der Frosch, Stein vom Berge und Schwamm von der Birke zu nehmen. [Dann wird in biblischer Weise der Sündenfall erzählt.]

2. Anfangs war nur Himmel und Wasser, die Erde war noch nicht. Očurman lebte im Himmel. Er wollte sich setzen und deshalb die Erde erschaffen. Er fing an, einen Gefährten zu suchen und fand Tschagan-Schukut. Beide ließen sich ins Wasser hinab, aber der Frosch war neidisch auf sie und tauchte in die Tiefe. [Vgl. folgende rumänische Parallele, deren asiatischer Ursprung wohl anzunehmen ist: Anfangs gab es nichts als Wasser. Da beauftragte Gott den Frosch, zu tauchen und zu sehen, ob er im tiefsten Meere etwas Erde fände. Das Tier gehorchte und kam nach langer Zeit wieder mit der Kunde, daß er Erde gefunden habe. Da befahl Gott den Wassern, sich zu teilen, damit er auf die Erde treten könne. So geschah's und ist's geblieben bis heute. Den Frosch aber segnete Gott: wer ihn tötet, begeht eine große Sünde. Şezătoarea III S. 25.] Sogleich sandte Očurman seinen Gefährten ihm nach, und dieser zog ihn empor und legte ihn aufs Wasser, mit dem Bauche nach oben. »Ich werde mich auf seinen Bauch setzen,« sprach Očurman, »du aber tauche und hole vom Grunde, was dir zufällt; doch denke im Wasser an mich, denn mit deiner Kraft kannst du nichts ausrichten.« Tschagan-Schukut holte ein wenig flüssige Erde. »Ohne mich würdest du diese nicht bekommen haben,« sprach er zu Očurman. Allein kaum hatte er das gesagt, da entglitt die Erde seinen Händen und fiel ins Wasser. Da ließ er sich noch einmal hinab und brachte ein paar Hände voll fester Erde, wobei er sprach, wie ihm befohlen war: »Nicht ich nehme dich, sondern Očurman.« Diese Erde hieß Očurman ihn auf den Frosch streuen, setzte sich selbst mit seinem Gefährten darauf, und[71] die Erde war nur so groß, wie beide Raum einnahmen. Sie saßen da und ruhten und schliefen endlich ein. Da erschien Schulmus, sah beide liegen und gedachte sie mitsamt der Erde ins Wasser zu werfen.1 Er faßte den Rand der Erde, doch auf einmal fand er kein Wasser mehr, um sie hineinzustürzen. Er lief nun um den Rand der Erde, es zu erreichen; aber die Erde wuchs, nirgends war Wasser zu sehen. Und Očurman wachte auf und sprach zu seinem Gefährten: »Als Schulmus uns ertränken wollte, schützte uns die Erde.« [Es folgt nun die Erzählung, wie Očurman und Tschagan-Schukut den Menschenkörper erschaffen, den Schulmus belebt (siehe Kap. II).] Um nun zu entscheiden, wer der Herr dieser Geschöpfe sein solle, setzten sich beide vor eine Schale mit Wasser; auf wessen Seite der Schale zuerst eine Blume wachse, der solle Gott sein und herrschen. Der Teufel Schulmus kommt zu ihnen und will auch seinen Teil an der Welt haben. Sie kommen überein, daß er nur so viel erhalten solle, als er mit dem Ende seines Stockes Erde bedecken könne. Der Teufel ärgert sich, stößt seinen Stock in die Erde und zieht ihn heraus. Aus dem Loche kriechen Schlangen und anderes Gewürm hervor. Darauf warten Očurman und Tschagan-Schukut auf das Erscheinen der Blume und schlafen ein. Tschagan-Schukut wacht zuerst auf, reißt die Blume, die bei dem andern gewachsen ist, ab und legt sie vor sich hin. Als Očurman erwacht und die Blume bei Tschagan-Tschukut, die Wurzeln aber bei sich erblickt, errät er den Zusammenhang und sagt: »Da wir Götter einander bestehlen, werden die Menschen auch solche Diebe sein. Alle Geschöpfe werden in ewiger Feindschaft sein und die Menschen werden trachten, einander zu vertilgen.«


