A. Spätes Erwachen gewinnt, Übermüdung verliert.

[146] 1. Aus Schweden.


Der Strandläufer [? Strandstrikaren] und die Ente waren einst übereingekommen, sich beim Sonnenaufgang zu treffen und um die Wette zu fliegen. Die Ente legte sich wie gewöhnlich zu Bett und schlief, wie sie gewohnt war. Der Strandläufer hielt sich wach, damit er zur rechten Zeit sich einstellen konnte, und fuhr die ganze Nacht schreiend umher und hüpfte auf den Steinen; als die Sonne am Aufgehen war, schlief er müde ein. Die Ente erwachte am Sonnenaufgange, stellte sich am bestimmten Orte ein und gewann die Wette. Noch immer fliegt der Strandläufer umher und pfeift und hüpft die ganze Sommernacht auf den Steinen umher, damit er sich wach halte, um mit der Ente um die Wette zu flie gen, wenn die Sonne aufgeht.


  • Literatur: Cavallius, Wärend 2, XXVII.

2. Aus dem Gouvernement Twer (Übertragung auf Flüsse).


Die Wolga und Wasusa stritten lange hin und her und konnten darüber nicht einig werden, wer von beiden klüger, stärker und größerer Ehre wert sei. Als sie mit ihrem Streit nicht zu Ende kommen konnten, trafen sie endlich folgende Abmachung: »Wir wollen zu gleicher Zeit schlafen gehen; wer von uns aber früher erwacht und schneller zum Chwalynschen Meere gelangt, soll klüger, stärker und größerer Ehre wert sein.« Die Wolga begab sich zur Ruhe, und die Wasusa folgte ihrem Beispiel. In der Nacht aber stand die Wasusa heimlich auf, entlief der Wolga, wählte sich einen geraderen und näheren Weg und fing an zu fließen. Als die Wolga erwachte, floß sie weder schnell noch langsam, sondern so, wie es sein muß; in Subzow holte sie die Wasusa ein, und zwar so gewaltig, daß die Wasusa erschrak, sich zufrieden gab, als jüngere Schwester zu gelten, ja die Wolga bat, sie auf ihre Arme zu nehmen und ins Chwalynsche Meer zu tragen. Dennoch erwacht im Frühjahr die Wasusa früher und weckt die Wolga aus ihrem Winterschlaf.


  • Literatur: Aus der Sammlung von Afanasjev mitget. von Schiefer, Inland 1862, Nr. 14.

3. Indianersage aus Nordamerika (nur mit dem Motiv der verlierenden Übermüdung).


Die Welt wird geschaffen, dann der Mensch. Der Mensch soll am nächsten Tage den Tieren Kraft geben nach seinem Belieben, indem er ihnen kurze oder lange Pfeile gibt. Der Präriewolf möchte gern der stärkste werden und versucht, sich[146] die Nacht über wach zu halten, um am andern Morgen der erste zu sein, der einen Speer bekommt. Der Erfolg ist, daß er am Morgen einschläft, trotz der Stöcke, die er sich zwischen die Augenlider geklemmt hat. Alle Tiere bekommen ihre Pfeile, aber der Präriewolf ist nicht da. Man sucht ihn und findet ihn schlafend, die Stäbchen haben sich durch seine Augenlider gebohrt Es ist nur noch der allerkleinste Pfeil übrig. Da bittet der Mensch für das Tier, und es erhält als Ersatz große Schlauheit.


  • Literatur: Folklore Record 5, 93.

4. Aus Nordindien. (Das Motiv der Übermüdung durch langes Wachen ist verdunkelt.)


Der Kalchuniya und der Monâl (Fasan) stritten sich vor vielen, vielen Jahrhunderten, zu welcher Zeit die Sonne aufginge. Der Kalchuniya, der in dunklen und stillen Tälern lebte, sagte, die Sonne zeige sich zuerst auf den niederen Hügeln, während der Monâl das Gegenteil behauptete, nämlich, sie sei zuerst auf den hohen Felsenspitzen zu sehen. Da diese beiden Vögel mit Recht als die größten Frühaufsteher angesehen wurden und kein anderer als fähig galt, diesen Punkt zu entscheiden, kamen sie überein, am nächsten Tage Wache zu halten. Wer die Sonne zuerst sähe, sollte den andern benachrichtigen und seinen Sieg ankündigen, indem er. zwischen die Füße des andern träte. So flog denn der Kalchuniya fort und war bald in dem dunkelgrünen Laub der niederen Hügel verborgen. Der Monâl flog in die Höhe, setzte sich auf einen hohen Gipfel für die Nacht, sträubte sein Gefieder, steckte den Kopf zwischen die Flügel und schlief ein. Die Nacht war bald vorüber, und als der Monâl seinen Hals reckte, erblickte er die Strahlen der aufgehenden Sonne. Sogleich flog er ins Tal hinunter, das noch in Dunkelheit gehüllt war, und fand seinen Freund, den Kalchuniya, noch in tiefem Schlafe.1 Der Monal trat zwischen die Füße des Kalchuniya und gewann. Der Kalchuniya ist noch bei uns, und man kann beobachten, daß er nicht wie andere Vögel läuft, sondern hüpft, als ob er sich die Füße verletzt hätte. Dies zeigt, daß er, als der Monâl vor Jahrhunderten zwischen seine Füße trat, einen Schaden erhielt, den man ihm noch heute ansehen kann.


  • Literatur: North Indian Notes a. Queries 3, 180. Vgl. Crooke, Pop. Religion and Folklore of North India 2, 251.

Fußnoten

1 Hier ist vermutlich zu ergänzen, daß der Kalchuniya die Nacht hindurch gewacht hatte und eben erst in den tiefen Schlaf gefallen war. Die vorhergegangene Bemerkung, daß der Monâl sofort einschlief, sowie daß er einen erhöhten, für die Sonne rasch erreichbaren Sitz hatte, findet ihr Gegenstück in den folgenden Varianten, in welchen ein gleiches Verhalten dem Wachen und Ermatten des Gegners gegenübergestellt ist. Somit wird der Gegner auch hier als ermüdet zu denken sein. Zudem war ja gerade ein Wettwachen verabredet. Eine Erzählung, die beide Vögel schlafend darstellt, läßt diesen Zweck außer acht und verwischt die Hauptsache: den Sieg des listigen Faulen über den eifrigen Toren.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 147.
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