III. Begebenheiten während der Verhöre.

[199] 1. Aus dem Archipel. (Um Caesarea.)


Die Jungfrau Maria war Jesus bis zum Tribunal der Juden gefolgt. Da sie nicht hineindurfte, blieb die arme Mutter vor dem Gerichtszimmer stehen und versuchte, etwas von der Beratung zu hören. Nun gab es aber zahlreiche Quellen in Jerusalem, und das Geräusch ihrer Fälle war so groß, daß es die Stimme der Priester übertönte.

Da verwünschte die Jungfrau voll Ungeduld die Quellen: »Ihr bösen Quellen, schweigt! Möge man nie wieder das Geräusch eurer Wasser hören!« Seitdem schweigen die Quellen in Jerusalem, und die Stadt hat kein Wasser mehr.


  • Literatur: La Tradition 10, 71.

2. Aus dem Terekgebiet. Erzählungen der Kosaken.


a) Als Christus im Hofe des Pilatus von den Knechten gepeinigt wurde, trat eine Mutter mit ihrem Kinde herzu. Als der Knabe die Qualen Christi sah, wollte er ihn aus den Händen der Peiniger befreien, weinte und bat, man möge Jesus verschonen. Da schaute Christus auf den Knaben und fing an zu weinen, die Tränen aber flossen über sein Gesicht und fielen auf die Steinplatten des Hofes. Da brachen die Platten, und aus ihren Spalten erhoben sich die schneeweißen duftenden Blüten des Mai glöckchens.


  • Literatur: Sborn. mater. 34, 2, 4.

b) Nachdem Petrus den Herrn verraten hatte, bereute er bald seine Tat, weinte bitterlich und grämte sich sehr. Der Teufel aber freute sich. Da erschien dem Petrus der Herr im Traum und verkündete ihm seine Verzeihung. Petrus glaubte jedoch nicht sogleich und bat um ein Zeichen. Christus antwortete ihm nicht, sondern wies nur stumm auf eine Menge von Stachelbeersträuchern mit Beeren hin, die mit einem Mal emporgewachsen waren. »Petrus!« sagte darauf der Herr, »das sind deine Tränen! Ich habe sie aus der Erde gesammelt und werde sie dir anrechnen beim letzten Gericht!« Und Christus ward unsichtbar. Seit der Zeit erschien der Stachelbeerstrauch auf der Erde.


  • Literatur: Sborn. mater. 34. 2, 6 f.

[199] 3. Aus Malta.


Seitdem Petrus den Herrn dreimal verleugnet hatte, war der Hahn, der ihn durch sein Krähen strafte, eifrig bereit, dem Herrn zu dienen, und so kam es, daß er nie mehr von dessen Seite wich. Kurz vor seinem Tode sprach Jesus zu ihm: »Spüre nach, ob aus dem Kreise der Meinen ein Anschlag gegen mich geplant wird, und dann berichte mir.« Da flog der Hahn bald hierhin, bald dorthin. Endlich kam er zurück und sagte schüchtern: »Judas Ischarioth ist es, der dir die Treue bricht.« Da wurde der Herr verzagt, da er an Judas Ischarioth hing. Zum Hahn aber sprach er: »Laß ihn nicht aus den Augen und kreuze ihm den Weg.« Der arme Hahn tat sein Mögliches, aber der Verräter ließ sich nicht beirren, sondern begab sich in den Tempel, um sich mit den Juden um den Blutlohn zu verabreden und wie der ganze Verrat auszuführen wäre. Der Hahn aber krähte während der Unterredung dreimal, und Judas Ischarioth fühlte sich beunruhigt, so daß er schnell den Handel abschloß. Da flog der Hahn zurück zum Herrn und fand ihn um den Tisch versammelt mit seinen Jüngern beim letzten Mahl. Weinend berichtete er mit menschlicher Stimme über all das, was er gesehen und gehört hatte, auch von den dreißig Silberstücken erzählte er und geberdete sich ganz trostlos, da das Leid ihn übermannte. Der Herr aber öffnete seinen Mund, um die ängstlichen Jünger zu beruhigen, und sagte liebreich zum Hahn: »Du hast mich gut bedient, und ich danke es dir jetzt und immer! Wenn es von dir abhinge, so hätte ich mich retten können! Doch möchte ich, daß du deine Wachsamkeit bis zu meinem Ende ausübst. Segne ihn, o Petrus!« Da segnete Petrus den Hahn. Seitdem aber gilt der Hahn viel unter den Tieren.


  • Literatur: Mitt. von Frl. B. Ilg.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 199-200.
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