III. Bestrafte Fische.

[252] 1. Aus Portugal.


a) Als die hl. Jungfrau eines Tages am Meeresufer wandelte und eine Seezunge erblickte, richtete sie an diese die Frage: »Sind viele Fische da?« Die Seezunge wiederholte nach ungezogener Kinder Art die Frage, wobei sie das Maul verzog und die Stimme der hl. Mutter Gottes nachahmte. Zur Strafe hat sie ein schiefes Maul behalten.


  • Literatur: Mündlich. Durch den verstorbenen deutschen Generalkonsul Heinrich Dähnhardt in Lissabon.

[252] b) Unsere liebe Frau stand am Ufer des Flusses und fragte die Seezunge, ob es Flut oder Ebbe sei. Die Seezunge machte eine Fratze. Da sagte unsere liebe Frau: »Behalte den Mund an der Seite!« Und sie behielt ihn so.


  • Literatur: Frdl. Mitteilung von Herrn Consiglieri-Pedroso in Lissabon.

2. Aus Brasilien (Amazonas).


Eines Tages ging die hl. Jungfrau an den Ufern des Amazonenstroms spazieren, wo die Flut bis auf eine sehr weite Entfernung von der Mündung bemerkbar war. Da begegnete sie dem Fische »Aramaça« und sprach freundlich zu ihm: »Aramaça, steigt die Flut oder fällt sie?« Die hl. Jungfrau war damals schon recht alt, und ihre Stimme zitterte ein wenig. Der Fisch, anstatt zu antworten, wagte es, ihr die Achtung zu versagen. Er äffte die Stimme unserer Frau nach, und indem er abscheulich den Mund verzog, um sie zu verhöhnen, wiederholte er in spöttischem Tone die Frage: »Aramaça, steigt die Flut oder fällt sie?« Da verfluchte ihn die hl. Jungfrau, und seitdem hat der Fisch ein schiefes Maul, wie man noch heute sehen kann.


  • Literatur: Santa-Anna Nery, Folklore brésilien p. 224.

3. Aus Norwegen.


Einst ging Maria dem Strande entlang. Auf dem weißen Sande lag eine große Heilbutte dem Lande so nah, daß die See kaum über sie ging. Maria stand still, betrachtete den schönen Fisch und sprach: »Ein schöner Fisch liegt auf dem Strande.« Die Butte machte ihr ein schiefes Maul, daß sowohl Mund als Augen verkehrt im Kopfe standen. Da sprach Maria: »Saavidt du strækker, så langt du rækker, begge dine öjne paa ét kindben skal staa!« [Soweit du dich streckst, solang du dich reckst, sollen deine beiden Augen an einem Backenknochen stehen.] Seit der Zeit trägt die Heilbutte ihre beiden Augen an der einen Seite, ihr Mund ist auch sehr schief.


  • Literatur: O. Nicolaissen, Sagen og eventyr 2, S. 18.

4. Aus Island.


Einst ging die hl. Jungfrau längs der See, und eine Heilbutte erschien und verzerrte die Augen vor ihr. »Du sollst immer so schön sein, Weiblein!« sagte Maria, und seit der Zeit trägt die Heilbutte ihre beiden Augen an derselben Seite.


  • Literatur: Þorkelsson, Þjóđsögur (1899) S. 186.

Parallelen mit verblaßtem Sageninhalt.

1. Der Scholle, welche Jesus bei einer Fahrt über das galiläische Meer verächtlich angesehen hatte, steht das Maul schief.


  • Literatur: Rußwurm, Eibofolke (Schweden in Estland) S. 189.

2. Die Butte wurde stumm, weil sie Jesus nachgespottet hatte.


  • Literatur: Wiedemann, Aus d. inn. u. äuß. Leben der Esten S. 448.

3. Die Flunder hat Gott gelästert, darum hat sie ein schiefes Maul.


  • Literatur: Bl. f. pomm. Vk. 5, 140, Nr. 9.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 252-253.
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