3. Mongolische Variante von der chinesischen Grenze:


Der Gott Šakčži-Toba und Maidari warten, bei wem die Blume zuerst wachse. Es geschieht bei Šakčži-Toba. Aber Maidari reißt sie heraus und versetzt sie in seine Schale und spricht: »Bei mir wuchs sie.« Šakčži-Toba sagt: »Gut, mag es dein Zeitalter sein. Aber die Menschen deines Zeitalters werden lügen und stehlen.«[72]


4. Sage der Tanguten (im südlichen Teil der Mongolei im chinesischen Reiche):


Die Göttin Ane-Goma-Čžamu will die Welt erschaffen und ruft die Göttin Nžigmu, gibt ihr den Schoß voll Erde und sagt: »Es ist nötig, die Erde zu schaffen, glatt und eben, damit es keine Berge gebe. Die Menschen sollen alle gleich sein, daß es weder Reiche noch Arme gebe. Geh, säe die Erde und sprich: Wo Berge sein sollen, seien keine, wer reich sein soll, sei nicht reich, wer arm sein soll, sei nicht arm.« Nžigmu freute sich des Auftrags, und im Eifer sprach sie die Worte verkehrt. Daher ist die Erde bergig, und die Menschen sind nicht gleich.


5. Sage der Buräten.


Am Anfang war ein uferloses Meer, auf dessen Boden schwarze Erde und Lehm war. Gott befahl dem weißen Taucher, zu tauchen und Lehm vom Meeresgrund zu holen. Als er untergetaucht war, brachte er im Schnabel rote und schwarze Erde herauf. Er warf es nach allen Seiten, woraus die Erde entstand. Sie liegt auf der Meeresfläche und wird gestützt von einem ungeheuren Fisch. Wenn dieser sich wendet, so entsteht Erdbeben.


  • Literatur: Veselovskij 29. = Saškin, Šamanstvo v Sibiri (Zap. Imp. Russk. Geogr. Obšč. 1864, II, 30 u. 33; vgl. 31 u. 33.

6. Sagen der Jakuten:


1. Der Schöpfer erschuf die Erde glatt und eben. Der böse Geist erwärmte sie, um sie zu vertilgen. Davon bildeten sich Berge, Täler und Flüsse. Oder man erzählt, er habe die Erde so zerwühlt, daß sie sich zerklüftete. Aber der Schöpfer sprach zu ihr: »Das soll dir nicht schaden. Wachse nur, wachse!« Da fing sie zu wachsen an, und es entstanden Flüsse und Meere aus den Klüften. Zwischen ihnen wuchs feste Erde.

2. Die Mutter Gottes [bei der Christus und Nikolaus, der Wundertäter, nebst sieben Engeln2 lebten] wollte die Erde schaffen. Darum erschuf sie den weißschnäbligen Taucher Gagara und die Ente Ulunkus. Sie sandte die Vögel aufs Wasser und befahl ihnen zu tauchen und vom Meeresgrunde ein Teilchen Erde zu holen. »Erfüllt ihr meine Bitte, so werde ich euch Geschwindigkeit verleihen, wie kein andrer Vogel sie haben wird.« Zuerst kam die Ente und warf aus dem Munde ein wenig Erde heraus. Nachher kam der Taucher und erklärte, er habe sich im Meer verirrt und keine Erde gefunden. Aber die Mutter Gottes bemerkte, daß er den Mund voll Erde hatte; sie ärgerte sich über den Betrug und sagte zum Taucher: »Du tückischer Vogel, hab' ich dir nicht im Vergleich zur Ente mehr Kräfte und einen längeren Schnabel gegeben und dich mit heiligem Namen benannt, und du hast mich betrogen, indem du das Meer beschuldigst?« Da verfluchte sie den Taucher, indem sie hinzufügte: »Von jetzt an sollst du allen zur Versorgung dienen und nicht auf Erden leben, sondern im Wasser, und mit Schlamm dich nähren.« Hierauf bildete sie aus der heraufgebrachten Erde eine Kugel, beleuchtete sie und ließ sie ins Wasser hinab; doch die Kugel sank nicht unter, die Wellen zerschlugen sie nicht, sie blieb auf einem Fleck, und aus der schwimmenden Insel wurde die Erde.


  • Literatur: Veselovskij, S. 30.

[73] Unter den Sagen dieser Völker ist die burätische offenbar die schlechteste. Der Antagonismus gegen Gott fehlt; der Taucher holt auf Gottes Geheiß die Erde und zerstreut sie selbst auf die Meeresfläche. Bei den Jakuten ist der parsische Dualismus leicht wieder zu erkennen. Wie Ahriman die Schöpfung des Ormuzd schändet, so zerstört der böse Geist das Ebenmaß der von Gott gebildeten Erde. Auch die Erklärung der Berge als das Werk des Teufels erinnert an iranische Vorstellungen. Diese Übereinstimmung ist historisch wohlbegründet, da die Jakuten ein Volktürkischer Abkunft sind und früher südwestlich ihrer jetzigen Wohnsitze gesessen haben (Dragomanov, S. 29). In der christlich gefärbten Sage der Jakuten ist wichtig, daß wiederum – wie bei den Mansi – zwei Vögel tauchen. Ähnliches wird sich in Amerika wiederfinden. Und damit gelangen wir zu der eigentlichen Bedeutung, die diesen nordasiatischen Sagen innerhalb der Geschichte der kosmogonischen Tradition gebührt. Nicht die bloße Erkenntnis, daß die türkisch-altaisch-mongolischen Volkserzählungen untereinander verwandt sind, verleiht ihnen den Wert, sondern mehr noch ihr erweislicher Zusammenhang mit den indianischen Mythen des benachbarten Erdteils.

Fußnoten

1 Die Parallele hierzu haben wir im bulgarischen Sagentypus kennen gelernt. Dies Motiv ist also gut asiatisch und nicht bogomilisch. Schulmus und Tschagan-Schukut beruhen auf der nicht ungewöhnlichen Sagenmanier der Gestalten-Verdoppelung. Ursprünglich war nur ein »Gefährte« da, der zugleich den Gegner darstellte.

Eine wotjakische Erzählung berichtet, daß Inmar nach der Sündflut die Welt neu schaffen will und einen der übriggebliebenen Menschen aussendet, Erde zu holen. Zweimal weigert sich dieser und tut es erst beim dritten Male. Inmar schickt nun ihn und noch einen Menschen, Erde auszustreuen. Der erste ging bei Tage und säte gleichmäßig; bei ihm wuchsen Täler, Wiesen, Ebenen. Der zweite ging bei Nacht, und bei ihm wuchsen Berge und Schluchten. Als der Mensch zum Lohne die Hälfte der Erde fordert, bekommt er nur so viel, als er mit seinem Stockende bedecken kann. Aus dem Loche kommt alles mögliche Ungeziefer. Dieser Mensch ist Keremet.

Veselovskij, S. 28, Anm. = Bogajevskij, očerk byta sarapuljskich Votjakov (= Sbornik materialov po etnografii, herausg. von Miller, 18, 16). Hierzu vergleiche folgende mongolische Variante (Veselovskij ebenda), mitgeteilt von Potanin: Sonne und Mond sind zwei Schwestern. Die Sonne spricht zum Monde: »Gehe du bei Tage, ich werde bei Nacht gehen.« Der Mond sagt: »Nein, bei Tage gibt's viele Menschen, vor denen ich mich schäme.« Sie kommen überein, daß die Sonne am Tage gehen soll. Es macht ihr Sorge, daß die Erde glatt und mit Wasser bedeckt sei und es keine Hügel gebe, wo der Mensch sich ansiedeln könne. Der Gott Šakčži-Toba (= Sakja-Muni-Buddha) schuf einen Mann und eine Frau, welche eine Bauchhöhle gebar. Gott schnitt diese auf und schickte die Kinder, die da herauskamen, in alle Richtungen.


2 In der ersten von Potanin mitgeteilten Legende heißt es in dem (oben weggelassenen) Anfang: Ulgeň und Erlik hatten jeder sieben Söhne. Vgl. auch S. 68 oben.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 74.
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